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Vernünftig regieren

In seiner ersten Rede zu Amtsantritt verkündete Präsident Reagan: »Die Regierung ist nicht die Lösung für unsere Probleme, die Regierung ist das Problem.« Diese Bemerkung brachte eine Saite in den Herzen seiner konservativen Anhänger zum Klingen. Aufgefordert, klar Stellung zu beziehen, befanden auch die amerikanischen Konservativen, dass »zu viel regiert wird«. Eine ausufernde Reglementierungswut, der scheinbar niemand Einhalt gebietet, wachsende Kontrolle am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum und selbst noch in der Familie, unablässiges Ertüfteln neuer Straftatbestände und Verfehlungen, um überwachen zu können, wie und mit wem wir Beziehungen und Kontakte unterhalten, und die Versuche, Rechte aus dem ersten und zweiten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung einzuschränken – diese Entwicklungen empfinden viele Konservative als alarmierend. Amerika scheint auf einen neuen Kurs gebracht zu werden, weg vom freien Zusammenschluss selbstbestimmter Individuen, wie er den Gründervätern vorschwebte, hin zu einer Gesellschaft folgsamer Abhängiger, die ihre Freiheit und Verantwortlichkeit eintauschen gegen einen dauerhaften Anspruch auf Gelder der öffentlichen Hand. Und um zu sehen, wohin das führt, genügt ein Blick auf Europa.

Die europäischen Länder werden von einer Politikerklasse regiert, die sich hinter die verschlossenen Türen europäischer Institutionen flüchten kann, um sich ihrer Rechenschaftsschuld zu entziehen. Diese Institutionen produzieren ununterbrochen Gesetze und Regelungen, die in alle Lebensbereiche eingreifen, angefangen bei Arbeitszeiten bis hin zu den Rechten sexueller Minderheiten. Die herrschende Political Correctness macht es überall in der Europäischen Union schwer, Grundsätze aufrechtzuerhalten oder ihnen gemäß zu leben, die mit den staatlich auferlegten Orthodoxien nicht in Einklang stehen. Anti-Diskriminierungs-Gesetzte zwingen viele religiöse Menschen, ihren Glaubensregeln zuwiderzuhandeln – in Bezug auf Homosexualität, öffentliches Predigen und die Zurschaustellung religiöser Symbole. Aktivisten im Europäischen Parlament wollen für alle Mitgliedsländer der Union, ohne Ansehung ihrer Kultur, Religion und Souveränität ein uneingeschränktes Recht auf Abtreibung durchsetzen. Das ergänzt sich mit einer »Sexualerziehung«, die eher darauf abzielt, junge Menschen für das Geschäft mit der Sexualität zuzurichten, als sie zu verantwortungsbewussten Erwachsenen werden zu lassen, die ein Bedürfnis nach engagierter Teilhabe und Liebe entwickeln.1

In den Kreisen europäischer Meinungsmacher wütet eine Art hysterischer Abwehr. Einen nach dem anderen nehmen sie sich die überkommenen Werte einer zweitausend Jahre währenden Zivilisation vor, um sie auszuhebeln oder zu einer kaum noch erkennbaren Karikatur ihrer selbst zu verzerren. Und all das geht zusammen mit einer schrittweisen Überführung von privatwirtschaftlicher Ökonomie in staatlichen Zentralismus. In Frankreich und Italien etwa erhalten über die Hälfte der Bürger mehr an staatlichen Zuwendungen, als sie Steuern abführen. Gleichzeitig müssen sich kleinere Unternehmen mit strikten Reglementierungen herumschlagen, die eigens dazu geschaffen scheinen, sie an der Kandare zu halten.

Viele dieser Entwicklungen wiederholen sich in Amerika. Der Wohlfahrtsstaat hat sich über die seinerzeit im New Deal vorgesehenen Grenzen hinaus ausgeweitet und der Oberste Gerichtshof geht in zunehmendem Maße dazu über, dem amerikanischen Volk, ob es damit einverstanden ist oder nicht, die Moral einer liberalen Elite aufzuoktroyieren. Diese Entwicklungen tragen zur Auffassung der Konservativen bei, dass der Staat im Begriff ist, die Macht an sich zu reißen. Amerika, so befürchten sie, begibt sich allzu schnell der Rechte und Freiheiten seiner Bürger im Tausch gegen die falsche Sicherheit in einem alles kontrollierenden Staat. Maßnahmen, die nur der Staat durchführen kann – Landesverteidigung, Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz, Verbesserung der Infrastruktur und die Koordination von Nothilfe-Programmen – werden mit Geldern finanziert, um die zwangsläufig auch freie Bürger für ihre Projekte konkurrieren müssen. Organisiert in Zusammenschlüssen freiwilliger Helfer könnten sie in Eigenregie eine ganze Reihe anfallender Aufgaben wahrscheinlich viel wirkungsvoller und kostensparender angehen, bei Bedarf noch zusätzlich abgesichert durch private Versicherungen. Waren es nicht gerade solche Zusammenschlüsse von Freiwilligen, die für Alexis de Tocqueville das amerikanische Experiment Wirklichkeit gewinnen ließen? Zeigten sie doch, dass Demokratie nicht einen Mangel an Ordnung, sondern vielmehr eine andere Art von Ordnung darstellt, in der die Freiheit des Individuums mit dem Gehorsam gegenüber einem übergreifenden Gesetz vereinbart werden kann.

So dient die ihrer vitalen Kräfte beraubte Gesellschaft Europas den Konservativen als warnendes Beispiel. Es bestärkt sie in ihrem Glauben, Amerika müsse die Ausrichtung der modernen Politik umkehren, mit der eine immer weiter fortschreitende staatliche Vereinnahmung von Gewalten und Befugnissen einhergeht, die eigentlich Angelegenheit des bürgerlichen Gemeinwesens sind. Das hatte sich die Tea Party Bewegung auf die Fahnen geschrieben, wie es ebenso die republikanische Interessengruppe im Kongress dazu brachte, ihren Kampf gegen den Obamacare so weit zu treiben, dass man begann, den Interessen des amerikanischen Volkes zuwider zu handeln, indem die finanzpolitische Integrität der Nation aufs Spiel gesetzt wurde. Es ist also durchaus sinnvoll, sich nicht nur die problematischen Seiten der Regierung vor Augen zu führen – für jeden Amerikaner sind sie leicht auszumachen –, sondern auch ihre positiven Aspekte. Denn die amerikanischen Konservativen laufen Gefahr, für Leute gehalten zu werden, die der Idee einer Regierung nicht das Geringste abgewinnen können und einzig damit beschäftigt sind, sich gegen jedwedes bundesweite Programm zu stemmen, gleichgültig, wie entscheidend es für Zukunft und Sicherheit der Nation sein mag. Vor allem aber scheinen sie aus den Augen zu verlieren, dass die Bildung einer Regierung nicht nur einen für Menschen natürlichen Akt darstellt, sondern Ausdruck einer durch alle Zeiten hindurch wirksamen Loyalität ist, die von Generation zu Generation ein Band gemeinschaftlicher Verantwortung knüpft.

Tatsächlich lässt sich irgendeine Form von Staatsund Regierungsbildung in all den Versuchen erkennen, die wir unternehmen, um mit unseren Artgenossen in Frieden zusammen zu leben. Wir haben Rechte, die uns auch vor denjenigen schützen, die berufen wurden, uns zu regieren. Viele dieser Rechte gehen auf sehr alte Rechtsgepflogenheiten zurück, wie etwa das im Habeas Corpus niedergelegte. Aber diese Rechte werden nur deshalb zu einem tatsächlichen persönlichen Besitz, weil eine Regierungsgewalt ihre Gewährleistung durchsetzt – wenn es sein muss, auch gegenüber sich selbst. Das ist nicht gleichbedeutend mit einem System von Macht und Herrschaft, wie viele Konservative glauben, und übrigens auch die Anhänger der Linken – letztere zumindest so lange, wie die Regierungsgewalt in anderen als ihren Händen liegt. Der Staat stellt den Versuch dar, Ordnung zu schaffen und er gesteht sich Macht in dem Maß zu, wie es zur Aufrechterhaltung der Ordnung notwendig ist. Er zeigt sich gegenwärtig im Bereich der Familie, in einer dörflichen oder freien nachbarschaftlichen Gemeinschaft und in jenen »kleinen Verbänden«, wie Edmund Burke sie in seinen Reflections on the Revolution in France [dt. Über die Französische Revolution, Berlin 1793] würdigte und Alexis de Tocqueville in De la démocratie en Amérique [dt. Über die Demokratie in Amerika, Frankfurt a. M. 1956]. Aus einem anfänglichen Gefühl der Geneigtheit und des guten Willens heraus entwickelt sich der Zusammenhalt eines Gemeinwesens. Denn er stellt ganz einfach die andere Seite der Freiheit dar, das, was da sein muss, damit Freiheit überhaupt möglich wird.

Rousseau erklärte, wir seien »frei geboren« und behauptete, wir hätten uns lediglich der Ketten zu entledigen, in die uns die gesellschaftliche Ordnung gelegt habe, um in den Genuss all unserer natürlich gegebenen Möglichkeiten zu gelangen. Obwohl die amerikanischen Konservativen dieser Idee mit Skepsis begegnet sind und in den radikalen 1960er Jahren gegen ihren zerstörerischen Einfluss Front gemacht haben, fühlen sie sich insgeheim doch von ihr angezogen. Sie sind die Erben der Pionier-Kultur. Ihr Ideal ist der auf sich selbst gestellte Unternehmer, der sich die ganze Last seiner geschäftlichen Vorhaben auf die eigenen Schultern lädt, während er uns verzagte andere in seinem Kielwasser mitschwimmen lässt. Ayn Rand hat diese Figur in seinem Romanwerk zu mythischer Größe überhöht, wobei ihr, auf weniger übertriebenes Maß gebracht, durchaus ein eigener Platz in der Geschichte Amerikas zukommt. Diese Geschichte allerdings verleitet einige Leute zu der irrigen Annahme, dass das freie Individuum im Zustand der Natur existiert und wir alle frei werden, sobald wir die Fesseln von Staat und Regierung abwerfen. Das Gegenteil ist der Fall.

Tatsächlich sind wir im Zustand der Natur gerade nicht frei; noch weniger sind wir mit Rechten und Pflichten begabte Individuen, die in der Lage wären, Verantwortung für ihr jeweiliges Leben zu übernehmen. Freiheit liegt in unserer Natur, weil Freiheit etwas ist, was wir im Verlauf unserer Entwicklung erwerben. Und diese Entwicklung hängt wiederum in jedem Augenblick von den Kontakten und Beziehungen ab, die uns mit einem ausgedehnteren Bereich der sozialen Mitwelt verbinden. Aber nur eine bestimmte Art sozialer Kontakte ermuntert Menschen dazu, sich selbst als Individuen wahrzunehmen, die durch ihre Rechte geschützt und durch gegenseitige Verpflichtungen aneinander gebunden sind. Und ebenfalls nur unter bestimmten Bedingungen sind die Mitglieder einer Gesellschaft nicht lediglich durch Grundbedürfnisse des Lebens aufeinander angewiesen, sondern vereint in freiem Einverständnis. Das menschliche Individuum ist, einfacher ausgedrückt, das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konstrukts. Und das Auftauchen des Individuums im Verlauf unserer Geschichte gehört zu den Dingen, die unsere Zivilisation von so vielen anderen unterscheidet, an denen die Menschheit sich versucht hat.2

So haben wir als Individuen mit einem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber dem Regierungswesen doch ein noch tiefer verankertes Bedürfnis nach ihm, denn es ist ganz und gar eingebettet in unsere Gemeinschaftlichkeit. Wir entwickeln uns zu Individuen, weil unser soziales Miteinander darauf ausgerichtet ist, uns Gelegenheit zu einer solchen Entwicklung zu geben. Sobald sich aus einem ersten Impuls der Zuneigung heraus eine Person einer anderen in Freundschaft verbindet, entsteht zwischen ihnen unmittelbar eine Beziehung gegenseitiger Verantwortung. Sie machen einander Versprechungen und ihre Bindung entfaltet sich in einem Netz gemeinsam eingegangener Verpflichtungen. Wenn einer den anderen verletzt, wird seine Verantwortlichkeit »angemahnt«, und die Beziehung liegt so lange im Argen, bis eine Entschuldigung angeboten wird. Beide planen gemeinsam, teilen Ansichten und Hoffnungen, Erfolge und Niederlagen. Aus allem, was sie unternehmen, erwächst ihnen Verantwortlichkeit. Wo aber eine solche Beziehung gegenseitiger Verantwortung nicht verwirklicht wird, entwickelt sich anstelle des freundschaftliche Miteinanders eine Form der Ausbeutung.

Überall auf der Welt finden sich Beispiele für politische Systeme, in denen sich eine grundsätzliche gegenseitige Verantwortlichkeit entweder nicht entwickelt hat, oder sie im einseitigen Interesse bestimmter Familien, Parteien, Ideologien oder Volksgruppen umgedeutet wurde. Nach dem sogenannten Arabischen Frühling sollten wir auf jeden Fall begriffen haben, dass die seinerzeit entmachteten Regierungen keinerlei Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Menschen gezeigt haben, denen sie doch eigentlich als Quelle ihrer Macht verpflichtet waren. Die Tyrannenregime des Mittleren Ostens haben eine Leere hinterlassen, denn es gab keine öffentlichen Ämter, kein Rechtswesen, keine sonstigen Gepflogenheiten und Traditionen, die das entscheidende Verantwortungsverhältnis hätten bewahren können, auf das sich echte Regierungskunst gründet – eine Regierungskunst, wie sie unserem Verständnis als Individuen entspricht. In den arabischen Tyrannenregimen existierte einzig eine von Familien und Stämmen und vermittels der Religion exekutierte Macht, in deren Vollzug den Belangen des bürgerlichen Individuums oder der Nation als ganzer keine Bedeutung zukam. Unter solchen Umständen öffnet die Entmachtung des einen Tyrannen sofort die Tür für den nächsten, die Gesellschaft insgesamt versinkt im Chaos, während ein paar Wildgewordene und Fanatiker ihre Stunde gekommen sehen.

Auch im alltäglichen Zusammenleben gehen Leute Beziehungen miteinander ein, ohne sich ihrer Verantwortung zu stellen. Damit sind sie gefangen in einem Spiel des Machtmissbrauchs. Sie bauen keine freiheitliche Beziehung miteinander auf, die jedem Beteiligten gleichermaßen Rechte und Pflichten gewährt, wodurch die Beziehung ein höheres Niveau erreichen und aus reiner Machtausübung ein wirkliches gemeinsames Interesse entstehen kann. Genau darum geht es Kant in seiner zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs. Hier wird gefordert, jedem vernunftbegabten Wesen einen Selbstzweck zuzugestehen und es nicht bloß als Mittel zu einem Zweck zu behandeln – mit anderen Worten, all unsere Beziehungen sollen auf einem Netz von Rechten und Pflichten aufbauen. Freiheitliche Beziehungen sind nicht einfach Formen von Zuneigung: sie bezeigen einen Gehorsam, dem gemäß die jeweils andere Person Anspruch darauf hat, dass ihr Wille zur Kenntnis genommen wird. Ich verstehe Kant in dem Sinn, dass selbstbestimmte Individuen zugleich auch Gehorsam leistende Subjekte sind, die einander von »Ich« zu »Ich« gegenübertreten.

Es gibt andere Möglichkeiten, die grundsätzlichen Bedingungen unseres Menschseins zu beschreiben. Aber wir erkennen sie in allen menschlichen Lebensbereichen: in der Familie, in Arbeits- oder Interessengruppen, im Gemeinwesen, in der Schule und am Arbeitsplatz. Menschen werden zu freien Individuen, indem sie lernen, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Und das wiederum tun sie, indem sie zu anderen Menschen Beziehungen von Subjekt zu Subjekt unterhalten. Die freien Individuen, auf die sich die Gründerväter bezogen, waren frei nur deshalb, weil sie im Rahmen gesellschaftlicher Bedingtheit die volle Verantwortung für ihr Handeln übernehmen konnten. Sie gestanden einander Rechte und Privilegien zu, was eine Art moralischer Gleichrangigkeit zwischen ihnen etablierte.

Mit anderen Worten: Regierungswesen und Freiheit haben unserer Tradition gemäß denselben Ursprung in unserer inneren Bereitschaft, einander für unsere Handlungen zur Verantwortung zu ziehen. Es kann sich keine freie Gesellschaft entwickeln, wenn nicht dieser inneren Bereitschaft folgend gehandelt wird. Jene Freiheitlichkeit, die Amerikaner zu Recht als kostbares Erbe hoch-halten, ist ganz einfach das Gegenstück zu der Selbstverständlichkeit, mit der sie gewohnt sind, sich ihrer grundsätzlichen Verantwortung gegenüber anderen zu stellen. Werden Amerikaner vor Ort mit einer Notsituation konfrontiert, tun sie sich mit ihren Nachbarn zusammen, um Abhilfe zu schaffen, während Europäer hilflos abwarten, bis endlich die Diener des Staates auf der Bildfläche erscheinen. Solche Dinge haben wir vor Augen, wenn wir von Amerika als dem »Land der Freien« sprechen. Das bedeutet nicht, dass eine Regierung überflüssig geworden wäre, sondern, dass es hier diese bestimmte Art von Regierung gibt, wie sie sich ganz unmittelbar unter verantwortungsbewussten Individuen entwickelt.

Eine solche Regierung wird nicht von außen aufgezwungen: sie entsteht vielmehr aus dem Innern eines Gemeinwesens heraus, als Ausdruck der Gefühlsbindungen und Interessen, von denen es zusammengehalten wird. Dabei muss nicht unbedingt alles und jedes zu gemeinsamer Abstimmung gebracht werden, aber die teilhabenden Individuen genießen Respekt, wie zugleich anerkannt wird, dass die Autorität des Staatsoberhauptes vom Einverständnis der Leute abhängig ist, sich von ihm regieren zu lassen. Aus eben diesem Grund haben sich die Gemeinwesen der amerikanischen Pioniers-Zeit sehr schnell Regeln und Gesetze gegeben, haben Klubs, Schulen, Einsatzkommandos und Ausschüsse ins Leben gerufen, um so gemeinsam zu bewältigen, was im Alleingang nicht zu schaffen war. Dieser Gemeinschaftssinn, von dem Tocqueville sich so beeindruckt zeigte, war weniger Ausdruck von Freiheitlichkeit als von der instinktiven Hinwendung zu einem Regierungswesen, das eine von allen akzeptierte Ordnung vorgibt, in der sich die Verantwortlichkeit seiner Bürger eingeschrieben und bestärkt findet.

Wenn Konservative über die Regierung schimpfen, erscheint sie ihnen als etwas von außen, gleichsam wie von einer Eroberungsmacht Aufgezwungenes. Regierungen dieser Art konnten in Europa unter dem Kommunismus gedeihen und Vergleichbares wiederholt sich heutzutage in der Europäischen Union. Angesichts dessen kann es naheliegend erscheinen, in Amerika die Entwicklung ähnlich schädlicher Auswüchse zu befürchten, als Resultat einer liberalen Politik, die das amerikanische Volk nach Maßgabe moralischer Vorstellungen gängelt, die ihm in gewisser Weise wesensfremd sind. Das zu glauben wäre allerdings ein großer Fehler – ein Fehler, der von sehr vielen Konservativen begangen wird – weshalb es an der Zeit ist, vor ihm zu warnen.

Die Entwicklung, die zur Bildung einer Regierung führt, beginnt in kleineren Gemeinwesen als Lösungsversuch angesichts zunehmender Koordinationsprobleme. Zunächst entstehen Regeln, die nicht notwendigerweise von einer zentralen Autorität vorgegeben werden. Vielmehr verständigt man sich spontan auf sie – wie zum Beispiel auf die Konventionen des guten Benehmens. Niemand widerspricht dem örtlichen Richter oder Gesetzgeber, der den Leuten gegenüber als einer der ihren in der Verantwortung steht; oder einem örtlichen Planungsausschuss, der jedermann gleichermaßen einlädt, die eigene Meinung zu seinen Entscheidungen kund zu tun. Hayek und andere haben diese Formen »spontaner Ordnung« untersucht, wofür das common law [Fallrecht] – dieses großartige Gut, an dem wir Angelsachsen teilhaben – das vielleicht prägnanteste Beispiel darstellt. Ihre Ausführungen legen nahe, dass in dem Maße, wie eine Gesellschaft weiterwächst, sich über immer ausgedehntere Territorien ausbreitet und verschiedenste Lebens- und Arbeitsformen integriert, zunehmend Probleme mit der Koordinierung auftreten. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem ein gegenseitiges Übereinkommen nicht mehr von unten, durch die natürliche Bereitwilligkeit von Bürgern erreicht werden kann, den Wünschen und Vorhaben ihrer Nachbarn Rechnung zu tragen. Es entsteht ein Koordinationsbedarf, der eine übergeordnete Regierung erforderlich macht. Sie erlässt Bestimmungen und Reglementierungen für das gesamte Gemeinwesen, und setzt sie durch mit Hilfe des von Weber so genannten »Gewaltmonopols« – anders gesagt durch ein System, das dem Recht Geltung verschafft und keinen Rivalen duldet.

So lassen sich die Bedingungen unseres Miteinanders zusammenfassen. Was nicht gleichbedeutend damit ist, alle Klagen über eine moderne Regierung für null und nichtig zu erklären, die sich zu sehr einmischt, die zu entschieden versucht, bestimmte, von zahlreichen Bürgern keineswegs begrüßte Verhaltensweisen, Meinungen und Werte durchzusetzen und die freien Unternehmen und Verbänden allzu eifrig Hindernisse in den Weg stellt. Aber all diese Dinge sind nicht einfach das Resultat ausgeübter Regierungsgewalt. Vielmehr sind sie Folgen der liberalen Geisteshaltung einer ernstzunehmenden und mächtigen Elite innerhalb der Nation. Aufgabe der Konservativen ist es, Kritik an denjenigen zu üben, die den Regierungsauftrag verfehlen und versuchen, ihn über die Grenzen hinaus auszuweiten, auf die alle anderen sich spontan zu einigen bereit sind. Konservatismus sollte als Verteidigung der Regierung verstanden werden, Verteidigung gegen ihren Missbrauch durch Liberale.

Dieses Anliegen hat Schaden genommen, weil viele Konservative nicht verstanden haben, worin die tatsächliche Bedeutung eines Wohlfahrtsstaates liegt. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts wurde deutlich, dass gesellschaftlicher Handlungsbedarf in Bezug auf vieles entstanden war, worum die Politik sich bis dato nicht gekümmert hatte. Politiker begannen zu realisieren, dass sie etwas tun mussten, um sich weiterhin der Zustimmung derjenigen Mitglieder der Gesellschaft zu versichern, für die sich aus dieser Mitgliedschaft keine weiteren Vorteile ergaben. Sie verlangten nach einem Quid pro quo. Das wurde offensichtlich in der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs, als man auf die Bereitschaft von Angehörigen aller gesellschaftlichen Klassen angewiesen war zu kämpfen und, wenn nötig, zu sterben. Weshalb aber sollten die Leute dazu bereit sein, wenn sie aus ihrer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, in deren Dienst sie ihr Leben riskierten, keinen wirklichen Nutzen ziehen konnten? So fand der Grundsatz breite Akzeptanz, dass der Staat eine Verantwortung gegenüber seinen bedürftigeren Bürgern hat. Dieser Grundsatz entspricht im großen Maßstab der Überzeugung kleinerer Gemeinwesen, dass eine Gemeinschaft die Fürsorge für diejenigen ihrer Mitglieder übernehmen sollte, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen.

Die Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat war folglich das mehr oder weniger unvermeidliche Resultat in demokratischen Volksgemeinschaften unter Einfluss des totalen Krieges. Wenn der Wohlfahrtsstaat in jüngster Zeit Kontroversen hervorruft, dann nicht, weil er sich von einer natürlichen Auffassung von Regierungsverantwortung entfernt hätte. Es hat eher damit zu tun, dass er sich zu etwas ausgewachsen hat, das seine eigene Legitimität untergräbt. Wir kennen Beispiele aus Amerika und Europa, wie Wohlfahrtspolitik zur Entstehung einer sozial nicht funktionsfähigen Unterschicht beitragen kann. Von Generation zu Generation ausgehalten, ohne Arbeit und Verantwortung, geht den Leuten die Bereitschaft verloren, anderen gegenüber Rücksicht und Verantwortung zu üben, sie kehren der Freiheitlichkeit den Rücken und bleiben gefangen in pathologischem Sozialverhalten, wodurch der Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet wird.

Zu diesem Ergebnis, dem genauen Gegenteil des erwünschten, konnte es unter anderem auch aufgrund der links-liberalen Überzeugung kommen, dass nur die Bessergestellten Verantwortung tragen, weil nur sie wirkliche Freiheit genießen. Die Armen, Bedürftigen und Schutzlosen machen sich dieser Auffassung nach von Natur aus in keiner Weise schuldig, und nichts Schlechtes, das aus ihren Handlungen entsteht, kann ihnen wirklich zur Last gelegt werden. Sie sind nicht verantwortlich für ihre Leben, weil niemand sie dazu »ermächtigt« hat, Verantwortung zu übernehmen. Die Verantwortung für ihr Wohl und Wehe liegt beim Staat. Dabei fragt sich allerdings, was weiter der Staat noch unternehmen sollte, um Schäden zu beheben, die zum Teil auf zu viel staatliche Gutmütigkeit zurückzuführen sind.

Aber in dieser Sicht der Dinge zeigt sich eine falsche Auffassung von Staat und Regierung. Die Verpflichtungen, denen der Staat nachkommt, wurzeln in der Verantwortlichkeit der Bürger. Wenn Regierungen eine Klasse schaffen, die sich dieser Verantwortlichkeit nicht stellt, überschreiten sie die Grenzen ihres Regierungsauftrags, indem sie eine Beziehung untergraben, von der ihre Legitimität abhängt.

Die links-liberale Geisteshaltung hat derart zu einem Verständnis von Staat und Regierung geführt, das Konservative mit tiefem Misstrauen betrachten. Nach linksliberaler Weltsicht – die in der Philosophie von John Rawls gebieterischen Ausdruck findet – existiert der Staat, um zu verteilen, was in der Gesellschaft produziert wird. Die Reichen sind nicht wirklich reich, weil ihnen all die guten Sachen nicht wirklich gehören. Güter sind, nach links-liberaler Auffassung, solange kein Eigentum, wie sie nicht verteilt worden sind. Und der Staat verteilt nach dem Prinzip von »Recht und Anstand«, wobei in keiner Weise unser moralisches Erbe der freien Übereinkünfte berücksichtigt wird, noch welcher moralische Einfluss von einer Unterschicht ausgeht, die von Staats wegen ins Abseits befördert wird.

Die Kunst des Regierens besteht für Links-Liberale darin, die Güter, auf die alle Bürger Anspruch haben, zunächst in Beschlag zu nehmen, um sie anschließend umzuverteilen. Unter diesen Umständen ist eine Regierung nicht mehr Ausdruck jener Vorform sozialer Ordnung, die geprägt wurde durch gegenseitige, freie Übereinkünfte und unsere natürliche Veranlagung, uns als Nachbarn gegenseitig zur Verantwortung zu ziehen. Die Regierung schafft und verwaltet vielmehr eine soziale Ordnung, die auf die herrschende Doktrin von »Recht und Anstand« zugeschnitten ist und von den Regierenden oben den Leuten unten in einer Reihe von Verfügungen aufgedrückt wurde. Wo immer sich ein solcher Stil durchsetzt, weitet der Staat seine Macht aus, während er im Innern an Autorität verliert. Er entwickelt sich zum »market state« [Markt-Staat], wie Philip Bobbitt ihn genannt hat, der seinen Bürgern als Gegenleistung für ihre Steuern ein Geschäft anbietet, und dafür nicht mehr an Regierungstreue oder Gehorsam einfordert, als mit Abschluss des Geschäfts vereinbart wurde.3

Ein solcher Staat kann jedoch nicht weiterhin das Ethos einer Nation verkörpern, und er gebietet nur mehr über eine Loyalität, die in etwa der entspricht, wie sie ein durchschnittlicher Filialbetrieb gegenüber der Zentrale übt. So sind in den Sozialdemokratien Europas öffentliche Demonstrationen von Patriotismus, gemeinschaftlicher Staatstreue und Stolz auf das Land und seine Geschichte zu gelegentlichen, halbherzigen Aufwallungen verkümmert, und ihren Politikern wird zunehmend mit Sarkasmus und Geringschätzung begegnet. Staat und Regierung gehören nicht mehr zu uns, sondern zu denen – zu jener anonymen Bürokratie, auf die wir dennoch alle zur Sicherung unseres leiblichen Wohls angewiesen sind.

Dieser Wandel in der Phänomenologie des Staats- und Regierungswesens ist bemerkenswert. In Amerika hat er sich allerdings noch nicht zur Gänze vollzogen. Normalen Amerikanern gelingt es weiterhin, ihre Regierung als Ausdruck einer nationalen Einheit zu sehen. Sie sind stolz auf ihre Flagge, ihr Militär, ihre nationalen Feierlichkeiten und Symbole. Sie suchen nach Möglichkeiten, in die gemeinsame amerikanische Sache »einzusteigen«, indem sie Zeit, Geld und Energie in ihre örtlichen Klubs und Vereine investieren. Sie fordern Eigentümerschaft an ihrem Land und wollen es mit ihren Nachbarn teilen. Sie lassen von Auseinandersetzungen ab, um sich stattdessen von Neuem eines gemeinsamen sozialen und politischen Erbes zu versichern, und sie begegnen den Institutionen des Staates weiterhin mit Respekt. Sie glauben, dass der Präsident in entscheidenden Angelegenheiten nicht Repräsentant einer Partei oder Ideologie ist, sondern Repräsentant der Nation – das heißt, von uns allen, die wir teilhaben an der spontanen Ordnung, die uns in diesem Land zusammengeschlossen hat.

Durchschnittliche Amerikaner haben, anders gesagt, eine Vorstellung von Staat und Regierung, die nicht nur natürlich ist, sondern in Gegensatz steht zur links-liberalen Auffassung vom Staat als einer Umverteilungsmaschine. Wenn sie gegen letzteres angehen, sollten die Konservativen klar machen, dass sie damit gleichzeitig für die Rückbesinnung auf eine tatsächlich und natürlich gegebene Alternative eintreten. Sie verteidigen die Regierung als symbolischen und autoritativen Ausdruck unserer tief empfundenen gegenseitigen Verantwortlichkeit.

Das heißt keineswegs, dass die Konservativen Parteigänger der libertären Idee des Minimal-Staates sind. Das Wachstum der modernen Gesellschaften hat soziale Bedürfnisse geschaffen, denen mit der vormaligen Organisationsform freier Zusammenschlüsse nicht mehr entsprochen werden kann. Aber eine sinnvolle Reaktion darauf untersagt dem Staat nicht von vornherein jeden Eingriff in Sachen Wohlfahrt, Gesundheitsschutz, Ausbildung und sonstiger Bereiche, vielmehr lässt sie seine Mitwirkung bis zu dem Punkt zu, von dem aus die Bürger in eigenen Initiativen wieder die Führung übernehmen können. Konservative wollen eine Gesellschaft, in der die Öffentlichkeit einen gemeinsamen Elan teilt. Allerdings wird sich ein solcher, von allen geteilter Elan nur unter Menschen entwickeln, die die Freiheit haben, ihm gemäß zu handeln und sich an den Früchten ihres Handelns zu freuen. In diesem Elan zeigt sich ein persönlicher Unternehmungsgeist, dem der Garaus gemacht wird, sobald der Staat das Heft in die Hand nimmt. Das ist der Grund, weshalb es in Europa so gut wie keine privaten Wohltätigkeitsinitiativen mehr gibt. Sie gedeihen nur noch im angelsächsischen Kulturraum, wo das common law die Bürger daran erinnert, dass sie für die Freiheit, die sie genießen, anderen gegenüber in der Verantwortung stehen.

Die Konservativen haben also die Aufgabe, den wahren Zuständigkeitsbereich von Staat und Regierung abzustecken und die Grenzen zu bezeichnen, über die hinaus jede Aktivität des Staates zu einem Übergriff auf die Freiheit der Bürger wird. Mir scheint allerdings, dass es ihnen nicht gelungen ist, der Wählerschaft diesbezüglich einen überzeugenden Entwurf anzubieten. Vermutlich weil sie selbst nicht begriffen haben, dass es nicht darum geht, sich von einem Regierungswesen zu befreien, sondern um eine andere und bessere Art des Regierens, in der all das aufgehoben ist, was wir unseren Nachbarn opfern, wenn wir uns mit ihnen zu einer Nation zusammenschließen.

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