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Die Affen erheben sich
Vielleicht rührt die allgemeine Unzufriedenheit und Traurigkeit neben mangelnder Selbstliebe auch daher, dass unsere Zeit sich immer mehr zur Gegenzeit entwickelt. Falls Sie den Begriff Gegenzeit jetzt zum ersten Mal hören, dann liegt es daran, dass ich ihn jetzt erst erfunden habe. Das Gegen- oder auch Antizeitalter hat so Dinge wie Anti-Faltencremes, Anti-Aging-Diäten, Anti-Terroreinheiten, Anti-Babypillen, Anti-Raucherkampagnen, antibakterielle Mundwässer und natürlich Antidepressiva hervorgebracht.
Die man ja braucht, wenn man in einer Zeit, die gegen alles ist und gegen alles ein Mittel hat, leben muss. Unsere Mundwinkel hängen oft schon nach dem morgendlichen Erwachen bis zu den Fersen hinunter, weil uns wieder ein harter Kampf bevorsteht. Kein Überlebenskampf in dem Sinn, sondern ein Kampf gegen alles, wo man dagegensteuern muss. Kampf gegen Krankheiten, Kampf gegen Drogen, Kampf gegen den Klimawandel, Kampf gegens Unkraut. Kampf gegen den Hunger, Kampf gegen die Armut, Kampf gegen den Terror, Kampf gegen den Faschismus … und alle diese Kämpfe haben wir bis jetzt nicht gewonnen und werden wir auch nicht. Nicht mit heruntergezogenen Mundwinkeln und einem »Antileben« gegen das Leben. Nicht mit einem Denken, dass noch immer Konkurrenz präferiert und Kooperation verweigert. Warum gegeneinander?
Liegt es daran, dass es bei »Früher«, ganz oben, am Beginn unserer Geschichte mit einem beinharten Konkurrenzkampf begonnen hat? Das ist nicht wissenschaftlich belegt, könnte sich aber ähnlich zugetragen haben.
Die Geschichte der Menschheit begann mit einer ziemlichen Katastrophe. Vor mehreren Millionen Jahren zerbrach ein ganzer Kontinent: Afrika (hatte also offenbar schon zu Frühzeiten die Arschkarte gezogen). Ja, und wenn so ein Kontinent zerbricht, dann tut sich was, keine Frage. Die Erde speit Feuer, der Himmel verdunkelt sich, das Klima verändert sich, die Vegetation geht zurück, die Bäume sterben. Die Affen hatten aber schon immer auf den Bäumen gelebt, denn dafür sind sie ja gebaut. Wenn nun die Bäume weniger werden, ist es klar, dass da ein ziemlicher Konkurrenzkampf um die besten Plätze auf den Bäumen entsteht. Und wie es in der Natur nun einmal so ist, die kräftigen, intelligenten, überlebensfähigen Affen blieben oben und haben die patscherten und dümmlichen Affen ganz einfach von den Bäumen geworfen und ins Steppengras verbannt. Zorn, Frust und Missgunst darüber waren nun ständige Begleiter der Heruntergetretenen: »Es glaubts a, nua weus stärka und gscheida sats, sats wos Bessas. Oba woats nur, irgendwoan kummt unsa Zeit und doan sperr ma eich in Zoo.« Ja, und so zogen die heruntergetretenen Affen in der Hoffnung auf späte Rache durchs Steppengras. Einer von ihnen, ein etwas älterer und unter den nicht allzu Klugen ein etwas Klügerer, hatte aufgrund seiner ständig gebückten Haltung unter ständigen Kreuzschmerzen zu leiden. Um den Rücken zu entlasten, richtet er sich hin und wieder auf, um sich zu strecken. Dabei blickt er über das Steppengras und sieht vor sich die weite Welt und staunt, was es da jenseits vom hohen Gras zu sehen gibt.
Der erste Affe hatte sich aufgerichtet, und er sah unbeschreibliche Dinge. Nun stand er also aufrecht da … und bereits wenige Minuten später war er vom Säbelzahntiger gefressen, denn der aufrechte Affe sah nicht nur, er wurde auch gesehen. Jedenfalls war es einmal ein erster Versuch, und ein Anfang war getan. Dann dauerte es schon noch einige Zeit, bis die Steppengras-Affen so weit waren, dass sie aufrecht gehen konnten und nicht vom Säbelzahntiger gefressen wurden. Hunderttausende wenn nicht sogar Millionen Jahre.
Manche Dinge brauchen eben Zeit, man glaubt es kaum. Zeit ist ja heute Mangelware, sie ist knapp, und unser Leben ist oft ein Kampf mit und natürlich gegen die Zeit. Schauen Sie doch selbst einmal auf die Uhr, wie spät es schon wieder geworden ist. Sie und ich, wir beide haben die Uhr …
Der Neandertaler hatte die Zeit
Und die war aus heutiger Sicht nicht lang. Der durchschnittliche Neandertaler, damit mein’ ich nicht den Herrn Neandertaler, sondern die Gattung, also Herrn und Frau Neandertaler, die NeandertalerInnen (dieses Buch enthält auch keine Allergene und ich hoffe, dass Sie so wie ich ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen sind, auch wenn Ihre Mobilität fallweise, insbesondere im Stau, eingeschränkt ist und sie dadurch behindert werden), der Neandertaler starb im zarten Alter von 25. Und jetzt haben Sie natürlich fast ein wenig Mitleid mit dem armen Neandertaler, denn nach nur 25 Lebensjahren wieder den Löffel abgeben zu müssen ist wahrlich keine rosige Zukunftsaussicht. Wobei das ja alles relativ ist, wie wir ja in der Schule gelernt haben. Zwei Stunden sind bekanntlich nicht zwei Stunden. Zwei Stunden und zwei Stunden können etwas ganz Unterschiedliches sein. Zwei Stunden Wurzelbehandlung kommen einem subjektiv länger vor als zwei Stunden orgiastischer Sex mit seinem Traumpartner. Geben Sie mir recht? Oder müssen Sie jetzt erst einmal überlegen? Fehlen Ihnen da vielleicht die Erfahrungswerte? Na ja, es kann ja sein, dass Sie noch nie in Ihrem »Leben« eine Wurzelbehandlung erleben durften. Aber vielleicht ist dieses Beispiel auch etwas an den Haaren herbeigezogen. Eine Wurzelbehandlung dauert in der Regel keine zwei Stunden, es sei denn, der Zahnarzt führt diese zum ersten Mal in seiner Karriere durch oder er ist schwer betrunken. Und zwei Stunden orgiastischer Sex reduziert sich in der Praxis oft darauf, fünf Minuten gegen das Einschlafen zu kämpfen und dabei fernzusehen. Was nicht heißt, dass es zwei Stunden orgiastischen Sex nicht gibt. Den gibt es sehr wohl – im Internet, zum zuschauen.
Wir gehen also davon aus, dass der Neandertaler ein kurzes aber dafür ein furchtbar beschwerliches Leben geführt haben muss. Was aber möglicherweise so nicht stimmt. So hat der Neandertaler nur zwei Stunden am Tag für seinen Lebensunterhalt aufringen müssen. Fürs Jagen und Sammeln. Der Rest vom Tag war Freizeit. Die Neandertaler haben den Rest des Tages gegessen, was sie gejagt oder gesammelt haben, haben unter einem Baum geruht, sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, sind schwimmen gegangen, haben die Wolken beobachtet, den Vögeln gelauscht, mit dem Nachwuchs gespielt, stundenlang ins Lagerfeuer gestarrt, sich mit legalen Drogen, wie Fliegenpilzsuppen, weggeschossen, gefickt wie die Karnickel und regelmäßig den Sexualpartner getauscht. Dabei haben sie aber niemals nach dem Sinn gefragt oder ihr Tun in Frage gestellt. Jetzt einmal ehrlich, klingt das nach einem beschwerlichen Leben? Oder kommt Ihnen das gar von irgendwo bekannt vor? Klingt das nicht ein wenig nach Ihrem letzten Cluburlaub? 25 Jahre »Magic Life, All inclusive« sollten eigentlich reichen. Das kann ein durchaus »gutes Leben« sein und dabei nicht wirklich zu kurz.
Für mich hört sich das auf jeden Fall besser an, als 13 Jahre Angst in der Schule, 45 Jahre beinhartes Berufsleben und dann 20 Jahre von einem Arzt zum anderen laufen zu müssen und zu hoffen, dass das alles bald vorbei ist. Das ist natürlich auch ein Lebenskonzept, meines wäre es nicht. Zwei Stunden täglich für seinen Lebensunterhalt aufringen zu müssen: Wer schafft denn das heute noch? Ich. Sonst fällt mir auf die schnelle keiner ein. Fällt Ihnen jemand ein, Herr Prehsler?
Konkret nicht, Herr Düringer. Und das mit nur zwei Stunden am Tag hackln glaub ich Ihnen auch nicht so ganz. Aber ich denke, dass eine Gesellschaft mit insgesamt weniger Arbeitsstunden eine gute und auch machbare wäre.
Prehslers Tag hat 23 Stunden
Was meinst du, lieber Leser, liebe Leserin? Nicht gleich von einem Tag auf den anderen, aber was wäre, wenn wir – also unsere Gesellschaft halt – in 50 Jahren täglich so über den Daumen gepeilt:
• sieben Stunden schlafen
• zwei Stunden gut und gesund kochen und in Gesellschaft essen
• zwei Stunden Bewegung und Köperpflege machen
• vier Stunden arbeiten, meinetwegen täglich
• eine Stunde irgendwohin fahren, zum Beispiel fließend in und von der Arbeit
• zwei Stunden das »Notwendige« machen, also Einkaufen, Zsammräumen, Sex haben und Ähnliches -
• zwei Stunden nix machen …
• … dann bleiben doch pro Tag noch immer
• drei Stunden für Inspiration, welcher Art auch immer, und mit oder ohne Kinder.
Wie klingt das in deinem Ohr?
In dieser wunderbaren Welt hätten wir dann die 28-Stunden-Arbeitswoche … und übrigens den 23-Stunden-Tag, ich hab’ eine Stunde im Talon belassen. Die Kinder könnten also sogar eine Stunde länger schlafen oder sich aufs Häusl setzen – und vielleicht lesen oder aber auch eine Stunde länger arbeiten, wenn ihnen sonst nix einfällt und fad wird. Dann hätten wir die 35-Stunden-Arbeitswoche.
Da ist sicher irgendwo ein Denkfehler von mir drinnen, ich hab’ ihn nur nicht gefunden.
Die Zeit haben die meisten jetzt schon. Wir vergeuden sie nur in einem unfassbaren Ausmaß mit sinnlosen Gesprächen und Handlungen.
Glaubst du, ginge es unseren Kindern besser mit so einem Tag als dem üblichen heutigen?
Glaubst du, hätten wir dann eine bessere oder schlechtere Wirtschaft?
Angesichts der Tatsache, dass die gesamte Gesellschaft auf einem viel höheren Niveau daherkommt?
Ich bin davon überzeugt, dass im Schnitt 20 Stunden ausreichend sein müssten, um sich ein solches Leben leisten zu können.
Ich glaub’ fest daran, dass 20 Stunden ausreichen können, damit Menschen ihr Recht auf einen gesunden Körper, einen gesunden Geist und eine gesunde Seele einlösen können.
Nur sollten wir unter anderem jetzt schon damit anfangen aufzuhören (anfangen aufzuhören … so etwas gefällt mir), auf die 38,5 Stunden noch ein paar Stunden unbezahlt oder pauschaliert draufzusetzen. Vielleicht geht es ja der Wirtschaft gut, aber uns in Summe als Gesellschaft sicher nicht. Und ich halte das übrigens für Arbeitszeitdiebstahl. Nein, nicht – oder nicht nur – vom Unternehmen an dir, sondern von dir an den anderen Arbeitsuchenden.
Würdest du deinen Kindern oder halt den nächsten Generationen so ein Leben, so eine wunderbare Zeit gönnen? Oder bist du es ihnen neidig?
Du gönnst es ihnen schon, aber du glaubst nicht daran?
Nicht, weil die Wirtschaft das nicht zuließe, sondern weil die Menschen selbst mit so viel Zeit nichts anzufangen wüssten? Wahrscheinlich hast du recht.
Aber ich bin stur: Wenn ich aus einem Zwölfjährigen einen Komasäufer machen kann, dann kann ich aus dem gleichen Zwölfjährigen auch einen interessierten Menschen machen, der offen fürs Leben ist!
Wenn ich Menschen zu Konsummaschinen machen kann, dann kann ich sie auch zu Denkindividuen konstruieren. Es ist immer nur die Frage, wer was für wen will.
Ein guter Job, Haus, Auto, keine Zeit, viel Stress, teure Status-Symbole, nervige Kinder, All inclusive-Urlaub …
… oder vielleicht doch ein gutes Leben? In einer wunderbaren Welt?
Danke, Herr Prehsler, das hört sich gut an. Es wäre wohl wieder einmal an der Zeit für ein gesellschaftliches Update. Nicht zurück ins Neandertal oder wieder zurück auf die Bäume. Vergessen Sie auch diesen »Früher war alles besser«-Schmarrn, die Mär vom edlen Wilden, darum geht es überhaupt nicht. Was wissen wir schon über den Neandertaler? Letztlich nur, dass das »Leben« des modernen Menschen auch nur eine Updateversion eines Neandertalerlebens ist. Wobei ein Update ja eigentlich eine verbesserte Version sein sollte, außer man ist Windows-User. Die Hardware, das, was das Leben kennzeichnet, ist aber die gleiche geblieben.
– Geburt
– Heranwachsen
– Nahrungsaufnahme
– Fortpflanzung
– Krankheit und schließlich der
– Tod
Mit diesen sechs elementaren Themen musste sich auch der Neandertaler auseinandersetzen.
Es sind ewig gültige Lebensthemen und mit diesen werden wir uns im Folgenden im Detail beschäftigen. Womit wollen wir anfangen? Ich würde vorschlagen: der Chronologie wegen mit der Geburt, dem Anfang sozusagen. Wobei die Geburt bei genauerer Betrachtung ja nicht der Anfang ist, sondern lediglich ein Ortswechsel. Wenn Sie morgens außer Haus gehen, bedeutet dies nicht, dass jetzt der Tag anfängt.
Kapitel 2 – GEBURT
Sie waren ja vor Ihrer Geburt schon da
Allerdings waren Sie drinnen, geborgen im Leib Ihrer Mutter. Neun Monate lang war Ihre äußere Welt die innere Welt Ihrer Mutter. An diese Zeit können Sie sich selbstverständlich nicht mehr erinnern. Warum eigentlich selbstverständlich? So selbstverständlich ist das gar nicht, denn Sie hatten ja bereits ein Gehirn, bevor Sie das Licht der Welt erblickten. Das Erste, was sich nach der erfolgreichen Befruchtung einer Eizelle entwickelt, ist ein Gehirn, eine Steuereinheit, die alle weiteren Vorgänge und Entwicklungen lenkt. Ohne Gehirn keine Hände, keine Füße, kein Herz, kein Schwanz, kein Popoloch. Wir wären zu dumm zum Scheißen. Wenn man dann einmal schon recht gut scheißen kann, dann braucht man sein Hirn nicht mehr so oft zu verwenden. Nachdem Sie also in Ihrer embryonalen Phase bereits ein funktionierendes Gehirn hatten, hatten Sie auch die theoretische Möglichkeit zu denken und sich bereits im Mutterleib sinnlose Fragen zu stellen:
»Gibt es eigentlich ein Leben nach der Geburt? Angeblich kommt zuerst ein enger Tunnel, dann ein grelles Licht und dann steht man vor ›dem Mutter‹. Was auch immer der Mutter ist. Vielleicht ist aber nachher auch gar nichts, man weiß es nicht, denn zurückgekommen ist jedenfalls keiner mehr.«
Aber ganz egal, was auch immer Sie sich im Mutterleib dachten, es ist Ihnen dabei gut gegangen, denn Sie mussten sich um nichts kümmern, Sie waren angeschlossen mit einem langen Kabel, Ihrer Nabelschnur, an das Nervensystem Ihrer Mutter. Sauerstoffzufuhr, Nahrungszufuhr und Schadstoffabtransport waren elektronisch geregelt. Eine gut funktionierende, hochmoderne elektronische Einspritzanlage hat Sie neun Monate lang versorgt. Sie sind viel herumgekommen, ohne sich dabei selbst zu bewegen, und dabei war es immer schön warm und feucht. Neun Monate Thermenurlaub, und das ohne Pilz. Und dann, eines Tages, erlebten Sie den heiligen Moment der Geburt. Jede Geburt ist, ähnlich wie der Tod, ein heiliger Moment, dem eine unbeschreibliche Kraft innewohnt. Waren Sie schon jemals bei einer Geburt dabei? Was für eine dumme Frage. Aber jetzt rechnen wir einmal Ihre eigene Geburt nicht dazu, denn da waren Sie ja nicht wirklich bewusst dabei, und das ist gut so. Da muss man nicht unbedingt dabei sein, oder? Wären Sie allen Ernstes gerne bei Ihrer Geburt bewusst anwesend gewesen? Stellen Sie sich das einmal vor, da wird es nämlich wirklich so richtig eng, haben Sie das Tor, durch das Sie schreiten müssen, schon einmal aus der Nähe betrachtet? Das ist wirklich nicht groß. Dann bleiben Sie vielleicht noch irgendwo hängen, verkeilen sich, von hinten wird periodisch in immer schnellerer Folge Druck auf Sie ausgeübt. Da muss man, glaube ich, nicht wirklich dabei sein. Möglicherweise war die Geburt für den Neandertaler etwas einfacher. Frau Neandertaler war ja anders gebaut, etwas breiter, denn sie musste ja in keine enge Jean oder in den Schalensitz von Herrn Neandertalers Sportwagen passen. Kein langweiliges Schwangerschaftsturnen, das das ungeborene Neandertalerlein zu ertragen hatte, keine unnötige Aufregung über den überfälligen Geburtstermin. Geschützt hinter einem Busch, stehend, leicht angehockt, die Schwerkraft ausnutzend ohne Trubel, und in Ruhe fallen gelassen. Das Erste, was das Neandertalerlein von seiner äußeren Welt wahrgenommen hat, war ein feuchter Waldboden, eine duftende Wildkräuterwiese oder aber ein spitzer Stein. Die Natur ist eben nicht immer gerecht. Das Erste, was wir beide von unserer Umwelt wahrgenommen haben, war ein Krankenhaus. Ich jedenfalls schon. Der Kreißsaal im Franz-Josefs-Spital, ein unangenehm grelles, künstliches Licht und eine Bande von Maskierten im grünen Tuch. Das Erste, was diese maskierten Verbrecher machen: Sie zwicken dir, so schnell wie möglich, das Verbindungskabel zur Steuereinheit durch und du wirst mit einem Schnitt zurückgebaut, downgegradet von einer wunderbar funktionierenden elektronischen Einspritzanlage auf einen primitiven Vergaserbetrieb. Von nun an wird oben eingefüllt, verdaut, verbrannt und unter Anstrengung und manchmal auch Schmerz die Umwelt verpestend rausgeschissen. Das ist mit Verlaub definitiv ein technischer Rückschritt und es gibt hier nichts zu beschönigen.
Was meinen Sie, Herr Prehsler, gibt’s da etwas von Ihrer Seite aus zu beschönigen? Sie sehen ja sonst alles auch positiv?
Zu beschönigen gibt es da von meiner Seite aus nichts, aber durchaus etwas hinzuzufügen:
Prehslers Speisekarten des Lebens
Du kommst auf die Welt und schaust einmal ziemlich blöd aus der nicht vorhandenen Wäsche. Gut, jetzt bist also einmal da. Nass, verknittert, glitschig, voller Blut und zwider – irgendwie wie ein großer Engerling mit Gliedmaßen oder ein Maulwurf ohne Fell. Aber das ist wurscht, weil spätestens in ein paar Stunden bist du das schönste Baby der Welt – wenn auch nur für einen beschränkten Personen kreis. Wenn du so 15 bist, werden sie ständig an dir herummeckern, obwohl du da gerade am Erblühen bist.
Jetzt bist du aber erst einmal im Kreißsaal, als kurzer Gast in dieser gastlichen Stätte. Im Gasthaus zum Leben. Und? Was machst jetzt? Am besten die Karte verlangen und schauen, was es denn da so gibt, in diesem Gasthaus zum Leben.
Wen könnte ich denn so fragen, nach der Speisekarte hier? Wer könnte denn da überhaupt ein Angebot für mich haben? Shit! Nachhilfelehrer, Therapeut, Jungscharführer, Sozialarbeiter und Bewährungshelfer … keiner da. Die kommen alle erst später. Den Arzt? Na, vor dem fürchte ich mich doch ein bisschen. Die Hebamme? Die lacht lieb! Aber die ist gerade zu beschäftigt.
Was bleibt denn da noch? Ui, Mama und Papa! Was könnt ihr mir denn so anbieten, aus eurer elterlichen Küche?
Vorspeise | Zehn Jahre WurschtigkeitOma-DepotKinderkrippen-Gang-Bang |
Hauptgang | Neun Jahre fade Schule, HAK-Abschluss (Papa-Empfehlung: Damit ich auch so einen guten Job bekomme, wie er ihn jeden Abend verflucht)15 Kilo ÜbergewichtBausparvertragWochenend-Disco-Zudröhnung |
Dessert | Familientherapeut mit eigenen, noch nichtbewältigten TraumataDiabetesHoher BlutdruckUnbezahltes Praktikum |
Digestiv | Flucht in die große Liebe |
Hmmm … naja, ihr lieben Eltern, nichts für ungut, aber dann krabble ich jetzt rüber in den anderen Kreißsaal und schau einmal, was die Eltern dort so anzubieten haben.
… Ah, gar nicht so uninteressant. Da schau her! Offenbar ein Haubenlokal.
Vorspeise | Strampler von Tom TailorLuxuskinderzimmer in Pink oder Blau, je nach GeschlechtAu-Pair-Mädchen (kann ich das auch als Hauptspeise haben?)Elite-KindergartenElite-VolksschuleDie erste Neurose |
Hauptspeise | PrivatgymnasiumSchnöselfreundeHugo Boss-Anzug und/oder Gucci-TascheBefreiung durch Papas Portemonnaie aus derGeiselhaft der schlechten NotenElite-InternatKreditkarteEigenes AktiendepotLeichtes Zucken am linken Aug’ |
Dessert | Erster SelbstmordversuchSechs Monate London beim befreundeten BankerSechs Monate New York beim befreundeten Broker |
Digestiv | Eigenes Pferd oder Sportwagen, je nachGeschlecht |
Jooo, grundsätzlich nicht so schlecht. Und auch das Interieur gefällt mir hier besser als in der öffentlichen Wurfanstalt drüben. So eine Privatklinik hat schon ihre Vorteile. Selbst die Hintergrundmusik ist bezaubernd … ah, ich erkenn das: Die drei Tenöre singen Wal-Chöre! Ja, das ist die optimale superdrüber Relax-Musik für die Leben schenkende Mutti der Oberschicht, schön!
Jooo . warum nicht?
Sie, Herr Dr. Papa oder Fräulein-auch-irgendwas-Mama, könnte ich dazu noch ein bisschen Elternliebe und Zuneigung haben? So zum Drüberstreuen.
Wie bitte? Ah so … ist heute nicht lieferbar. Aber als Ersatz und als Geste der Entschuldigung bietet mir das Haus ein iPhone mit extragroßen Babytasten (die brauch ich dann wieder so ab 65) und vorinstallierten 5.000 Facebook-Freunden auf Kosten des Hauses. Da muss ich noch ein wenig überlegen. Vielleicht gibt's da eine einfachere Alternative, was Regionales, Hausmannskost sozusagen.
Was ist denn da drüben unter dem Lebensbaum los? Das ist interessant! Die Mutter hockt und presst nach unten, beschwört dabei ihre Ahnen und wünscht sich vom Universum, dass sich der unfähige Vater endlich schleicht … und der Vater zieht sich jetzt die Plazenta rein! (Rechtlich gehört übrigens die Plazenta den Eltern. Ich hab’ mich im Uterus schon ein bisschen eingelesen.)
Der Friede sei mit euch und mit mir die Liebe! Was habt ihr, Bruder Sonne und Schwester Mond, denn so anzubieten für ein neues Erdending?
Werfen wir einmal einen Blick in diese Karte, aus recyclebarem Umweltpapier von garantiert bei Neumond zu Tode gesungenen Bäumen außerhalb des Amazonas-Urwaldes, produziert von artge recht gehaltenen Orang Utans, geringfügig beschäftigt im Ruhestand.
Vorspeise | Dem Morgentau als Gabe dargebracht werdenSchafwollstrampler mit Bio-Obst-FleckenAntiautoritäre Erziehung30 selbst getöpferte Phalli als Lebenssymbole |
Hauptspeise | Patchwork Family auf dem Vierkanter Bausatz»Mein erstes eigenes Rad aus Bio-Bambus«Mit den Wölfen tanzen oder mit den Schafen blökenAlternativschuleErste Liebe auf dem Komposthaufen |
Dessert | FahrradboteSelbsterfahrungsgruppe in LemnosArmutsgrenze von unten |
Digestiv | Hausbesetzung |
Nicht unspannend und wirklich ganz anders … aber doch nicht ganz so meins.
Ist das der richtige Weg, wie man ein perfektes Kind hochzieht? Hochziehen tut so oder so sicher weh. Aber solange es man nicht an den Ohren macht … das muss man eben positiv sehen.
Da bin ich ganz bei Ihnen, Herr Prehsler. Sehen wir es positiv .