Читать книгу: «Tod am Piz Beverin», страница 3

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Tiziano trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch, war aber einverstanden. Er musterte Sandra Studacher, der schon wieder ein Ton den Erhalt einer neuen Mitteilung ankündigte.

«Wem schreibst du denn die ganze Zeit? Ist das so wichtig?»

Seine Stimme war laut genug, dass Toni jedes Wort verstehen konnte und unter seinem Bart verstohlen schmunzelte. Ein Seelenverwandter.

«Moment … warte …», murmelte Sandra.

«Hallo, Sandra, du hast Gesellschaft!» Tiziano wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht.

«Lass sie doch», beschwichtigte Lorenzo, «es scheint wichtig zu sein.»

«Quatsch, wichtig! Los, Sandra, erzähl mal, was schreibst du da?»

«Senden!», murmelte sie, berührte das Gerät am richtigen Ort und blickte auf. «Was ich schreibe?», wiederholte sie. «Eine Kollegin hatte heute eine wichtige Prüfung, da wollte ich nachfragen, wie es ihr gegangen ist. Eine andere hat sich erkundigt, ob ich gut angekommen sei. Meine Mutter war mit dem Hund beim Tierarzt und teilte mir mit, dass ihn dieser behandeln konnte. Ein Bekannter …»

«Eben, ich wusste es doch! Alles unwichtig, hast du gehört, Lorenzo?»

«Na, hör mal! Meine Freunde und die Familie sind wichtig für mich!», empörte sich Sandra.

«Aber in den Ferien sind doch die neuen Bekanntschaften wichtig, sonst müsstest du ja gar nicht wegfahren, capisci? Du könntest genauso gut zu Hause auf dem Sofa sitzen, allein, die ganze Woche, und Nachrichten schreiben.»

Sandra holte tief Luft, um zu einer Antwort anzusetzen. In diesem Moment ertönte ein penetranter Glockenklang, der Tiziano aufspringen liess. Er riss sein Smartphone aus der Hosentasche, meldete sich mit «ciao, ciao, dimmi …» und verliess eilig das Restaurant.

Lorenzo hob resigniert die Schultern und lachte Sandra an. Sie lächelte zaghaft zurück.

«Grosse Worte und nichts dahinter, was?», sagte sie.

«Ja, er ist ein unverbesserlicher Schwätzer, aber mit ihm läuft immer etwas, da ist es nie langweilig!»

Auch Toni Hunger, der die Szene beobachtet hatte, lachte. Einen Tisch weiter vorne sassen Petra und Georg Steingruber, die Gäste aus Österreich, die nichts mitbekommen hatten. Sie beugten sich tief über eine Wanderkarte, ihre Köpfe berührten sich fast, und unterhielten sich leise. Am Tisch, der der Tür am nächsten stand, sassen die drei jungen Deutschen. Sie hatten noch kaum miteinander gesprochen, seit Toni hier war. Einer kratzte sorgfältig die letzten Reste seines Desserts aus dem Teller, einer spielte mit dem Zuckerpäckchen, das er zu seinem Kaffee erhalten hatte, und der dritte stocherte mit einem Hölzchen in seinen Zähnen.

Frank versicherte sich mit einem Blick, dass alle seine Gäste bedient waren, bevor er sich an einen der Tische setzte. Er hatte eine Karte und einige Prospekte dabei und gab bereitwillig Auskunft über die Sport- und Ausflugsmöglichkeiten, die sich den Gästen boten.

«Der Piz Beverin ist nicht zu unterschätzen. Der Aufstieg von hier aus ist keine einfache Wanderung, sondern eine Bergtour.»

«Muss man denselben Weg wieder runter, oder gibt es noch andere Routen?», fragte einer der drei Deutschen.

Frank schilderte ausführlich die anderen, weniger problematischen Möglichkeiten und ging dann über zu den leichteren Wanderungen: längere und kürzere, steilere und flachere, einsamere und solche mit Gasthäusern am Weg.

«Der Weg vom Glaspass hinunter ins Safiental hätte mich heute ungemein gereizt, als ich mit dem Velo unterwegs war», sagte Sandra. «Wie komme ich von dort wieder zurück hierher?»

«‹Velo› sagt sie», bemerkte einer der Deutschen halblaut. Und in verletzend abschätzigem Tonfall fügte er hinzu: «Wie soll jemand Fahrrad fahren können, wenn er’s nicht mal aussprechen kann?»

Einen Moment herrschte Totenstille, dann beeilte sich sein Gefährte zu bemerken: «Ach, Dieter, nun fang bloss nicht schon wieder an, dich so aufzuführen, ja?» Als der Dritte ansetzte, ebenfalls etwas zu sagen, brachte er ihn mit einem Blick zum Schweigen.

Dieter grinste spöttisch und blickte Sandra herablassend an. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff Frank das Wort und erklärte ihr freundlich: «Mit dem Velo – oder Fahrrad – », fügte er mit einem Blick auf Dieter hinzu, «über den Glaspass ist sehr zu empfehlen für geübte Fahrer mit guter Kondition.» Er beschrieb den schmalen Pfad den Heinzenberg hinunter nach Safien-Platz, dann den Weg durch das Safiental hinaus und diesseits des Heinzenbergs zurück. «Zum Schluss musst du dann noch den ganzen Weg bergauf nach Glas, das ist ein Krampf. Wenn du zu müde bist, kannst du das Postauto bis Tschappina benützen, dann brauchst du nur noch das letzte Stück zu trampeln.»

«Toll, das reizt mich. Kann ich dasselbe Bike morgen nochmals mieten?», fragte Sandra.

«Schau, schau, jetzt sagt sie ‹Bike›. Sogar Fremdsprachen beherrscht sie.» Dieters Stimme triefte vor Hohn und brachte den dritten deutschen Kollegen zum Explodieren.

«Nun halt endlich deine verdammte Fresse, du Arschloch! Im Restaurant unterwegs hast du den Kellner fertig gemacht, der Verkäuferin im Sportgeschäft ging’s nicht besser, und jetzt das. Du bist doch nicht normal!»

«Klaus, bitte, lass dich nicht provozieren.» Sein Kamerad versuchte wieder zu schlichten. «Dieter, heute bist du wirklich übel gelaunt. Lass doch die Leute in Frieden.»

Dieter setzte ein abschätziges Lächeln auf, schwieg aber. Erleichtertes Aufatmen bei den übrigen Gästen.

Angela Oberhofer erkundigte sich bei Frank nach ein, zwei Kesseln, die sie sich ausleihen könnte, weil sie am Montag Heidelbeeren sammeln wollte mit den Kindern.

«Klar, ich gebe euch die grossen Jogurt-Behälter mit, die braucht ihr nicht zurückzugeben. Am meisten Beeren findet ihr am Heidbüel, das ist die Kuppe am Fuss des Piz Beverin. Er ist über und über voll von Heidelbeerstauden und Alpenrosen. Zuoberst befindet sich ein kleiner See, fast eingewachsen, in einer Stunde seid ihr dort. Dahinter beginnen die Felsen, doch bis zum Teich ist der Weg völlig ungefährlich und gut markiert.»

Angela bedankte sich für die Auskünfte und machte den Mädchen den Ausflug schmackhaft.

«Frank, bitt’ schön, kannst du uns etwas sagen zu dem Weg, der am Fuss des Piz Beverin entlang nach Thusis hinunterführt?»

«Oh, Austria ist auch vertreten», liess sich Dieter vernehmen. «Sind österreichischen Snobs die Berge im eigenen Land nicht gut genug?»

Sandra stöhnte auf, Tiziano schimpfte: «Mann, was ist los! Trink noch ein Bier, das beruhigt die Nerven, capisci

«Darf ich dreimal raten? Ach nein, einmal wird genügen: Du bist italienischer Kellner in Deutschland, richtig?»

«Ja, das stimmt genau. Und wenn ich Gäste hätte, wie du einer bist, würde ich sie rausschmeissen, capisci, da kannst du sicher sein. Zum Glück sind die meisten nicht solche Arsch…»

Diesmal fuhr Sandra dazwischen und schlichtete den Zank.

Tiziano schwieg schliesslich und liess seinen Zorn an einem leeren Zigarettenpäckchen aus, das er wütend zerknüllte.

Dieter erhob mit süffisantem Lächeln sein Schnapsglas und nahm einen Schluck.

Frank holte tief Luft und beschrieb Georg und Petra den Weg, der über Alpweiden, durch Tobel und später durch den Wald jenseits des wilden Bergbachs Nolla nach Thusis führte.

Nachdenklich beobachtete Toni Hunger die Gäste, deren Gespräche er mit Interesse verfolgt hatte. An der Gruppe war nichts Ungewöhnliches, und trotzdem konnte er das Knistern spüren, das zwischen den Gästen herrschte. Im Gegensatz zu Toni liess das Geschehen seine beiden Tischkameraden völlig unberührt. Gusti und Greti Müller berieten, was sie noch alles erledigen mussten, um ihr Ferienhaus für den Winter bereitzumachen, und schienen nichts mitzubekommen von den Spannungen an den Nebentischen.

Schliesslich löste sich die Runde auf. Die beiden Italiener verabschiedeten sich. Angela, Jana und Julia räumten ihr Brettspiel zusammen und gingen zur Treppe, die Mädchen kichernd und flüsternd. Die Müllers trauten sich nach dem Verdauungsschnaps zu, sich zu erheben und den Heimweg zu ihrem Häuschen anzutreten. Es klappte tatsächlich, und Toni folgte ihnen hinaus. Nachdem er sich unten auf der Strasse von ihnen verabschiedet hatte, machte er sich gut gelaunt auf den Weg zu seinem Haus. Die Gästeschar schien ihm vielversprechend zu sein, wer weiss, vielleicht würde er in der kommenden Woche die eine oder andere spannende Szene miterleben.

Sie lag niedergeschlagen im Bett und fühlte sich, als würde die Bettdecke mit dem Gewicht eines Kartoffelsacks auf ihrer Brust liegen. Sie vermisste ihn so sehr. Jetzt würden sie nebeneinander liegen und sich über die Gäste unterhalten. Sie wären sich einig, dass die Tante mit den beiden Kindern zwar nett, aber langweilig sei, der Deutsche ein mieser Kerl, den man besser mied, und der alte Bauer ein sonderbarer Typ. Sie würde sich in seine Armbeuge schmiegen, er mit ihren Haaren spielen. Der schmerzhafte Stich, den sie in ihrem Herzen spürte, liess sie aufstöhnen.

Die Ferienreise hatte sie nicht abgesagt, weil das so kurzfristig nicht möglich gewesen wäre ohne finanzielle Einbusse. Das hätte wiederum bedeutet, dass sie nirgends hätte hinfahren können, und eine Woche ohne Tapetenwechsel war ihr noch schlimmer vorgekommen als eine Woche allein auf dem Glaspass. Nun war sie hier, doch ihre Hoffnung, an andere Gäste Anschluss zu finden, hatte sich zerschlagen.

Den halben Abend hatte sie mit ihrem Smartphone verbracht, um ihre Kolleginnen von der Trennung zu unterrichten. Deren Mitgefühl und tröstende Worte hatten ihr gutgetan. Nun war das Handy verstummt. Ob er wohl anrief?, fragte sie sich. Sie wartete sehnsüchtig darauf, seine Stimme zu hören, und fürchtete gleichzeitig, einem Gespräch nicht gewachsen zu sein. Sie würde schimpfen oder weinen, das Telefonat würde in einem Desaster enden, und sie würde sich wünschen, er hätte nie angerufen. Doch Sandra vermisste ihn so unsäglich, dass sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte.

Georg Steingruber konnte ebenfalls nicht einschlafen. Der Platz neben ihm im Bett war leer. Das war er gewohnt, denn während er um zehn Uhr abends jeweils rasch schläfrig wurde, dachte Petra um diese Uhrzeit noch in keiner Weise an Nachtruhe. Trotzdem hätte es ihn gefreut, wenn sie sich heute, an ihrem ersten Ferientag, zu ihm ins Bett gelegt hätte. Sie hätten sich über ihre neuen Bekanntschaften unterhalten können, über ihre Pläne für die nächsten Tage, über diese abgeschottete Welt auf über achtzehnhundert Metern Höhe, die für eine Woche ihr Zuhause war. Doch Petra war noch nicht von der Gaststube ins Zimmer heraufgekommen. Georg seufzte. Er zündete die Nachttischlampe an und nahm sein Buch zur Hand, um noch ein paar Seiten zu lesen, bis seine Frau endlich das Zimmer betreten würde.

Die leisen, regelmässigen Atemzüge waren der einzige Laut, der in den frühen Morgenstunden in einem der Zimmer zu hören war. Das Mondlicht zeichnete in der Dunkelheit ganz schwach die Konturen der Möbel nach. Die Kraft des Mondes reichte gerade aus, um einige Grautöne aus der Schwärze der Nacht herauszuarbeiten, aber weder für Farben noch für Wärme. Es war ein kaltes Licht. So kalt wie das Innere der Gestalt, die im Bett lag, kalt und grau.

1964

Wie immer hatte er nach der Schule die Hausaufgaben erledigt und war dann zu Schorsch in den Stall gegangen. Er half dem Alten jeweils, die Kühe zu versorgen, und oft erledigte er allerhand weitere Arbeiten. Der Alte war froh über seine Gesellschaft und seine Arbeitskraft und verdankte ihm seine Unterstützung häufig mit einem Abendessen.

So auch an diesem Tag. Johanngeorg schaute daheim kurz in der Gaststube vorbei, um seiner Mutter gute Nacht zu sagen, doch sie war nicht da. Sie sei mit dem Chef ins Tal gefahren, um Besorgungen zu machen, und noch nicht zurück, sagte die Chefin. Das war nicht aussergewöhnlich, und Johanngeorg ging hinauf in sein Zimmer.

Als er am nächsten Tag aufstand, war das Bett seiner Mutter leer. Er wusste sofort, dass eine Katastrophe über ihn hereingebrochen war. Die Welt schien stillzustehen, alle Geräusche verstummt.

Die Wirtin überbrachte ihm die schreckliche Nachricht. Seine Mutter sei gestern unten im Ort von einem besoffenen Autolenker angefahren worden. Der Wirt sei mit ihr ins Spital nach Schiers gefahren und habe einige bange Stunden in den Gängen der Klinik verbracht. Er habe inniger gebetet als je in seinem ganzen Leben, doch Gott erhörte ihn nicht. In der Nacht hätten ihn die Ärzte von ihrem Tod unterrichtet.

Johanngeorg starb ebenfalls. Er stürmte aus dem Haus und rannte den Berg hinauf, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach. Er krümmte sich vor Schmerz, weinte, übergab sich, schrie. Irgendwann schlief er ein vor Erschöpfung.

Im Morgengrauen ging er zu den Kühen in Schorschs Stall. Dieser fand ihn, als er mit dem Melken beginnen wollte. Er versuchte, den Jungen zu trösten, redete mit ihm, doch Johanngeorg war erstarrt. Er sprach nicht, weinte nicht, reagierte nicht. Sein Körper funktionierte, doch er war unerreichbar.

In den kommenden Wochen beriet man im Dorf, was mit ihm geschehen sollte. Die Wirtsleute waren nicht erpicht darauf, einen Esser mehr am Tisch zu haben, sie sorgten bereits für zwei ledige Onkel, die bei ihnen lebten. In der Familie von Joggel, seinem leiblichen Vater, gab es ebenfalls keinen Platz für ihn. Vorübergehend lebte er bei Schorsch, doch auf die Länge ging das nicht, Schorsch war zu alt, um sich um ihn kümmern zu können.

Schliesslich bahnte sich eine Lösung mit einem kinderlosen Paar in einem der Nachbardörfer an. Die Eheleute nahmen Johanngeorg auf und bemühten sich, ihm ein neues Daheim zu geben. Ein unmögliches Unterfangen. Wie konnten diese beiden schweigsamen Leute, die ihn niemals an sich drückten und nur selten mit ihm lachten, seine fröhliche, herzliche, lebensprühende Mutter ersetzen?

Als Johanngeorg nach drei Monaten immer noch kein Wort gesprochen hatte, begannen die Eheleute zu resignieren. Sie liessen ihn weiterhin bei sich wohnen und begegneten ihm mit Wohlwollen, doch die Hoffnung, dass er den Platz eines eigenen Kindes einnehmen könnte, gaben sie auf.

2014

Sonntag

Als er erwachte, konnte er weder den CDs noch den Musiknoten, nicht einmal den Süssigkeiten etwas Positives abgewinnen. Der unberührte Teil des Doppelbetts trieb ihn aus dem Bett. Wenn er liegen bliebe, würde er womöglich einmal mehr ausrechnen, wie viele Nächte seine Frau nun schon weg war. Viel lieber würde er zählen, wie viele Male er noch schlafen musste, bis sie zurückkam. So wie früher, als seine Mutter mit ihm die Nächte gezählt hatte, wenn er kaum mehr warten konnte, bis der Samiklaus kam, bis er aufs Maiensäss mitgehen durfte oder bis der Zirkus im Dorf Halt machte. Sidonia hatte jedoch ihre Rückkehr immer wieder hinausgeschoben, ihren Aufenthalt in Moldawien zunächst um eine Woche, dann um eine weitere Woche verlängert. Jetzt machte sie keine Zeitangaben mehr, sie sprach nur noch unbestimmt von «bald» oder «demnächst» oder «nicht mehr lange». Es dauerte jedoch schon viel zu lange, fand Walter Buess.

Er zog sich rasch an und ging hinaus zum Hühnerstall. Anstatt seiner Frau erzählte er den Hühnern, wie sehr ihn die Einsamkeit in seinem Haus bedrückte. Die eine oder andere Henne schaute ihn aufmerksam an, doch keine liess sich lange davon ablenken, in der Erde zu scharren und Körner aufzupicken.

Zusammen mit der Katze setzte er sich vors Haus und stellte Vermutungen an, was Sidonia wohl gerade machte. Die Katze schnurrte zufrieden auf seinen Knien, beteiligte sich jedoch nicht am Gespräch.

Als er zum Zaun ging, kamen die Rinder, die auf der angrenzenden Weide herumtollten, um ihn zu begrüssen. Sie hörten geduldig zu, als er ihnen schilderte, er brauche seine Frau, die Kinder in Moldawien seien nicht die einzigen, die sie nötig hätten. Er kam sich vor wie ein quengelnder Junge, als er seinen eigenen Worten zuhörte.

Während er Grünzeug für seine Kaninchen sammelte, ärgerte er sich über sich selbst, weil es an einem so sonnigen Tag doch keinen Grund zu jammern gab und ihn trotzdem der Trübsinn quälte. Schweigend reichte er ihnen die saftigen Blätter, die im Nu in den hungrigen Mäulern verschwanden.

Als er bei Sidonias Enten Stroh nachlegte und ein frisches Ei fand, freute ihn nicht einmal das. Vielmehr wurde sein leiser Ärger zum Groll, der sich gegen seine Frau richtete. Sie sollte heim kommen, hier zum Rechten schauen und für ihn da sein, so wie er für sie da wäre, Herrgottsternensiechnochmal! Jetzt, genau jetzt, müsste er mit jemandem reden können, aber hier in Oberurmein wohnte ja kaum wer. Wieso hatte er bloss dieser Idee zugestimmt, den dauernden Wohnsitz in ein Feriendorf zu verlegen, das war doch ein himmelschreiender Unsinn! Geschlossene Fensterläden, aufgestapelte Gartenmöbel, verlassene Spielgeräte anstelle von Leuten, Leben, Lachen.

Er packte seine Jacke und ging los, bergauf, ohne Ziel, aber so zügig, dass sich seine miese Laune in Schweiss auflösen würde. Das hoffte er zumindest.

Nach einer Stunde hatte er Kälber, Rinder, Kühe, Schweine, einen Hasen, zwei Schneehühner, einige Schmetterlinge und einen Frosch gesehen, aber keinen Menschen. Er hatte zahlreiche Vögel und einige Murmeltiere gehört, aber keine Männer, Frauen, Kinder. Was ja auch kein Wunder war, musste er sich eingestehen. Wer auf achtzehnhundert Metern Höhe abseits des Weges Alpweiden durchquerte, konnte wohl kaum damit rechnen, eine Menschenmenge anzutreffen wie in Chur auf dem Postplatz.

Buess richtete seinen Blick auf die steile Wand des Piz Beverin. Dunkel und mächtig ragte der Koloss aus anthrazitfarbenem Bündnerschiefer vor ihm auf. Der Anblick der beinahe senkrechten Felsen und der mit zartem Grün überhauchten Schutthalden liess ihn innehalten. Wie so oft nahm ihm der Berg für einen Augenblick den Atem. Er setzte sein eigenes Leben in Beziehung zu den Jahrmillionen, die der Beverin schon hinter sich hatte, und fühlte sich so unbedeutend wie ein Windhauch über einer Blumenwiese. Seine melancholischen Gedanken erschienen ihm kleinkariert und bedeutungslos angesichts des überwältigenden Felsgebildes vor ihm. Der Anblick wirkte auf Buess befreiend, der Druck auf seiner Brust wurde im Angesicht des Berges etwas leichter. Seine Sehnsucht und seine Wut machten einer trüben Melancholie Platz.

Er setzte sich ins Gras und zupfte bedächtig die Blätter von einem Alpenrosenzweig. Er versuchte, sich den Postplatz in Chur vorzustellen. Eine Menschenmenge, die sich wie Schlamm über die Strasse wälzte, sobald das Lichtsignal auf grün schaltete. Er selber mittendrin, eingeklemmt zwischen gackernden Teenagern, dicken Frauen, stinkenden Männern, Hunden, Kinderwagen und Rollatoren. Gott behüte.

Er ignorierte geflissentlich, dass er selbst nach Schweiss stank, und marschierte zielstrebig weiter. Er wollte zum Morgenkaffee auf den Glaspass. Und zu einem Nussgipfel.

Emanuele Santacaterina drückte energisch seine Zigarette im Aschenbecher aus, der auf der Terrasse des Gasthauses in Glas stand, und betrat das Restaurant. Nur das Paar aus Österreich sass an einem Tisch, die anderen Gäste schienen bereits unterwegs zu sein an diesem sonnigen Tag. Er setzte sich ans Fenster und trommelte nervös mit den Fingern auf die hölzerne Tischplatte. Da er keine bequeme Sitzposition fand, rutschte er auf der Bank hin und her. Dabei verschob sich das Kissen, das er ungeduldig wieder zurechtzupfte. Dann liess er sein rechtes Bein erzittern, sein Knie hüpfte auf und ab, bis er sich daran erinnerte, dass das seine verstorbene Frau jeweils in den Wahnsinn getrieben hatte. Daraufhin schlug er die Beine übereinander und zeichnete mit dem Fuss Muster in der Luft. Porca miseria, er könnte bereits wieder eine Zigarette vertragen.

«Hast du Ärger?», begrüsste ihn Frank, der Wirt.

Emanuele brummte etwas von «verdammten Weibern» und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel.

«Ach ja, die Frauen, mit denen ist es so eine Sache», meinte Frank mitfühlend und setzte sich an den Tisch. «Welche ist es denn?»

«Meine Schwiegertochter, natürlich. Diese … diese …»

Zicke? Kuh? Henne? Frank hätte ihm gerne bei der Suche nach einem passenden Substantiv geholfen, aber der augenfällig hohe Blutdruck des Gastes mahnte ihn zur Vorsicht.

«… sollte man einmal richtig versohlen! Das hat schon ihr Vater verpasst vor dreissig Jahren, jetzt ist es zu spät, aber schaden würde es ihr nicht. So eine … eine …»

Schnepfe? Zwetschge? Gritte?

«… macht die ganze Familie kaputt. Wenn die Kinder gut herauskommen, dann trotz dieser Mutter, nicht wegen dieser Mutter. Eher werden die einmal einen Knacks haben, einen Tick, so» – er zwinkerte ein paar Mal mit dem linken Auge und verzog dabei das Gesicht – «oder so» – jetzt streckte er die Zunge aus dem rechten Mundwinkel, legte den Kopf schief und liess den rechten Arm unkontrolliert zucken. «Mussen sie ja so kommen, können sie gar nickt normale bleibe die nächste zehn Jahr, iste nicht möglick. Und meine Sohn, dieses Weichei, wehrt er sich nicht, schaut zu, sagt nicks, mackt nur so» – er hob mit weit aufgerissenen Augen ratlos die Schultern – «oder so» – es folgte eine wegwerfende Geste.

Frank stellte fest, dass sich die Gesichtsfarbe seines Gastes allmählich ins Ungesunde wandelte und der italienische Akzent immer ausgeprägter wurde. Es wurde Zeit zu intervenieren. «Vielleicht kann sie ja gut kochen», wandte er ein.

«Kochen? Die? Salat aus dem Plastiksack, weil sie zu faul ist, um im Garten …»

«Oder vielleicht haben sie es lustig, wenn sie zusammen sind», wagte er einen neuen Versuch.

«Lustig? Die? Sie schimpft über die Nachbarn, schimpft über die anderen Kinder, schimpft über die Lehrer, schimpft über …»

«Oder sie ist hübsch!»

«übsch, übsch! Davon hat er nicht gegessen. War sie schon übsch, ja, früher, aber jetzt iste sie nickt mehr, at sie Runzeln, iste sie fett, kommte daher wie …»

«Dann ist sie bestimmt eine Wucht im Bett!»

Dazu wusste Emanuele tatsächlich nichts zu sagen.

«Jetzt hole ich dir einen Kaffee», sagte Frank lachend, klopfte ihm auf die Schulter und erhob sich.

Wenig später setzte sich Walter Buess an seinen Platz.

Emanuele Santacaterina verzog angewidert das Gesicht. «Puh, du stinkst vielleicht nach Schweiss», rief er. «Bist du heraufgerannt, oder was?»

«Ich setze mich da drüben hin, wenn es dir nicht passt», erwiderte Buess missmutig und machte Anstalten, sich zu erheben.

«Jetzt sei doch nicht so empfindlich! Man wird ja wohl noch etwas sagen dürfen.»

«Ja, guten Morgen zum Beispiel, bevor man herumstänkert!»

«Porca puttana, was ist denn mit dir passiert? Krach mit deiner Frau? Ach nein, geht ja nicht, die ist ja im Ausland. Krach mit den Nachbarn? Ach nein, geht ja nicht, hast du ja keine. Also, was ist los?»

«Lass mich in Ruhe, ich sitze an einen anderen Tisch.» Buess griff nach seiner Jacke und stand auf.

«Jetzt hör bloss auf und bleib sitzen!» Emanuele packte ihn am Arm und zog ihn zurück auf die Bank. «Da, schau, es hat noch Nussgipfel», sagte er versöhnlich und reichte Buess den Korb. Dieser gab sich geschlagen und griff hinein.

Santacaterina atmete erleichtert auf – was ihn wieder zum Ausgangspunkt des Zanks brachte. «Du riechst aber wirklich nach Schweiss.»

Diesmal liess ihm Buess die Bemerkung mit einem Brummen durchgehen.

Georg Steingruber bekam nichts von alldem mit. Er sass zwei Tische weiter in der Gaststube und hatte nur Augen für seine Frau. Wie jeden Morgen war sie kaum ansprechbar. In der ersten Stunde funktionierte zwar ihr Körper, sie konnte sogar denken, aber auf keinen Fall sprechen.

Ihm gefiel ihr regungsloses Gesicht in den Morgenstunden. Bestimmt hatte sie noch nicht wahrgenommen, dass die Sonne schien, und die leckeren Speisen auf dem Frühstückstisch schätzte sie auch nicht. Sie griff mechanisch nach einer Scheibe Brot, die sie einen halben Zentimeter dick mit Butter bestrich. Dazu trank sie Unmengen stark gesüssten, schwarzen Kaffee.

Eine leichte Röte überzog seine Wangen, als er an den gestrigen Abend dachte. Mein Gott, was war er nur für ein Depp, so führte sich doch kein erwachsener Mann auf. Peinlich, es gab kein passenderes Wort dafür. Peinlich. Pein hatte er tatsächlich verspürt, bevor es zu der schrecklichen Szene kam, vor allem aber danach. Erst Stunden später, als er sich in der Stille der Nacht den Tatsachen stellte und die Vorfälle mit etwas mehr Verstand betrachtete, konnte er sie richtig einordnen. Sein Schmerz wandelte sich in Wut, die sich gegen Dieter Falk richtete. Und gegen sich selbst, weil er sich hatte provozieren lassen wie ein Teenager.

Dann hatte er geschlafen wie ein Murmeltier und war mit einem Gefühl der Erleichterung erwacht. Als hätte sich ein Steinblock aus seiner Brust gelöst. Einzig das Gewicht der Peinlichkeit lastete noch auf ihm. Es würde nach einer weiteren Nacht weichen, das wusste er. Für den angebrochenen Tag musste er es bewusst in den Hintergrund drängen. Er hatte keineswegs die Absicht, sich von einem verabscheuungswürdigen Gast, den er kaum kannte, den Tag verderben zu lassen.

Er betrachtete nachdenklich das Dreiminuten-Ei, das in einem bunten Eierbecher vor ihm stand. Ein Schmunzeln schlich sich in seine Mundwinkel, als er zum Löffel griff. Er stellte sich vor, das Ei sei der Kopf von Dieter Falk, der sich ihm aus dem farbenfrohen Untersatz in mattem Hellbraun entgegenwölbte.

Er enthauptete es mit schnellem, gezieltem Schlag.

Pulit begann den Sonntag mit dem Ritual, das sich jeden Sonntag wiederholte. Er putzte nicht Häuser, Treppen oder Vorplätze, er reinigte sich selbst.

Wie jeden Morgen erwachte er bei Tagesanbruch. Seine Hühner und die Vögel draussen weckten ihn verlässlich. Bald würden sich die Geräusche der Tiere dazu gesellen, die nicht mehr so tief schliefen wie in den dunkelsten Stunden der Nacht. Die Kühe würden sich regen, was einzelne Glocken zum Klingen bringen würde. Der eine oder andere Hund würde leise winseln im Schlaf, und manchmal war das Rascheln einer Maus zu hören.

Nach dem Erwachen blieb er regungslos liegen, mit geschlossenen Augen. Er musste zuerst die Geräusche einordnen. Erst wenn er sicher war, dass sich über Nacht nichts verändert hatte, war er bereit, sich dem neuen Tag zu stellen. Heute fand er sich schnell zurecht. Die Geräusche waren ihm vertraut, er hörte alles, was zu hören sein musste, und nichts weiter.

Er stieg aus dem alten Militärschlafsack, den er auf dem noch viel älteren Sofa ausgebreitet hatte, und öffnete das Fenster und die Fensterläden. Obwohl er nach einer Wolke Ausschau hielt, sah er keine. Der Himmel war sauber wie eine hellblaue Porzellanschüssel. Er breitete den Schlafsack zum Auslüften auf dem Fenstersims aus.

In seinem winzigen Wohn- und Schlafraum fanden ausser dem Schlafsofa ein Tisch, eine Eckbank, ein Schrank und einige Wandregale Platz. Der Rest des Raums wurde von einem Holzofen eingenommen, den er seit einiger Zeit schon wieder benutzen musste. Die Tage wurden kürzer, die Nächte bereits empfindlich kalt. Die Decke war zu niedrig für eine Hängelampe, stattdessen erhellte er den Raum mit einigen Tischlampen, die verteilt in der Stube standen.

Kein einziges Bild hing an den Wänden. Die Wände in seinem Haus waren für ihn Bilder genug. Monatelang hatte er gearbeitet, um aus der verfallenen Hütte ein bewohnbares Häuschen zu machen. Bewohnbar für ihn, dessen Ansprüche sich in einem Dach, dichten Wänden und einem funktionierenden Ofen erschöpften. Während der ersten Jahre hatte er das Wasser am Brunnen vor dem Haus geholt und das Plumpsklo in einem separaten Holzverschlag benutzt. Unermüdlich hatte er an seiner Unterkunft gearbeitet, ohne Eile, aber auch ohne Unterbruch. Nie sah er einen Baumarkt von innen. Er verwendete das Material, das vorhanden war oder auf das er auf seinen langen Wanderungen am Heinzenberg oder im Safiental stiess. Die Wände isolierte er mit Zeitungen, Stoff, trockenem Mist, Stroh und Wolle. Um den ganzen Raum zu täfeln, fand er nicht genug Holz. Deshalb befestigte er die Latten mit Abständen, die er auf unterschiedliche Weise ausfüllte. An einer Wand spannten sich auseinander geschnittene Papiertaschen über die Zwischenräume. Die bunten Sujets von Coop und Migros zeigten ihm täglich den ganzen Jahresablauf im Zeitraffer: Weihnachten, Ostern, Gemüseernte, Obsternte. Zwei Wände hatte er mit Wachstischdecken verkleidet. Er hatte sie in Bahnen geschnitten und mit Täferbrettern befestigt. Diese beiden Wände waren längsgestreift, die einzelnen Streifen waren geblümt, kariert, getüpfelt oder unifarben. Für die vierte Wand hatte er genügend Täfer. Sie war als einzige fachgerecht verkleidet, und obwohl er durchaus Stolz empfand auf seine Arbeit, gefiel sie ihm am wenigsten. Er wusste, dass die Tage seiner bunten Wandbezüge gezählt waren. Sollte je einer vom Brandschutz über seine Schwelle treten, würde er sie umgehend ersetzen müssen. Pulit wusste um die Gefahr, die seine leicht brennbaren Tapeten darstellten, und liess im Umgang mit Feuer grosse Vorsicht walten.

Den nackten Steinboden hatte er mit einigen Schichten Holz, Teppichresten und Linoleum belegt, um gegen die Kälte zu isolieren. Dadurch war der Raum deutlich weniger als zwei Meter hoch. Da Pulit selber kaum einssiebzig gross war, bereitete ihm das keine Sorgen.

Pulit betrat den winzigen Nebenraum. Ein kleiner Holzherd und eine elektrische Heizplatte bildeten mit zwei Hängeschränkchen und einigen Wandregalen seine Kücheneinrichtung. Daneben ein grosser Waschtrog, auf dem Boden ein Blechzuber, darüber ein kleiner Boiler. Eine niedrige Tür, die ihn zum Einziehen des Kopfes zwang, führte in einen Raum in der Grösse eines Wandschranks, der von der Küche abgetrennt war. Dort befand sich seit vielen Jahren ein richtiges Wasserklosett. Darauf hatte die Gemeindebehörde von Tschappina bestanden, als der Weiler Glas ans Abwassersystem angeschlossen wurde.

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