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Gerechte Strukturen

Das Konzept der Gerechtigkeit im Alten Testament weist einen breiten Bedeutungsradius auf. Gerechtigkeit meint Gemeinschaftstreue, Rechtstreue, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit gegenüber Armen und Schwachen. Der primäre Ort der Gerechtigkeit ist das Ethos des Einzelnen, nicht das von staatlichen oder sonstigen Institutionen (Gerlach 2006, 199). Der zum Volk Gottes Zugehörige war dazu gerufen, den Bund mit Jahwe zu halten und seine Liebe zu seinem Gott durch aktiven Gehorsam gegenüber seinem Willen zu demonstrieren. Es ging darum, den Herrn in jedem Bereich des Lebens zu lieben von ganzer Kraft und mit ganzer Seele. Die Liebe zu Gott und der daraus resultierende willige Gehorsam gegenüber Jahwe war die Achillesferse des sozialen Gefüges. Deshalb wird in den Gesetzen und Bestimmungen des Alten Testamentes mit „du sollst“ oder „du sollst nicht“ überwiegend der Einzelne angesprochen. Der Einzelne, insbesondere die Besitzenden, sollten nicht mechanisch eine Regelung einhalten, sondern von Herzen Barmherzigkeit und Freigebigkeit üben.

Das alttestamentliche Konzept der Gerechtigkeit lässt sich deswegen aber nicht auf barmherzige Zuwendungen reduzieren. Not sollte nicht bloß gelindert werden, nachdem sie entstanden war; sie sollte durch die Schaffung gerechter Strukturen und Institutionen möglichst vermieden werden. In den Worten von Gerlach (a.a.O., 199): „Neben der Erinnerung an die Gebote der Barmherzigkeit und Freigiebigkeit liegt ein besonderer Schwerpunkt der Kritik der alttestamentlichen Propheten auf der Anklage von Missständen im Rechtswesen, Anklagen über Bestechlichkeit, Käuflichkeit, Rechtsbruch aller Arten, besonders gegenüber Schwachen.“7 Der Gerechtigkeitsbegriff des Alten Testamentes kann nicht nur sozial und nicht nur soteriologisch verstanden werden. Er ist unvollständig, wenn er nicht auch juristisch verstanden wird. Gesetze hinsichtlich des Zinsnehmens, der Pfändung, der Bestechung, des rechtlichen Gehörs oder dem Schulderlass machen deutlich: „Die biblische Gerechtigkeit darf also nicht auf den Aspekt des barmherzigen Ethos reduziert werden … Gerechtigkeit zeigt sich in dieser Hinsicht vor allem darin, dass grundlegende Rechte vor Gericht, also bei Konfliktfällen, gewahrt bleiben. Machtungleichheit soll durch Gerichte ausgeglichen und nicht verstärkt werden“ (a.a.O.).

Das biblische Verständnis von Gerechtigkeit ist umfassend und beinhaltet ebenso wie die persönliche Verantwortung die Transformation der Strukturen. Gerechtigkeit bedeutet alttestamentlich sowohl Treue zu Gott als auch Gemeinschaftstreue. Sie beinhaltet sowohl die barmherzige Zuwendung als auch die Transformation der gesellschaftlichen Strukturen. Sie ist sowohl ein Handeln Gottes als auch ein Tun des Menschen.

Gerlach bilanziert: „Der forensische Aspekt der Gerechtigkeit behält seinen Stellenwert und darf nicht gegen den soteriologischen Aspekt ausgespielt werden“ (a.a.O., 199). Wenn Berneburg (1997, 272–275) Gerechtigkeit als ein Handeln Gottes und nicht als ein Tun des Menschen charakterisiert, wenn er Gerechtigkeit vorrangig als soteriologische Gabe bezeichnet und wenn er behauptet, die Bibel unterscheide streng zwischen Gottesgerechtigkeit und menschlicher Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, dann ist der eine Aspekt von Gerechtigkeit (der soteriologische) gegen einen anderen Aspekt (den sozialen) ausgespielt worden. Natürlich ist Berneburg beizupflichten, wenn er sicherstellen möchte, dass soteriologische Gerechtigkeit nicht zugunsten des sozialen Aspekts ihrer zentralen Stellung beraubt werden darf. Doch man kann die Bedeutung des einen Aspekts (des soteriologischen) so stark herausstreichen, dass der andere Aspekt (der soziale) praktisch negiert wird. Dieser Dualismus muss überwunden werden. Der Anbruch des 21. Jahrhunderts zeigt eine Rückkehr zu einem ganzheitlichen und biblischen Verständnis von Gerechtigkeit: Gerechtigkeit wird sowohl soteriologisch (damit begründet sich die Dringlichkeit der Evangelisation) als auch sozial verstanden (damit begründet sich die Pflicht sozialen Handelns). Mit diesem ganzheitlichen Verständnis ist die Kirche in der Lage, Antworten auf die geistliche und soziale Not der Menschen zu geben.

Neues Testament – Entgrenzung und Überbietung des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs

Wenn man das Neue Testament auf die Bedeutung des Begriffs „Gerechtigkeit“ untersucht, scheint der Befund eindeutig zu sein: Gerechtigkeit ist ein soteriologischer Begriff, der die gnädige Rechtfertigung des Sünders durch Gott meint. Der Bedeutungsradius des Wortes scheint damit umfassend charakterisiert zu sein. Denn an kaum einer Stelle im Neuen Testament finden wir Aufrufe zu sozial gerechtem Handeln, die so ausführlich und eindringlich sind wie bei den alttestamentlichen Propheten. Überdies scheint das Neue Testament weniger an der Frage der Gerechtigkeit interessiert zu sein, dafür umso mehr an der Liebe. So oft im Alten Testament der Begriff „Gerechtigkeit“ oder „gerecht“ fällt, so oft findet sich im Neuen Testament der Begriff „Liebe“ oder „lieben“. Nun verbinden wir den Begriff der Liebe nicht unbedingt mit Gerechtigkeit. So entsteht der Eindruck, soziale Gerechtigkeit sei kein Anliegen der neutestamentlichen Ethik. In diesem Abschnitt werde ich argumentieren, dass dieser Eindruck dem Neuen Testament an entscheidenden Punkten widerspricht. Das Gegenteil ist der Fall: Das Neue Testament entgrenzt den alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriff und überbietet ihn.

Kleingruppenethik

Liebe ist der ethische Zentralbegriff des Neuen Testamentes. Sowohl Jesus als auch der Apostel Paulus und im Besonderen die Schriften des Apostels Johannes verwenden „Agape“ (Liebe) als den Begriff, der die Ethik des Neuen Testamentes zusammenfasst. Im Zentrum steht die Liebe Gottes zu den Menschen, welche er durch die Sendung seines Sohnes unter Beweis gestellt hat. Diesem Liebesbeweis nachgeordnet ist die Liebe untereinander, die eine direkte Folge des göttlichen Liebeshandelns ist.

Gerlach (2006, 189) ist zuzustimmen, wenn er die differierende Terminologie mit den unterschiedlichen sozialgeschichtlichen Ausgangssituationen in Verbindung bringt. Im Alten Testament ist der Begriff „Gerechtigkeit“ der Zentralbegriff zur Umschreibung und Definierung des sozialen Zusammenhalts eines ganzen Volkes. Es geht um die Entwicklung eines Rechtskodex auf persönlicher und struktureller Ebene. Solange Israel seine politische Selbstständigkeit wahrte, konnte der Wille Jahwes direkten Eingang in die gesellschaftlichen Institutionen finden. Konkret: Israel hatte die Freiheit und damit die Möglichkeit, die mosaischen Gesetze durch den Aufbau eines gottgefälligen Rechtswesens ungehindert umzusetzen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Israel diese Möglichkeit über weite Strecken nicht nutzte und sich in Widerspruch zu Jahwes Willen setzte. Mit dem babylonischen Exil verloren die Juden diesen Gestaltungsspielraum. Unter babylonischer, persischer, griechischer und schließlich römischer Herrschaft ging die politische Freiheit verloren. Damit war die Möglichkeit nicht mehr gegeben, dem Gerechtigkeits-Paradigma des alten Bundes in einer gesellschaftlichen Verfassung ungehindert Ausdruck zu verleihen. Die biblische Ethik war fortan lediglich beschränkt gesellschaftsgestaltend. Es blieb nur noch die Alternative im Kleinen.

Verschiedene Gruppen des jüdischen Volkes reagierten unterschiedlich auf die neue Situation:

Die Makkabäer wählten den Weg der Revolution. Ihre politische Option war eine Antwort auf den gewaltsamen Einbruch des Hellenismus mit seiner griechischen Lebensweise im 2. Jahrhundert v. Chr. Er zielte darauf, die Unabhängigkeit wiederherzustellen, was vorübergehend auch erreicht wurde, doch schließlich erodierte ihr Versuch von Innen her.

Die Essener traten als Totalverweigerer den entgegengesetzten Weg in die Wüste an. In ihrer Kommunität lebten sie ihre Auffassung von Jahwes Willen in subversiver Weise. Sie erwarteten keine Besserung der herrschenden Verhältnisse und unternahmen auch den Versuch nicht, diese zu ändern. Nach ihrem Geschichtsverständnis konnte das Reich Gottes nur durch göttliches Gericht und als Katastrophe der Geschichte herbeigeführt werden.

Die Sadduzäer, die sich vorwiegend aus der Priesteraristokratie rekrutierten, passten sich an die herrschenden Verhältnisse an und versuchten so Einfluss zu gewinnen, während die Pharisäer als Kompromissler und Teilverweigerer in Erscheinung traten. Sie glaubten, Gottes Eingreifen in die leidvolle Geschichte ihres Volkes durch das strikte Befolgen des Gesetzes beeinflussen zu können.

Schließlich gab es jene Menschen, die Duchrow (1997, 169–170) die messianischen Randgruppen nennt. Diese Leute – Jahwetreue wie Zacharias und Elisabeth, Maria und Josef, Simeon und Hanna – versuchten in der veränderten Situation Gott wohlgefällig zu leben und warteten still auf den Anbruch des Reiches Gottes.

Es ist richtungsweisend für die neutestamentliche Ethik, dass Jesus bei den messianischen Randgruppen anknüpfte. Er berief Leute aus diesem Segment der jüdischen Gesellschaft in seine Nachfolge – freilich auch politische Heißsporne wie Simon der Zelot und Kollaborateure des Systems wie der Zolleinnehmer Matthäus – und baute um sie herum die Urkirche auf. Ihre Situation war eine gegenüber dem alttestamentlichen Israel völlig veränderte. Die Christen, wie sie später genannt wurden, waren eine religiöse Gruppe unter vielen anderen. Rom tolerierte die unterschiedlichsten Kulte und Gruppierungen. Dieser religiöse Pluralismus fand dort seine Grenzen, wo Rom die Familie und den Staat gefährdet glaubte. Es gab für die Urkirche kaum gesellschaftsgestaltenden Spielraum, die politischen Mitspracherechte waren praktisch gleich Null. Dieser veränderten Situation wegen ist im Neuen Testament keine ausformulierte Sozialethik zu erwarten, wie wir sie im Alten Testament finden. Die neutestamentliche Ethik war entsprechend der Situation, in welcher sie Gestalt annahm, eine Kleingruppenethik, die subversiv gelebt wurde. Sie verstand sich als Kontrastethik zur griechisch-römischen Lebensauffassung.

Der Begriff „Kleingruppenethik“ bedeutet nun aber nicht, dass diese Ethik nichts mit der Welt zu schaffen haben wollte. Im Gegenteil: Sie beanspruchte, eine gesellschaftsgestaltende Alternative zu sein. Sie wollte Salz der Erde und Licht der Welt sein (Mt 5,13–16). Die Ethik des Neuen Testamentes kulminiert nicht nur deshalb in der Agape, weil diese durch Gottes Heilshandeln in seinem Sohn zentral war, sondern auch, weil es sich um eine realistische, auf den Kontext zugeschnittene Ethik handelte. In den Kleingruppen und den urchristlichen Gottesdiensten konnte die christliche Liebe ungehindert ausgelebt werden. Und diese Liebe schloss, wie wir noch sehen werden, das alttestamentliche Konzept der Gerechtigkeit ein.

Jesus und Gerechtigkeit

Jesus steht im Zentrum der missionalen Theologie. Nicht nur aus seinem Tod am Kreuz und aus seiner Auferstehung werden Folgerungen für Mission und Kirche gezogen, sondern auch aus seinem Leben. Jesus wird als Vorbild, als das Modell der Mission begriffen. So wie der Vater Jesus sandte, so ist auch die Kirche gesandt (Joh 20,21). Wenn wir nach der Bedeutung des Begriffs „Gerechtigkeit“ bei Jesus fragen – welches Bild ergibt sich da? Diese Frage ist von grundlegender Wichtigkeit. Denn das gesamte neutestamentliche Verständnis von Gerechtigkeit und Liebe fußt auf Jesus als dem Modell gerechten Handelns und Jesus als dem Lehrer von Gerechtigkeit und Liebe.

Jesus wandte einen beträchtlichen Teil seiner potenziellen Predigttätigkeit für die Begegnung mit an den Rand der jüdischen Gesellschaft gedrängten Personen auf. Diese Begegnungen waren für ihn nicht eine bloße Brücke zur Verkündigung, sondern besaßen einen Wert in sich selbst. Indem Jesus den Armen und Bedürftigen mit Liebe begegnete – Aussätzigen, Samaritanern, Zollbeamten, Prostituierten –, erfüllte er einen wichtigen Teil seiner Mission. Diese Menschen wurden von der jüdischen Gesellschaft mit der erniedrigenden Bezeichnung „Sünder“ bedacht. Zöllner, Huren und andere Sünder waren der Abschaum der Gesellschaft. Jesus sah in ihnen verirrte Gotteskinder. Er verkündigte ihnen Gottes gnädige Zuwendung und rief sie und ihre Unterdrücker zur Umkehr auf. Aussätzige fasste er an und machte sie gesund. Er sprach mit Samaritanern und überwand die tiefe soziale und geistliche Kluft zwischen den Juden und ihnen. Er rief Abzocker wie die Zollbeamten Matthäus und Zachäus in seine Nachfolge und krempelte ihr Leben um. Er sprach in der Öffentlichkeit mit Frauen und begegnete ihnen auf Augenhöhe – etwas das politisch nicht korrekt war. Er rettete eine Ehebrecherin vor der Steinigung (Joh 8,1–11) und ließ sich von Frauen mit zweifelhaftem Ruf berühren (Lk 7,36–50). Sein messianisches Selbstverständnis definierte Jesus mit den Worten aus dem Propheten Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18–19).

In Jesu messianischem Selbstverständnis und in seinem diesem Verständnis entsprechenden Handeln zeigt sich ein Zweifaches:

Zum einen kam das gnädige und von Liebe durchdrungene Handeln gegenüber den Schwachen einer Kritik an den herrschenden Unrechtverhältnissen gleich. Jesus demonstrierte mit seinen tatkräftigen Liebesbeweisen, wie ungerecht und gnadenlos die Menschen auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter behandelt wurden. Manche seiner Begegnungen mit Ausgestoßenen enthalten denn auch eine deutliche Kritik gegenüber seinen Gegnern. Die Frau, die Jesus unanständig berührte und pausenlos seine Füße mit ihren Tränen netzte, hat mehr geliebt als der Pharisäer, der Jesus zum Essen einlud und ihm nicht einmal einen Begrüßungskuss gegeben hatte (Lk 7,45). Die Ehebrecherin hat tatsächlich gesündigt, doch die, welche die Steine erhoben, um die Härte des Gesetzes an ihr zu vollstrecken, sind ebenfalls nicht ohne Sünde (Joh 8,1ff).

Zum andern stellt das Handeln Jesu gegenüber Armen und Ausgestoßenen das entscheidende Bindeglied zwischen der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Ethik dar. Jesus brachte den Bedürftigen die vom Gesetz geforderte Barmherzigkeit entgegen und erfüllte damit das Gesetz. Er bejahte durch sein dem Gesetz entsprechenden Handeln das Gerechtigkeits-Paradigma des Alten Testamentes und überbot es durch die gnädige Zuwendung zu den Sündern. Das zeigt sich am messianischen Selbstverständnis von Jesus in Lk 4,18–19. Das Gnadenjahr ist das Jubeljahr von Lev 25,1ff. Jedes 50. Jahr sollten Schulden erlassen sowie Schuldsklaverei beendet werden und jeder zu seinem Besitz zurückkehren. Die Regelung des Jubeljahrs diente zur Verhinderung extremer Armut (und exzessiven Reichtums) und sollte sicherstellen, dass jeder genug hat (Hardmeier 2009, 162–168). In Lk 4,18–19 kündigte Jesus dieses Jubeljahr an – nicht als buchstäbliche Durchsetzung der alttestamentlichen Regelung, sondern als Prinzip gerechten Handelns. Auch wenn keine direkte sprachliche Verbindung besteht, so sind Jesu Worte über Armut, Reichtum und das Teilen von Besitz (Lk 6,20; 10,25–37; 14,33; 16,19–31; 21,1–4) eine Anwendung der Prinzipien des Jubeljahres auf die neutestamentliche Zeit. Das bedeutet, dass eine dem alttestamentlichen Israel geltende Regelung wie das Jubeljahr in eine andere Zeit und auf einen veränderten Kontext übertragen werden kann, ja muss, wenn man der Fülle biblischen Heils nicht verlustig gehen will.

Mit seiner Predigt und seinem Handeln unterstrich Jesus die andauernde Gültigkeit der alttestamentlichen Forderung nach gerechtem und barmherzigem Handeln. Das hat Folgen für die Mission der Kirche: Wenn Jesus den Opfern der jüdischen Gesellschaft die vom Gesetz geforderte Barmherzigkeit entgegenbringt und für ihr Recht eintritt, wenn er damit seine Sendung definiert (Lk 4,18) und wenn er seine Nachfolger so sendet, wie er gesandt war (Joh 20,21), dann hat die Kirche ebenfalls eine Mission der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit.

Wie kommt es nun, dass über Jesus hinaus im Neuen Testament Gerechtigkeit als sozialer Verhältnisbegriff praktisch ganz verschwindet und durch die Agape (Liebe) ersetzt wird? Die Antwort darauf ist in der Bergpredigt als dem Manifest der Ethik Jesu zu finden.

In den Seligpreisungen nennt Jesus die glücklich, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten (Mt 5,6), und die um ihretwillen verfolgt werden (Mt 5,10). Schon vorher preist er die Friedenstifter glücklich und nennt sie Söhne Gottes (Mt 5,9). In diesen drei Seligpreisungen werden die zentralen alttestamentlichen Begriffe Frieden (schalom) und Gerechtigkeit (zädäk, sedaka) zu zentralen Begriffen der Ethik Jesu. Überhaupt weisen die Seligpreisungen in die Richtung der Verwirklichung der alttestamentlichen Ethik: Wer seine Armut vor Gott erkennt, wie das die Psalmschreiber tun, ist glücklich zu nennen (Mt 5,3). Wer über seine eigene Sünde und das Leid seiner Mitmenschen trauert, wie Jeremia es tat, wird getröstet werden (Mt 5,4). Wer keine Gewalt anwendet (Mt 5,5) und reinen Herzens (Mt 5,6) Barmherzigkeit gegenüber seinem Nächsten übt (Mt 5,7), wie das Gesetz es fordert, der ist ein wahrer Friedenstifter und Sohn Gottes zu nennen (Mt 5,8).

Den mittleren Teil der Bergpredigt bilden sechs Antithesen, in welchen Jesus gegenüber den Hütern der Tradition die wahre Bedeutung des Gesetzes herausstellt. Sie werden mit den Worten eingeleitet: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 5,20). Was dieses wahre Leben aus Gott ausmacht, das wird in den sechs Antithesen entfaltet. Das Gebot, nicht zu töten (Ex 20,13) wird verschärft zur Forderung nach Versöhnung mit dem Bruder und dem Gegner (Mt 5,21–26). Inhaltlich entspricht es der Seligpreisung des Friedenstiftens. Das Verbot des Ehebruchs (Ex 20,14) wird verschärft zur Forderung nach einem reinen Herzen, so wie es die sechste Seligpreisung formuliert (Mt 5,27–30). Die Erlaubnis zur Scheidung (Deut 24,1) wird dahingehend eingegrenzt, dass Jesus sie nur im Falle der Unzucht erlaubt (Mt 5,31–32). Das Meineidverbot (Lev 19,12) wird verschärft: Die Reinheit des Herzens soll so offenkundig sein, dass ein Ja ein Ja und ein Nein ein Nein ist (Mt 5,33–37). Das Prinzip von „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ (Ex 21,24) wird insofern verschärft, als Jesus es nicht erlaubt, daraus eine persönliche Vergeltungsstrategie abzuleiten. Stattdessen fordert Jesus gewaltfreien Widerstand (Mt 5,38–42). Gerechtigkeit ist also schenkende Gerechtigkeit, die Gott denen gibt, die geistlich arm sind und nach Gerechtigkeit (vor Gott und in der Gesellschaft) hungern und dürsten. Und sie ist ein Tun des Menschen und zwar des Menschen, der nach den Seligpreisungen lebt.

Diese Gerechtigkeit kulminiert in der Feindesliebe: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet“ (Mt 5,43–45). Das Gebot, den Nächsten zu lieben (Lev 19,18), und die traditionelle Ergänzung, den Feind zu hassen, wird von der Forderung nach Feindesliebe überboten. Zweifellos ist diese letzte Antithese der Höhepunkt. Jesus entgrenzt die alttestamentliche Ethik. Er durchbricht das traditionelle Freund-Feind-Schema und fordert seine Nachfolger auf, ihre Feinde und ihre Verfolger zu lieben. Diese radikale Liebe geht über die alttestamentliche Gerechtigkeit hinaus. Es ist nur folgerichtig, dass die Schreiber des Neuen Testamentes die Liebe zum zentralen ethischen Begriff erhoben. Denn dieser Begriff enthält die vom Alten Testament geforderte solidarische Mitmenschlichkeit. Alles, was im Alten Testament unter dem Begriffspaar Recht und Gerechtigkeit erscheint, integriert das Neue Testament in die Agape. Die Agape des Neuen Testamentes will den alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriff also nicht ersetzen, sondern bekräftigen und überbieten.

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