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Читать книгу: «NOTH GOTTES», страница 4

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„Sabine Schönfeld.“

„Herbert Walter“, stellte er sich vor. „Also, ich dokumentier jetzt bildtechnisch die Havarie und mail die Fotos Ihrer Versicherung. Anschließend verklickern Sie dene den Sachverhalt.“

Er holte sein Smartphone aus der Tasche und fotografierte die eingebeulte mit roten Streifen verzierte Autotür seines Mercedes sowie die Tür des Pandas, an der die unsensible Berührung ebenfalls deutliche beigefarbige Lackspuren hinterlassen hatte. Als er die Beweise an die auf der Karte angegebene Mailadresse senden wollte, stutzte er. „Versicherungsagentur Torsten Schönfeld? Sie sind jetzt aber net verwandt, oder?“

„Die Agentur gehört meinem Ehemann“, kam kleinlaut die Antwort.

„Na, dann viel Spaß.“ Herbert reichte Frau Schönfeld sein Handy.

In leisen knappen Worten schilderte sie die Schäden an beiden Fahrzeugen. Das zerstörte iPhone erwähnte sie nicht.

Für ihn war die Sache vorerst erledigt. Dennoch geisterte eine Frage wie in einer Warteschleife in seinem Kopf herum. „Also eins hätt ich ja doch noch gern gewusst. Wieso stelle Sie ihr Auto direkt und auch so eng an meins, wenn rundrum alle Parkplätz‘ frei sind?“

Irritiert schaute Frau Schönfeld sich um und zuckte nur mit den Schultern.

„Glaub nur nicht, dass du jetzt mein Handy bekommst“, wandte sie sich an ihren Junior.

„Mom. Sorry, das ist, eh … war dein Handy. Meins habe ich meiner Freundin geliehen, weil ihrs letzte Woche gestohlen wurde.“

„Weil das ihre letzte Woche gestohlen wurde“, berichtigte Frau Schönfeld ihren Sohn. Bekam dann aber schlagartig Schnappatmung und das Gesicht des Jungen färbte sich rötlich, und zwar bis zu den Ohren.

In der nächtlichen Steppe der Kalahari hätte man den Schrei für den Lockruf einer liebeskranken Hyäne gehalten und sich nicht weiter gewundert. Hier, auf dem urbanen Parkplatz vor dem Supermarkt, drehten sich die Köpfe von erschreckten Kunden und die Mienen anwesender Kleinkinder machten sich zum Einsatz sofortigen Losbrüllens bereit.

Dennoch handelte es sich nur um den Schrei einer überforderten Mutter eines durchschnittlichen dusseligen Teenagers. „Du hast Hausarrest – für den Rest deines Lebens. Computer ist auch gestrichen.“

„Mom! Scheiße Mann.“

Paul Schönfelds Faust sauste auf das Autodach des Pandas. Der rote Kleinwagen zitterte ängstlich, hatte er doch in der letzten halben Stunde schon so einiges erlebt.

„Wir müsse dann auch mal wieder“, wandte Herbert sich an die jetzt völlig aufgelöste Mutter.

„Is ja alles soweit klar. Wenn Sie dann mal so gut wärn und ihr Autosche wegfahrn. Ich hätts dann e bissje leichter.“

Freitag, 28. August 2015 – 11:20 Uhr

„Ich sollte es eigentlich besser wissen. Um diese Zeit und bei dem Wetter ist hier nix mit Parkplatz.“

„Parke doch seitlich, an dem Kahn“, schlug Harald vor. „Wen stört‘s?“

„Die Ordnungspolizei“, brummte Nicole.

Sie legte den Rückwärtsgang ein und bahnte sich einen Weg durch die von ihrer Fahrkunst gänzlich unbeeindruckten Fußgängern und Fahrradfahrern, die auf dem Uferweg herumwuselten. Zudem strömten Autos und Motorradfahrer sowie eine weitere Schar Passanten von der gerade angelegten Fähre, die sie von der bayerischen auf die hessische Seite des Mains übergesetzt hatte.

„Ich dachte, du wohnst in einer Kleinstadt, in der sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.“

„Fuchs und Hase trauen sich schon lange nicht mehr hierher, zwischen all die Wochenendeinkäufer und Touristen. Unser Städtchen ist beliebt.“ Sie lachte.

„Unser Städtchen? Du scheinst dich hier wirklich wohl zu fühlen?“

„Tu ich, trotz der einen oder anderen Leiche.“

So locker, wie sie jetzt mit der Tatsache umging, dass auch an den beschaulichsten Orten schreckliche Dinge geschehen konnten, stimmte sie noch vor zwei Jahren traurig. Gerade deshalb, weil das Verbrechen ihren heimeligen Rückzugsort erreicht hatte, wie der jetzige Tötungsfall erneut bestätigte.

Die Fahrt über den Freihofplatz und die engen Gässchen erwies sich als mindestens genauso brenzlig. Auch hier überquerten Leute sorglos die Straße, ohne auf den fließenden Verkehr zu achten.

„Sind die hier alle manisch-depressiv?“, fragte Lars.

„Nee, römisch-katholisch mit reichlich Gottvertrauen“, erwiderte Nicole.

Endlich gelangten sie zum Parkdeck am Kloster, zwischen dem alten und dem neuen Friedhof.

„Puh.“

Erleichtert stieg Harald aus dem MX5 und sortierte seine Beine. Nicole hatte sich in letzter Minute doch für ihren eigenen Wagen entschieden. Mit strammem Schritt ging sie nun auf die Kapelle zu, dessen Areal durch ein rot-weißes Flatterband abgesperrt war.

„Nanu, was soll das?“ Nicole wunderte sich.

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung hatten Markierungsschildchen in den Boden versenkt, fotografierten und steckten Beweismaterial in Plastikbeutel.

Sie hielt den Kollegen ihren Ausweis entgegen.

„Hallo, Wegener, Kripo Offenbach. Kollege Weinert.“

„Frau Wegener, Herr Weinert“, grüßten beide zurück.

„Ich dachte sie wären schon fertig?“

„Das dachten wir auch“, antwortete einer von ihnen. „Dann erhielten wir einen Anruf des Kollegen Maier, hier von der örtlichen Polizeistation, er hätte etwas Verdächtiges gefunden. War so vor etwa fünfzehn Minuten. Er muss auch gleich hier eintreffen.“

„Ach? Und was haben Sie gefunden?“

„Ja, das hier.“

Nicole machte einen langen Hals. „Und was ist das?“

„Eine silberne Flasche, besser bekannt als Flachmann. Muss im Labor noch auf Fingerspuren untersucht werden.“

„Außerdem“, der zweite Forensik-Techniker deutete auf die Grasfläche. „Diese Spuren sehen aus, als hätte jemand hinter den Grabsteinen ein gemütliches Picknick veranstaltet. Unserer Meinung nach handelt es sich um die Abdrücke eines Campingstuhls.“

„Der Meinung bin ich ebenfalls.“ Der Polizeioberkommissar der Seligenstädter Dienststelle gesellte sich zu der Gruppe.

„Hallo, Herr Maier“, grüßten Harald und Nicole gleichzeitig.

„Wir haben uns vor einigen Wochen neue Campingstühle für den Garten gekauft“, erklärte er. „Die hinterlassen die gleichen Abdrücke auf unserem Rasen. Deshalb bin ich jetzt gar nicht mehr so sicher, dass diese Spuren mit ihrem Mordfall zu tun haben. Ich bitte um Entschuldigung, wegen dem ganzen Aufwand. Aber, als ich bei Ihnen im Präsidium anrief, waren Sie bereits unterwegs und ihr Kollege Hansen hat dann auch gleich mal die Spusi geschickt.“

„Typisch Lars. Kaum lässt man den Kleinen einmal allein, setzt er gleich den gesamten Polizeiapparat in Bewegung.“

„Machen sie sich keine Vorwürfe, Herr Maier.“ Nicole schenkte dem Polizeikollegen ein freisprechendes Lächeln.

„Wie konnten sie so schnell hier vor Ort sein?“, wandte sie sich an die Männer der Spurensicherung.

„Waren gerade im Einsatz“, kam die kurze Antwort von einem der Kriminaltechniker. „Einbruch im Nachbarort.“

„Auf dem Campingstuhl muss eine etwas übergewichtige Person gesessen haben mit sehr kleinen Füßen“, gab sein Kollege seine Erkenntnis weiter. „Außerdem haben wir ein Stück Alufolie gefunden, in dem sich Reste von Gebäck befanden. Um genauer zu sein, Weihnachtsgebäck. Wir konnten Zimt, Nüsse und Kardamom riechen. Was man halt für Weihnachtskekse so braucht.“

„Camping auf dem Friedhof mit Weihnachtsgebäck, im August? Jetzt wollt ihr uns aber auf den Arm nehmen?“

„Ganz und gar nicht, Herr Weinert. Wir beide haben sehr gut geschulte Näschen.“

„Vermutlich haben sie Recht und diese Spuren haben nichts mit unserem Mordfall zu tun. Geben Sie mir bitte trotzdem eine kurze Info, wenn die Spuren ausgewertet sind. Man kann nie wissen.“

„Gerne, Frau Wegener. Mit oder ohne Rezept für die Kekse?“

„Ohne. Ich kann nicht backen. Sie wohl schon.“ Nicole lachte. Gleichzeitig fragte sie sich, wer nachts auf dem Friedhof Weihnachtskekse verzehrt.

„Vielen Dank, Kollegen.“

„Immer gern, Kollegin.“

Die Techniker tippten sich grinsend und synchron mit dem Zeigefinger an die Köpfe.

„Ich denke, dass die Spuren eher mit den Grabschändern zu tun haben, die hier auf dem Friedhof ihr Unwesen treiben“, sagte Maier.

„Hm. Könnte stimmen. Habe darüber gelesen. Dumme Sache“, antwortete Harald.

***

„Jetzt sin mer extra aus Kahl riwwer kumme un jetzt is do zu.“

Erbost rüttelte eine ältere Frau an der verschlossenen Tür der Kapelle. Ihre Begleitung hielt sich zittrig an ihrem Rollator fest. „Des is jetzt werklich Allehand. Wo ich doch gar net gut uf de Fiess bin. Kätche, glaabste die Leich‘ lieht noch do drin und die von de Polizei hawe deshalb zugeschlosse?“

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Des glaab ich net, Gretel. Die Leich is bestimmt schon in de Gerichtsmedizin.“

„Woher willst de des dann wisse?“

„Des werd immer so gemacht. Die wolle doch so schnell wie meechlich die Todesursache feststelle, ob’s Mord war odder doch nur en Unfall.“

„Jesesmaria. Du waast awer ganz schee Bescheid.“

„Ja, Gretel, dann guck halt eefter mol an Tatort. Dann waaste des aach. Un guck, die do, die sinn von der SpuSi.“

Sie deutete mit ihrem Zeigefinger in die Richtung der Kriminaltechniker.

„Was fer e Susi?“

„Nix Susi, die SpuSi! Die Spurensicherung!“

„Och, Gretel. Kaaf der endlich mol a gescheit Hörgerät. Komm, gehn mer halt ins Kaffee, solang bis de Bus uns widder abole tut.“

***

„Wirklich imposant.“ Den Kopf in den Nacken gelegt schaute Harald auf das barocke Portal der Kapelle.

„Ich dachte mir schon so etwas“, sagte Maier, hinsichtlich der betagten Damen. „Deshalb hab ich sofort abgeschlossen, nachdem ihre Kollegen ihre Arbeit beendet hatten.“ Er zückte einen altertümlichen Schlüssel, bei dessen Anblick Nicole die Stirn runzelte, ebenso Harald. Jeder Azubi-Einbrecher hätte mit diesem Schloss keinerlei Mühe. Überraschenderweise verweigerte die massive Eichentür den sofortigen Zugang. Erst als Josef Maier die Klinke und damit die gesamte Tür leicht anhob, gab sie ächzend ihren Widerstand auf.

„Ist die Feuchtigkeit. Ab einem gewissen Alter spürt man den Wetterumschwung. Geht mir ähnlich.“ Der Polizeioberkommissar schmunzelte und betätigte den Lichtschalter, wodurch der Raum jedoch kaum an Helligkeit zunahm. Was daran lag, dass sich draußen die Sonne langsam durch die Wolkendecke gequetscht hatte.

„Den Strom haben wir dem Förderkreis zu verdanken“, setzte Maier die Kommissare in Kenntnis. „Die haben auch dafür gesorgt, dass die Kapelle innen und außen verputzt und mit einem Anstrich versehen worden ist.“

„Woher kommt der Name, Noth Gottes?“, wollte Harald wissen.

„Das hängt mit der Holzplastik dort vorn zusammen. Das Bildnis des leidenden Erlösers zur Noth Gottes.“ Maier wies auf den Altar. „Sehen sie sich die Altarinschrift an.“

Harald neigte den Kopf und las mit gedämpfter Stimme:

Ihr Menschen denkt an meine Schmerzen

Und führt dieselben tief zu Herzen.

Euer Sach‘ werdt ihr finden mein Leib und eure Sünden.

Joannes Petrus Dalquen et Maria Nata Stengerin.

Ericere Voleband, 1765.

„Sind wohl die Stifter?“

„Jedenfalls weist die Gedenktafel, draußen an der Kapelle, darauf hin, dass durch die finanzielle Unterstützung zweier in Nordamerika lebenden Familien mit Seligenstädter Wurzeln, die Kapelle so um 1870 neu aufgebaut wurde. Anfangs stand hier wohl nur ein Bildhäuschen mit dem Erbärmisbild des leidenden Jesus. Die Figur selbst stammt aus dem Ende des 15. Jahrhunderts, das barocke Portal von unserer romanischen Basilika. Nach deren Umbau, so um 1720, fand es hier Verwendung.“

„Heute würde man es als nachhaltige Verwendung bezeichnen“, warf Nicole ein. „Immerhin hatte der Leidende dadurch ein Dach über dem Kopf.“

„Ja“, stimmte Maier lächelnd zu. „Aber nun genug aus der historischen Vergangenheit unserer schönen Stadt.“

Er legte seine Hand auf die linksseitige Gebetbank. „Die Tote saß hier. Ich nehme an, Sie haben die Fotos schon gesehen?“

„Ja. Trotzdem machen wir gerne unsere eigenen Aufnahmen.“ Nicole nickte ihrem Kollegen aufmunternd zu und Harald warf die Videokamera an.

Er filmte im 360-Grad-Winkel jeden Quadratzentimeter des Innenraums der Kapelle. Auch die Kassettendecke mit ihren 48 Gemälden ließ er nicht aus, obgleich sie kaum Teil der Ermittlungen sein würde – aber ihn interessierte.

Vielleicht sollte ich Polizeioberkommissar Maier irgendwann zu einem Bierchen einladen, schoss es Harald durch den Kopf. Er scheint mit der Geschichte seines Heimatstädtchens sehr vertraut zu sein.

Währenddessen Weinert die Kapelle von innen filmte, schaute Nicole sich außerhalb um. Sie entdeckte die Gedenktafel an der Außenwand, von der Maier gesprochen hatte wie auch die Marienstatue nebenan, die hinter Glas in der Mauer auf der dem Main zugewandten Seite eingelassen war. Auf dem Boden davor waren sandige schmalen Reifenspuren zu sehen. Sie stammten vermutlich von den Rollatoren der beiden Damen, die enttäuscht davon, dass hier weder eine Leiche noch sonstige Gräueltaten zu finden waren, sich gezwungen sahen, mit der Aber-bitte-mit-Sahne-Alternative auseinanderzusetzen.

Einige Minuten lang blieb Nicole vor der, in einem weißen Kleid mit hellblauer Schärpe und in einen weißen Umhang gehüllten Maria stehen. Die Jungfrau der Armen, wie die benachbarte Tafel verriet, war das genaue Gegenteil des leidenden Jesus innerhalb der Kapelle. Mit vor der Brust gefalteten Händen und den Kopf gesenkt, machte sie einen friedlichen und sanftmütigen Eindruck.

„Nicole! Hab‘ alles im Kasten.“

Widerstrebend, wie sie leicht irritiert feststellte, löste sie sich von diesem Anblick.

„Die Aktion von Lars, mit der Spurensicherung, war ja wohl in Griff ins Klo“, äußerte Harald. „Hoffentlich gibt das keinen Ärger, von wegen der Kosten.“

„Warten wir es erst mal ab. Wenn die Spuren nicht zu unserem Fall gehören, können wir vielleicht den hiesigen Kollegen behilflich sein. Du kennst doch den Spruch: Jeden Tag eine gute Tat. Und wer weiß? Vielleicht hängt das eine ja doch mit dem anderen zusammen.“

„Das muss ich jetzt aber nicht verstehen, oder?“

Nicole schüttelte den Kopf. „Sagtest du nicht, der Freund unseres Opfers wohnt auch hier?“

„Ja. Hier seine Adresse.“ Harald hielt ihr sein Tablet unter die Nase. „Weißt du wo das ist?“

„Ist nicht weit. Dahin können wir laufen.“

Sehnsüchtig sah Nicole einem kleinen Mädchen hinterher, das mit langer Zunge an ihrer Eistüte schleckte. „Und es gibt dort um die Ecke eine supergute Eisdiele.“

„Prima“, stimmte Harald zu.

„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, bestimmte Nicole.

Wenig später standen die Beamten vor Wronskys Wohnung. Der war aber offenbar nicht zu Hause. Zumindest öffnete ihnen keiner – auch nicht nach häufigem Klingeln.

Harald zeigte auf einen schwarzen Porsche gegenüber. „Den könnte Lars sich eventuell leisten.“

Nicole nickte lächelnd. „Und schon wieder ein Frankfurter Kennzeichen. Die fühlen sich hier offensichtlich auch wohl.“

Nach einem riesigen Eisbecher - diese süße Sünde konnte sich die Kriminalhauptkommissarin nicht verkneifen – fuhr sie erneut quer durch die Stadt – diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Erstmals war das Glück auf ihrer Seite. Sie ergatterte den noch einzigen freien Stellplatz vor dem Parkdeck.

Nach weiteren fünf Minuten standen sie vor der grün gestrichenen Holztür eines in die Jahre gekommenen Fachwerkhauses, in der Lisa Sommer gewohnt hatte.

Aber eben nur davor, genau wie bei Wronsky. Nicole schaute auf ihre Armbanduhr.

„Jetzt ist es Zwölf Uhr fünfzehn. Da könnte man doch mal langsam aus den Federn gekrochen sein.“

Sie schellte noch zweimal lang anhaltend – erfolglos.

„Nicht jeder ist ein Der-frühe-Vogel-fängt-den-Wurm-Anhänger.“

„Setze die Bewohner ebenfalls auf deine Anrufliste“, erwiderte Nicole angekratzt.

Die Person hinter der Gardine verhielt sich still, bis die Beamten aus ihrem Blickfeld entschwunden waren.

Freitag, 28. August 2015 – 11:30 Uhr

Herbert trug die Einkäufe in Helenes Küche.

„Danke. Alles Weitere kann ich alleine tun. Geh du jetzt mal das Foto bearbeiten. Ich bin ganz gespannt, ob man danach den Täter erkennen kann.“

„Wenn er’s denn is.“

„Wer sonst?“, entgegnete Helene. „Oder hast du sonst noch jemand aus der Kapelle flitzen sehen?“

„Ich“, Herbert deutete mit dem Zeigefinger auf seine Brust, „hab überhaupt nix gesehen. Ich war zeitweilisch blind!“

„Ist ja gut. Jetzt mach kein langes Gedöns daraus und komm in die Gänge.“ Mit einer wedelnden Handbewegung scheuchte sie ihn aus der Küche. „Heute Mittag gibt es Kartoffelsuppe und Würstchen. Für mehr ist keine Zeit. Wir haben noch eine ganze Menge zu tun.“

„Ach? Und was?“

„Meinst du, du schaffst das mit dem Foto bis halb eins?“, wich Helene aus.

„Klaro. Ich fahr nur schnell mein Auto heim in die Garage, sonst gibt’s noch en Strafzettel.“

***

Kaum war Herbert aus seinem Auto gestiegen, stürmte auch schon Gundel aus ihrem Haus.

„Hast du mein Waschmittel?“

„Ja meinst de, des Paket wär unnerwegs aus em Kofferraum geklettert und hätt sich aus em Staub gemacht?“ Er rollte mit den Augen und stemmte das XXL-Paket aus dem Kofferraum und stellte es Gundel vor die Füße. Die hob es kurz an, um es sofort wieder auf die Steinplatten von der Auffahrt plumpsen zu lassen.

„Ist das schwer. Ist mir im Markt überhaupt nicht aufgefallen. Kannst du es mir rüber tragen? Bitte!“

„Nix lieber als des“, murmelte Herbert in sein Kinn und machte sich mit flinken Schritten auf den Weg. Gundel blieb nichts anderes übrig, als hastig hinter ihm her zu trippeln.

„Hoffentlich muss ich das nicht noch einmal erleben.“

„Hm. Nimmst dir halt es nächste Mal e Taxi.“

„Was meinst du?“

„Ach nix. Was willst de net noch emol erlebe?“ Herbert stellte das Waschmittelpaket vor Gundels Haustür ab.

„Na das mit den Morden, hier bei uns. Man bekommt‘s ja wirklich mit der Angst.“

„Warum? Glaubst de im Ernst es will dich jemand abmurkse?“ Abgesehen von mir vielleicht – irgendwann – wenn ich mich net mehr beherrsche kann – in der allergrößten Verzweiflung.

„Also wie du das jetzt so sagst. Da krieg‘ ich schon wieder gleich eine Gänsehaut.“

„Gundel.“ Herbert gemahnte sich der gütigen Gleichmut Buddhas und sah seiner Nachbarin, die ihn auch nach Jahrzehnten noch immer mit ihrer zurückhaltenden Logik verblüffte, tief in die verängstigten Augen.

Mit der größtmöglichen Gelassenheit, derer er fähig war, sagte er: „Erstens, die Leichen, die vor zwei Jahren gefunden wurden, kamen vor mehr als fünfundsechzig Jahren ums Leben. Jetzt, bei der Frau im Kapellche, weiß noch keiner, ob es sich überhaupt um einen Mord handelt. Vielleicht ist es ein ganz normaler Herzinfarkt. Zweitens, wenn bei uns im Städtche, so alle sechzig bis siebzig Jahr mal en Mord passiert, brauchst du dir keine Gedanke zu mache. Bis des es nächste Mal passiert, siehst du dir selbst schon die Radieschen von unte an.“

Deutlich erkennbar arbeitete es gewaltig hinter Gundula Krämers leicht gerunzelter Stirn. Gefühlte zwei Minuten später kam ein: „Stimmt!“, aus ihrem Mund.

Mit einem Ruck hob sie die Waschmittelbox an, zerrte sie in den Flur und knallte die Tür zu.

Herbert seufzte und überquerte die Straße.

„Ei, wie, Samariter der Witwe und Waise.“ Schorsch kam aus Sepps Haus geschlurft.

„Habt ihr schon widder hinner de Fenster gelurt?“

„Klar“, erwiderte der. „Mir hawe ja sonst nix zu tu. Außerdem hawe mer uf dich gewart. Un wann geht’s los?“

„Wann geht was los?“

„Na, des mit dene Ermittlunge. Der Sepp is aach schon gespannt, wie en Flitzebooche.“

„Ermittlunge?“ Herbert versuchte, ausdruckslos zu schauen.

„Jetzt tu net so schoiheilisch. Du und die Helene, ihr habt bestimmt schon euer Fühler ausgestreckt, hot de Sepp gemoahnt. Freilich kennt er net mehr üwerall mit hie, weesche seine Knoche, du waast ja. Awer er tät trotzdem gern uf em Laufende bleibe. Desweeche kannst de noch mehr uff mich zähle.“

„Des is Sach von de Polizei“, betonte Herbert mit Nachdruck und betete insgeheim – Bitte, Gott. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Er wollte nur rasch weiter, doch Schorsch packte ihn am Ärmel.

„Du, da wär noch was, was ich dir erzähle soll, hot der Sepp gemoahnt. Net, dass mer vielleicht widder Schwierischkeite kriehe kennte.“

„Wie Schwierschkeite? Was habt ihr denn jetzt schon widder angestellt?“

„No ja, so kann mer des jetzt net saache. Also, direkt ogestellt hab ich nix.“ Schorsch blickte hinab zu seinen Füßen, die in karierten Filzpantoffeln steckten.

„Herrgott. Jetzt mach’s net so spannend, sonst stehn mer noch bis zum Sankt Nimmerleinstag hier.“

„Do, uff em Friedhof, gestern Nacht, du kannst dich doch erinnern?“

Ich tät’s lieber net. Herbert zog die Augenbrauen hoch.

„Also. Ich hatt doch den Flachmann vom Sepp dabei.“

„Ja und?“ Gleich platzt mir de Krage.

„Den muss ich do verlorn hawwe. Jedenfalls war der net mehr in meiner Jacketasch. Verstehste? Wenn die Kriminale den finne, dann moane die doch, mir wärn die Mörder.“

Herbert griff sich an die Schläfen. Dort breitete sich langsam, aber stetig ein Schmerz aus.

„Kennst du do was mache?“

„Und was stellst de dir da so vor?“

Schorsch zuckte mit den Schultern.

Freitag, den 28. August 2015 – 12:15 Uhr

„Ihr seid spät dran. Paps will euch sehen.“ Jana lenkte ihre Brüder mit einem Kopfnicken in die Richtung des angrenzenden Büros und widmete sich wieder ihrem Computer.

„Auch dir einen schönen guten Morgen“, erwiderte Ben.

Ohne anzuklopfen, betraten die Brüder das Büro von Heinz Stratmann. Der saß hinter seinem Schreibtisch aus massiver dunkler Eiche und würdigte seine Söhne mit keinem Blick.

„Setzt euch.“

Ben lümmelte sich auf die Besuchercouch in der Ecke. Marco dagegen lehnte sich mit überkreuzten Armen an den Türrahmen.

Nach mindestens zwei Minuten absoluten Schweigens legte Stratmann Senior seinen Le Grand Füllfederhalter der Marke Montblanc sorgfältig neben die Unterschriftsmappe. Die gefalteten Hände auf der Schreibtischplatte neigte er sich ein wenig vor. „Wo seid ihr letzte Nacht gewesen und was habt ihr wieder angestellt?“

Sein eiskalter Blick traf nacheinander seine Sprösslinge.

„Was soll das jetzt werden?“, gab Marco brummig zurück. „Schließlich sind wir alt genug. Wir müssen dir keine Rechenschaft abgeben.“

„Das wäre insoweit richtig, wenn ihr euren ausschweifenden Lebensstil selbstständig erarbeiten würdet – was ihr nicht tut. Deshalb bin ich der Meinung, dass ihr mir eine Erklärung schuldet, für was und für wen ihr mein Geld und das der Firma ausgebt.“

Marcos ansetzender Protest wurde rigoros durch eine Handbewegung von Stratmann Senior gestoppt.

„Ich habe euch in euren 25 Lebensjahren viele Freiheiten erlaubt, sei es durch enorm hohes Spielgeld, das euch immer zur Verfügung stand oder die Billigung unsere teuersten Wagen benutzen zu dürfen. Nicht zu vergessen, dass ich euch andauernd aus der Scheiße geholt habe, sobald ihr mal wieder bis zum Kinn darin zu versinken drohtet. Das letzte Mal Anfang des Jahres. Möglicherweise könnt ihr euch erinnern, falls euer Hirnschmalz nicht schon totgefixt ist.“

Ben erhob sich von der Couch und wollte protestieren. Doch ein scharfes Aufschnaufen seines Vaters genügte und er ließ sich in die weichen Polster zurückfallen.

„Allem Anschein nach, habt ihr noch immer nichts gelernt, oder aber ich hatte mich nicht klar genug ausgedrückt.“

„Was willst du eigentlich von uns? Um was geht es?“ Marco bedachte seinen zehn Minuten jüngeren Bruder mit einem kurzen Seitenblick.

„Vor einer Stunde stand die Polizei hier und hat nach euch gefragt. Ein gewisser“, Heinz Stratmann nahm eine Visitenkarte in die Hand, „Oberkommissar Lars Hansen von der Kripo in Offenbach. Er wollte wissen, wo ihr beide gestern Abend und die Nacht über gewesen seid. Nun?“

Erwartungsvoll lehnte er sich in seinem Ledersessel zurück.

„Wir … wir haben nur eine Party gefeiert“, begann Benjamin vorsichtig. „Und es ist überhaupt nichts passiert, was die Bullen hier auf die Matte rufen könnte.“

Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. „Was soll eigentlich das ganze Theater?“

„Wo fand diese Party statt? Waren mal wieder Drogen im Spiel?“

„Mein Gott, Vater. Das ist ja das reinste Verhör.“ Marco schnaufte hörbar.

Auch Heinz Stratmann hatte sich erhoben und obwohl er einige Zentimeter kleiner als seine Söhne war, warf er einen großen imaginären Schatten über die beiden. „Also, ich warte!“

„Wir waren bei Dom. Seine Freundin wurde gestern Einundzwanzig“, rückte Benjamin mit der Sprache heraus. „Er wolle ihr etwas ganz Besonderes bieten. Natürlich war Alkohol dabei und … ja, auch Drogen. Aber alles ganz harmlos.“

„So so, harmlos. Alkohol und Drogen, sind für euch also eine ganz alltägliche, harmlose Angelegenheit?“

Stratmann Senior holte tief Luft und stieß sie hörbar wieder aus. „Wieso interessiert sich dann die Kriminalpolizei für euch?“

Marco und Ben tauschten die Blicke. „Wir haben keine Ahnung.“

„Eins kann ich euch aber versichern. Solltet ihr erneut in Schwierigkeiten geraten sein, so werde ich unsere Anwälte mit Nachdruck davon abhalten, euch herauszupauken.“ Stratmann Senior bewegte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.

„Ach ja, ein letztes noch. Ich habe beschlossen, dass Jana, ab nächsten Monat, die Geschäftsleitung übernimmt.“

Freitag, den 28. August 2015 – 12:25 Uhr

„Verliert der Depp den Flachmann auf em Friedhof“, brummte Herbert halblaut vor sich hin, während er Helenes Schnappschuss bearbeitete.

Die tief über den Kopf gezogene Kapuze verdeckte zwar noch immer einen Teil des Gesichts, dennoch wäre es nicht undenkbar die Person zu identifizieren, wenn man sie denn kennen würde. Er kannte sie nicht und druckte das Foto aus. In diesem Moment piepste seine Armbanduhr und erinnerte ihn an Helene und ihre einzigartige Kartoffelsuppe.

„Ich bin’s“, rief er und schnupperte.

„Wer sollte es sonst sein“, kam die Antwort, gefolgt von einem hellen Lachen aus der Küche. „Nur du und Nicole haben einen Schlüssel. Einbrechern erhalten prinzipiell von mir keinen Schlüssel. Ich gebe nur noch schnell den gebratenen Speck in die Suppe. Schneidest du schon mal das Brot?“

„Wie ihr befiehlt, meine Suppenkönigin.“

Nach dem Essen und einem unterdrückten Rülpser, massierte Herbert sich den leichten Bauchansatz.

„Wenn du mich weiter so verwöhnst, gibt das eine beachtliche Wampe.“

„Papperlapapp. Du bist nicht der Typ für einen Bauch“, erwiderte Helene. „Außerdem treiben wir ausreichend Sport.“

Zu ihren Thai Chi Übungen, die im Sommer in Herberts Garten sowie unter Sepps skeptischem Kommentar: Des is awer a komisch Danzerei. Mer kennt moahne, die schlofe gleich eu, stattfanden, besuchten sie seit etwa einem Jahr regelmäßig ein Fitnesscenter.

„Guck mal. Kennst du den?“

Helene nahm die ausgedruckte Aufnahme in die Hand. „Nein. Außerdem verdeckt die Kapuze das halbe Gesicht.“

„Also des konnte ich jetzt net beizaubern.“

„Wir nehmen das Foto trotzdem mit“, beschloss Helene.

„Mit? Wohin? Und was hast du eigentlich vor?“

„Wir gehen zum Friedhof, uns den Fundort der Leiche nochmals anschauen. Vielleicht treffen wir unterwegs auf die einen oder anderen Leute.“ Sie wedelte mit dem Foto.

„Aha.“ Herbert kratze sich an der Stirn.

„Was ist? Wieso kratzt du dich an der Stirn. Das tust du nur, wenn dir etwas unangenehm ist.“

Sie kennt mich schon zu gut, dachte er und erzählte von Schorschs Malheur.

„Der Depp hat doch tatsächlich den Flachmann vom Sepp gestern Abend auf dem Friedhof verlorn. Und jetzt hat er natürlich gewaltisch Bammel, dass die Polizei den gefunde hat.“

„Dat is nu wirklich Schiet.“ Helene sinnierte einen Moment. „Wenn die Polizei etwas gefunden hat, dann ist der Bereich bestimmt noch abgesperrt. Wir brauchen Gewissheit.“

„Na gut, mache mer en Spaziergang“, stimmte Herbert zu. „Ich versteh‘ nur net, wem du des Foto zeige willst. Gestern Abend war’s stockduster und soweit ich gesehe hab, hab ich niemand gesehe, der noch unterwegs war – außer uns.“

„Und dem Mörder“, setzte Helene nach und schnappte sich ihre Jacke vom Haken in der Garderobe. „Na, komm in die Puschen!“

Freitag, den 28. August 2015 – 12:45 Uhr

„Morgen.“

Schlaftrunken stolperte Selina in die Küche. Sie trug lediglich einen Slip und ein T-Shirt, das ihr gerade bis zum Nabel reichte und ihre molligen Rundungen präsentierte. Corinna, eine ihrer Mitbewohnerinnen, wie immer, wie aus dem Ei gepellt, saß am Tisch. Vor sich einem dampfenden Kaffeebecher sowie einen Teller mit Rührei und Toast.

„Morgen ist gut“, meinte die 22-Jährige. „Es ist bereits viertel vor Eins.“

„Na und?“, brummelte Selina und ließ sich in einen, schon in die Jahre gekommenen Stuhl mit beidseitigen Armlehnen fallen. Das in Gelb, braun und rot gestrichene Möbel war eines von vier, antiken Sitzgelegenheiten, die sie mit in die Wohngemeinschaft eingebracht hatte und vehement gegen einen Austausch verteidigte. „Ändert nichts an meinem Brummschädel!“

Sie fuhr sich durch ihre kurzen, zurzeit dunkellila gefärbten, nach allen Seiten abstehenden Haare.

Corinna lächelte nachsichtig und füllte einen Becher mit Kaffee.

„Hier. So, wie du aussiehst, kannst du den jetzt gebrauchen.“

Selina gähnte ausgiebig und schlürfte vorsichtig an dem heißen Getränk.

„Eier, Toast?“

„Bloß nicht.“ Angewidert wandte sie sich ab.

„War ein gelungener Abend und sehr interessant“, plapperte Corinna fröhlich weiter, beobachtete aber ihre Mitbewohnerin dabei äußerst genau.

„Kann mich kaum noch erinnern.“

„Du weißt nicht mehr, dass unsere Kleine außer Rand und Band gewesen ist?“ Corinna unterdrückte ein Lachen. „Ich denke, unser Küken hatte zum ersten Mal richtigen Spaß.“

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9783742771926
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