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5. Mann und Frau

Für alle Bewohner, die nach dem Ende der vergangenen Wintersaison nicht in die Wärme verreist sind, bleibt der Vorfrühling in den Bergen eine öde Zeit. Die Wiesen zeigen sich gelbbraun, an einigen Orten liegen noch Schneereste, das Wetter ist launisch. Die halbe Talschaft ist im Urlaub, viele Restaurants, Bäckereien, Metzgereien, Sportgeschäfte sind geschlossen.

Auf dem weiten Platz vor der Kirche Surain stehen einige Autos. Auch vor dem Gemeindehaus, wo am Sonntag geparkt werden darf, befinden sich zwei Fahrzeuge. Es hat sich herumgesprochen, dass die Pfarrerin heute im Gottesdienst mit dem ersten Teil ihrer Beziehungsserie beginnt.

Nach der Begrüßung, einem Gebet und einem Lied spricht Irene Weingard über Partnerschaft und Ehe.

„Natürlich ist dieses Thema so vielschichtig, dass eine Predigt allein zu wenig Raum und Zeit bietet. Im Sommer werden Sie die Möglichkeit haben, sich an drei Abenden ausführlich darüber zu informieren. Und es wird nicht nur ‚Frontalunterricht’ sein, es gibt auch kleine Workshops, um untereinander sprechen zu können. Keine Angst, niemand wird in eine Schamsituation kommen. Der Titel zur Serie: Liebe, Partnerschaft, Ehestreit.

Nun aber mitten in die Probleme. Ich erzähle euch eine erste wahre Geschichte von einem Paar, das seit 18 Jahren verheiratet ist.

Die Frau erzählt: wieder ein Abend, an dem wir uns nicht verstehen, aneinander vorbeisprechen und uns anklagen. Wir sind wütend aufeinander, verletzt, schreien uns an. Am nächsten Morgen beschließen wir, dass wir unsere Ehe beenden wollen. Obwohl wir schon an etlichen Beratungen teilgenommen haben, fühlen wir beide, dass unsere Ehe rettungslos zerstört ist.

Soweit die Frau dieses Paares.

Jetzt eine zweite wahre Geschichte. Diesmal berichtet der Mann: Seit vielen Jahren sind wir verheiratet. Letzte Woche war so ein Abend, an dem wir wie aus heiterem Himmel aneinandergeraten sind. Sie warf mir vor, dass ich sie bewusst kränke und wütend mache und sie mir nicht glaube, dass ich sie je geliebt habe. Ich war verzweifelt und ärgerte mich über meine Unfähigkeit, angemessen zu reagieren und ruhig mit meiner Frau zu sprechen.

Dies ist die Sichtweise des Mannes.

Was läuft hier schief? Was läuft in jeder zweiten Beziehung schief? Haben sich die beiden vor Jahren geliebt, und mit der Zeit ist die Liebe erloschen? Wer ist schuld an diesem Streit?

Wie oft hörte ich in Beratungsgesprächen diese Aussagen: Solche Worte habe ich nicht verdient. Du provozierst wieder einen Streit. Ich wünschte, du würdest endlich deinen Mund halten. Oder: wenn mein Mann nur reif genug wäre …

Wie kommt es, dass viele dieser Frauen denken oder sogar aussprechen: ,Du bist nicht derjenige, den ich glaubte, geheiratet zu haben.‘

Und wie läuft es beim Mann? Ein Mann ist guten Willens und wird von seiner Frau beschimpft. Dann will er nicht mit Worten oder Taten gegen sie kämpfen. Häufig ist die Reaktion des Mannes, dass er schweigt. Er macht dicht und geht. Dabei kann er kaum glauben, dass seine Frau ihn so respektlos behandelt. Er empfindet es als pure Verachtung.

So dreht sich der Teufelskreis weiter. Wenn es einem Paar nach einem Streit nicht gelingt, wieder eine Herzensverbindung aufzunehmen, wachsen Groll, Frustration und Zorn unaufhaltsam. Unternehmen sie nun nichts, öffnet sich ein Abgrund, der ihnen jegliche Vision für ihre Gemeinsamkeit nimmt.

In unserer Abendserie im Sommer werde ich tiefer eingehen auf diese Thematik.

Schon der Religionsphilosoph Martin Buber sagte: ,Der Mensch wird am Du zum Ich.‘

Doch Sie müssen nicht bis zum Sommer warten. In vierzehn Tagen erfahren wir von einem möglichen Weg für die vorhin geschilderten Beziehungsprobleme.

Nach dem Orgelspiel, das heute von Sibylle Caduff mit der Querflöte begleitet wird, lese ich den Text zur heutigen Predigt. Es ist die bekannte Stelle aus Johannes 4. 1-19.“

Irene Weingard spürt ihr Publikum, sie erkennt an der Stille im Raum und den aufmerksamen Blicken, dass ihr Thema hier Anklang findet. Und sie freut sich darüber. Einmal mehr geht ihr der Satz von Rilke durch den Kopf:

„Vergessen Sie nie, das Leben ist eine Herrlichkeit.“

Während der Predigt lehnt sich Stefan in der Kirchenbank zurück. Ihm ist die Stelle aus dem Neuen Testament bekannt. Er erinnert sich an die Geschichte der Frau aus Samarien:

Jesus zieht mit seinen Jüngern nach Galiläa und trifft unterwegs auf die Frau, die um die Mittagszeit an einem Brunnen Wasser schöpft. Zu ihr spricht Jesus: „Zu Recht hast du gesagt, einen Mann habe ich nicht. Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“ Jesus handelt hier nicht moralisch, er ist viel größer, er ist heilig und handelt in seiner Heiligkeit.

Während die Pfarrerin den Kontext der Geschichte ausleuchtet und erläutert, schweifen Stefans Gedanken ab in die Südschweiz. Dort, im Maggiatal, oberhalb des Hauptortes, befindet sich auf dem Weg zum Val del Salto eine kleine Wegkapelle mit einem schönen Gemälde dieser Bibelstelle. Nach dem Musikstück und den Mitteilungen bittet die Pfarrerin die Gemeinde, für den Schlusssegen aufzustehen. Zum Ausgangsspiel der Orgel setzen sich alle nochmals in die Bänke und werden von den kräftigen Tönen mitgerissen.

Wenige Minuten nach dem Ende der Musik öffnet sich die Kirchentüre und die Besucher treten auf den Dorfplatz. Viele bleiben zum Kirchenkaffee im Haus nebenan. Stefan macht sich nachdenklich auf den Heimweg. Von Martina hat er sich nie verachtet gefühlt. Was genau hat in ihm immer wieder diese Wut ausgelöst? Er steigt in seinen Subaru und fährt hinunter nach Scuol.

6. Musik, die berührt

Im unteren Dorfteil von Scuol, da, wo die Engadiner-Häuser noch eng beieinander stehen, grüne Gärtchen den Freiraum vergrößern und aus den Brunnen mineralhaltiges Wasser in die steinernen Tröge fließen, hier ist Stefan zu Hause.

Er sitzt in seinem Sessel, auf dem Tisch ein Glas Tee mit selbst gepflückten Kräutern. Stefan blättert das neuste „Allegra“ durch, ein regionales Informations- und Veranstaltungsmagazin. Zwischen den Deckeln des matten Quadrats alle aktuellen Informationen, eingebettet in viel Werbung, die meist professionell, doch zum Teil auch hausbacken wirkt.

Der Vorsitzende einer Bank im Engadin titelt: „Ich lebe und arbeite gerne hier“.

Die Botanikerin mit dem Kürzel C.C. bietet mit ihrer Kollegin botanische Exkursionen an.

„Balance für Haut und Seele“: Naturkosmetik, Gesundheitsberatung und Massagen bei Monika.

Erläuterungen eines Mediziners vom Regionalspital zur integrativen Medizin.

Hinten in der Broschüre die Agenda mit den vielen Veranstaltungen. Duo classico mit der Engadiner Geigerin Flurina Sarott und dem preisgekrönten Pianisten Yusuke Takamatsu mit barocken und romantischen Werken. Im letzten Jahr, kurz nach meinem Umzug hierher, habe ich diese Musiker gehört, ja erlebt. War das gut, denkt Stefan. Wann und wo? Am Freitag in der Kirche von Surain.

Und hier wieder ein Konzert, das ich gerne hören würde: ein italienisches Trio mit südamerikanischer Musik. Nächste Woche, ebenfalls in Surain, in der Grotta da Cultura.

Am Freitagabend fährt Stefan hinauf nach Surain und durch die schmalen Straßen auf den Dorfplatz vor die Kirche. Das Konzert beginnt erst in einer halben Stunde, trotzdem warten schon zahlreiche Menschen an der Abendkasse. Stefan kauft ein Ticket und setzt sich auf die linke Seite in der Kirche, nahe dem Mittelgang, sodass er gute Sicht nach vorn hat. Er betrachtet das Programm: die c-Moll Sonate von Edvard Grieg, Salut d’Amour von Edward Elgar und die Sonate Nr. 3 in E-Dur von Johann Sebastian Bach. Obwohl er die Musik von Bach gut kennt und liebt und zu Hause immer wieder hört, kennt er dieses Stück nicht. Er streckt seine Beine und versucht, sich so hinzusetzen, dass die hölzerne Lehne nicht am Rücken drückt. Seine Augen wandern zur Decke. Sind die Risse neben der Kanzel und über dem Chor an der Decke größer geworden?

Plötzlich stutzt er. Die Frau zwei Reihen vor ihm, auf der anderen Seite des Kirchenschiffes, sieht die nicht aus wie die Wandrerin, die er letzte Woche mitgenommen hat? Doch heute trägt sie keine türkisfarbene Pelerine, sondern einen hellbraunen Mantel, den sie sich über die Knie gelegt hat.

In der Kirche wird es still, die beiden Musiker treten auf, das Konzert beginnt.

Als er die Frau zum Bahnhof nach Scuol gebracht hat, haben sie während der Fahrt kaum gesprochen. Im Grunde weiß er nichts von ihr, nur, dass sie gerne in der Natur ist und Interesse an Kunst hat.

Nach einem kurzen Applaus setzen die Musiker zum nächsten Stück an: Salut d’Amour, die Liebesgrüße, die Elgar 1888 seiner Verlobten Caroline widmete. Stefan lehnt sich zurück.

Seraina rutscht ein wenig hin und her. Warum sind Kirchenbänke immer so hart und unbequem?

Na ja, genau genommen sitze ich selten in der Kirche. Eigentlich schade. Die Akustik ist toll und der Raum strahlt Ruhe und Geborgenheit aus. Ich sollte öfters hierherkommen, wenn mir in meiner kleinen Wohnung die Decke auf den Kopf fällt. In den vergangenen Wochen habe ich mich rasch eingelebt in diesem pittoresken Engadinerdorf mit den freundlichen Bewohnern. Die Bäckerin darf ich bereits als Freundin bezeichnen. Sie hat mich mit einigen sympathischen Menschen bekannt gemacht. Es ist nicht einfach gewesen, weg vom Bodensee zurück in die Enge der Berge zu kommen, obwohl ich hier in der Nähe aufgewachsen bin. Doch im Engadin lebt es sich ganz anders als am See in der Nähe zu Österreich und Deutschland mit dem großen kulturellen Angebot.

Im Sommer und im Winter ist es toll hier, aber von März bis in den Mai ist es eher trübe. Besonders während den vergangenen Regentagen haben mich die eigenen vier Wände beinahe erdrückt. Auf den Wanderungen in der Umgebung und im Nationalpark konnte ich wenigstens durchatmen. Dennoch weiß ich nicht, zu wem ich gehöre. Adi schweigt und schmollt, das ist mir eigentlich egal. Die Zeit mit ihm ist vorbei. Nicolina, meine Freundin aus der Schulzeit, hat mehrmals angerufen. Sie ist eine wichtige und vielbeschäftigte Chefsekretärin. Gleichwohl hat sie sich viel mehr Zeit für mich genommen als in den letzten Jahren. So lieb! Eine richtige To-do-Liste hat sie mir gemacht, worauf ich nun als Single achten muss. Nicht nur, dass ich mich zwar frei treffen darf, mit wem ich will, und trotzdem nicht sofort in die nächste Beziehung schlittern soll. Auch die finanziellen Aspekte, wie ich mich besser versichern kann und worauf ich bei der Ferienplanung als Alleinreisende achten soll. Die Fürsorge von Nicolina lässt mich staunen. Ich habe sie oft als ziemlich egoistisch und selbstzentriert wahrgenommen.

Der Applaus der Zuhörer erfüllt den Raum und katapultiert Seraina aus ihren Gedanken zurück in die Kirche. Die „Liebesgrüße“ sind verklungen, zum Abschluss spielen die Musiker eine Sonate von Bach.

Doch was soll dieser Brief von Robert? So vorwurfsvoll! Ich soll öfters zurück an den Bodensee kommen. Er will mich noch häufiger auch privat treffen. War es richtig, dass ich damals nach der Trennung zweimal eine Einladung zum Essen bei ihm angenommen habe? Es war eine Geste der Dankbarkeit von ihm, er wollte mich trösten und mir Mut machen. Aber jetzt fordert er mehr Aufmerksamkeit. Wie komme ich bei ihm zurück zu einem Patienten-Verhältnis? Ist das noch möglich?

Dieses Musikstück klingt anders als die vorangehenden. Seraina lässt die anstrengenden Gedanken los und konzentriert sich auf die Musik. Sie hat schon lange keine klassische Musik mehr gehört. Ihr Bruder hat früher Geige gespielt, und mit der Mutter hat sie Konzerte besucht. Wie viele Jahre ist das her? Solche Musiker hat sie jedoch noch nie gehört! Sie drücken eine Leidenschaft und Tiefe aus, die sie manchmal beim Malen verspürt. Die Klänge berühren ihr Herz. Wo führt ihr Leben hin?

Im dritten Satz beginnt die Geige mit einer außergewöhnlichen Triolenmelodie, die sie nach ein paar Takten an das Piano abgibt. In immer neuen Variationen entsteht ein inniger Zwiegesang.

Dann wird das Finale vorbereitet, das man sich brillanter kaum vorstellen kann.

Auch die Frau auf der anderen Seite sitzt nicht mehr ruhig und bewegt ihren Körper im Takt. Stefan beobachtet sie und sieht ihre hohen Wangenknochen und die schmale Nase. Ja, es ist die Frau, die er in seinem Auto mitgenommen hat. Die letzten Töne verklingen, der Applaus füllt die Kirche. Stefan ist mit seinen Gedanken woanders. Er möchte im Kirchengang mit dieser Frau zusammentreffen. Wenn er den Besuchern aus der nächsten Bank den Vortritt lässt und erst dann losgeht, wenn sie in den Mittelgang kommt, sollte das klappen.

„Guten Abend“, begrüßt Stefan die erst flüchtig Bekannte.

„Ah, guten Abend, welcher Zufall!“

Beim Hinausgehen sprechen sie über die Musik des Abends.

„Haben Sie wieder einen weiten Heimweg?“, fragt Stefan.

„Nein, ich wohne hier in Surain und komme gut nach Hause. Doch wenn es so weitergeht, werden wir uns bestimmt wiedertreffen.“

„Ja, das mag sein. Ich bin in Scuol zu Hause. Übrigens, mein Name ist Stefan.“

„Freut mich, ich bin Seraina. Gute Nacht, Stefan!“

„Gute Nacht, Seraina!“

Längst ist Mitternacht vorüber, Stefan wälzt sich im Bett auf die andere Seite und zuckt mit den Beinen. Über seine Lippen kommen Geräusche, kurze Schreie.

Mit einem Arm schlägt er um sich und schreit: „Rolf, lass mich, lass mich los!“

Ruckartig setzt sich Stefan auf, wischt sich durch die Haare und verlässt das Bett.

Er setzt sich im Dunkeln auf seinen Freischwinger. Hastig streicht er sich über sein Gesicht. Was habe ich geträumt? Als es vom nahen Kirchturm dreimal läutet, legt sich Stefan wieder ins Bett. Neulich fragte ein Kollege vom Nationalparkzentrum, ob er einmal am Spielabend dabei sein möchte. Dann könne er sicherlich besser schlafen. Doch er mag keine Spiele, zumindest nicht solche, die man am Stubentisch auf einem Brett oder mit Karten spielt. Er verscheucht diese Gedanken, und augenblicklich kommen ihm die letzten Worte von Seraina in den Sinn: „Gute Nacht, Stefan, gute Nacht, Stefan, gute Nacht, Stefan.“

7. Eine unangenehme Begegnung

Am nächsten Morgen nimmt Stefan in Ardez an einer Abklärung teil über die Biodiversität der dortigen Wiesen. Bei der Burg Steinsberg entdeckt er den österreichischen Drachenkopf. Diese seltene Pflanze kommt sonst nur noch im Wallis vor. Am Nachmittag wandert er über die Terrassenlandschaft oberhalb von Ramosch.

Hier hat Stefan im letzten Sommer den Baumweißling getroffen, ein filigraner Schmetterling. Das stark gefährdete Braunkehlchen kann man ebenfalls antreffen. Doch jetzt, Ende Mai, ist es noch zu früh.

In der Bäckerei besorgt sich Stefan eine köstliche Spezialität. Am Wochenende wird er seinen jüngeren Sohn treffen. Bei der Terminvereinbarung am Telefon hat dieser gefragt, ob er ihm eine Schachtel von den feinen Schokoköpfen mitbringen könnte.

Nun setzt er sich in sein Auto und fährt langsam rückwärts aus dem Parkfeld.

„Willst du mich überfahren? Hey, kannst du nicht aufpassen, Steff?“

Stefan tritt auf die Bremse und schaut auf die andere Wagenseite: Carlo, ein Arbeitskollege. Der Einzige, den er nicht mag, und wohl der Einzige, der ihn nicht mag. Stefan hat ihn tatsächlich nicht gesehen. Woher kommt er so plötzlich?

„Hallo Carlo, hast du auch von den feinen Schokoköpfe gekauft? Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?“

„Ich habe mein Auto bei der Kirche; ich kann selbst fahren.“

„Du hast eine tolle Kamera. Mit diesem Teleobjektiv kriegst du den kleinsten Vogel bildfüllend. Ist Fotografieren dein Hobby?“

Mit verkniffenen Augen schaut Carlo ganz kurz ins Auto.

„Du stellst zu viele Fragen, Steff, ich hasse das. Ciao!“

Ohne einen Blick zurück geht er die Straße hoch ins Dorf und verschwindet hinter den Hausmauern. Verärgert macht sich Stefan auf den Heimweg.

Blöder Kerl! Du bist so ein …! Weshalb stoße ich immer wieder mit Carlo zusammen? Bei ihm fühle ich mich unwohl und bin dann viel zu liebenswürdig mit ihm. Er ist mir gegenüber meist misstrauisch, und es scheint mir, als prüfe er andauernd meine Gesinnung zu ihm. Dabei finde ich ihn innerlich nicht stark und gelassen, eher von anderen Menschen und Umständen geleitet und getrieben. Doch jede Begegnung mit ihm greift mich an, macht mich verletzlich und wütend. Jedes Mal fühle ich mich unterlegen. Und das entfacht die Wut in mir, mit der ich ihn tätlich angreifen könnte.

Daheim trägt Stefan die beiden Packungen Schokoköpfe und das Roggenbrot in den Speisekeller und setzt sich danach an den Computer, um für den nächsten Tag das Programm anzupassen.

8. Klimawandel

Nach einer Stunde Arbeit holt sich Stefan im Keller einen Schokokopf. Genüsslich knabbert er an der dünnen Schokoladenhülle und holt mit spitzer Zunge den Eiweißschaum in seinen Mund. In der Küche spült er seine Hände und entfernt den weißen Schaum von den Mundwinkeln. Schaum, wie Schneeflecken im Frühling, denkt Stefan. Dabei erinnert er sich an ein Ereignis vor einem Jahr:

Er war erst wenige Wochen als Parkwächter im Dienst, da ging im Val da Stabelchod eine riesige Schlammlawine nieder und riss einen Teil des Wanderweges mit einer Brücke mit. Sofort nach dem Eintreffen dieser Meldung im Zentrum machten sie sich auf, um Wanderer in dieser Gegend zu bergen. Als der Regen nachgelassen hatte, stiegen sie ins Tal auf. Glücklicherweise waren alle Wanderer mit dem Schrecken davongekommen. Seither verläuft der Wanderweg an einer neuen Stelle. Am Südhang des Tales sind trichterförmige Löcher zu sehen, am Westhang klaffen tiefe Kerben, in Baumstämme eingeklemmt die Überreste einer Brücke.

Stefan sinniert weiter: Was wird geschehen, wenn im Zusammenhang mit dem Klimawandel die fünf Prozent der Landesfläche der Schweiz, die aus Eis bestehen, zunehmend schmelzen? Lokal, bei Dörfern, ist es zwar ausführbar, mit viel Technik und Bauten einen gewissen Schutz zu bieten. Doch generell sind präventive Maßnahmen nicht möglich. Das Klima verändert sich. Ist die Ursache nur bei den fossilen Brennstoffen, beim Verkehr, zu sehen? Im Zentrum, während der Pausen, kommt es immer wieder zu Diskussionen zwischen den Parkwächtern.

Ich bin mir noch zu wenig sicher, zu welchem Lager ich mich zähle, stellt Stefan fest.

Da gibt es einerseits die Meinung, der Klimawandel sei menschengemacht, und auf der anderen Seite diejenigen, welche die Hauptursache der Veränderung den periodischen Sonnenexplosionen zuschreiben. Wie auch immer, vor 100 Jahren sind in diesem Teil der Schweiz kaum Autos gefahren. Das Automobil galt als eine Gefährdung des Straßenverkehrs, als lärmendes Ungetüm, als Luxusfahrzeug. Ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis es unter Befürwortern und Gegnern des Autos zu einer mehrheitsfähigen Lösung kam. Der Souverän stimmte im Sommer 1925 einer Autovorlage zu. Damals gehörten touristische Kreise zu den vehementesten Befürwortern des Autos. Heute sieht das ganz anders aus. Die meisten Touristen lassen ihr Fahrzeug nach der Anreise stehen und benutzen während der Ferienzeit den gut ausgebauten öffentlichen Verkehr.

9. Scham und Schuld

Hi Rainer,

danke für deine Mail, die thematisch an unsere vorherigen Ausführungen anschließt. Unser Thema ist nicht leicht zu verstehen.

Du hast mir in deinem letzten Schreiben erläutert, dass unsere westliche Zivilisation im Wandel begriffen ist, von der Schuldkultur zur Schamkultur.

Während sich ein schuldorientiertes Gewissen nach absoluten moralischen Regeln ausrichtet, orientiert sich ein schamorientiertes Gewissen an der Moral einer Gemeinschaft. Oder einfacher ausgedrückt: In der schuldorientierten Kultur macht sich der Mensch Sorgen über seine Schuld. Oder die Wiedergutmachung seiner Schuld.

Anders in der Schamkultur. Hier kommt es kaum darauf an, ob der Mensch schuldig ist oder nicht, sondern welche Konsequenzen der Schaden in der persönlichen Reputation hat.

Nicht nur hier in den USA, auch in Europa ist dieser Rückfall sukzessive im Gange.

Von der eigenen Schuld wandelt sich die Gesellschaft zu einer Außenwahrnehmung des Menschen. Das Prestige ist wichtiger als die Wahrheit. Bestes Beispiel dafür sind viele aktuelle bekannte Politiker.

Als Auslandjournalisten sind wir sensibilisiert, solche Änderungen wahrzunehmen, doch in kirchlichen und sozialen Institutionen wird diese Wandlung als problematisch festgestellt.

Bleiben wir dran, du wirst sehen, dass diese Entwicklung nicht etwas Theoretisches ist, sondern sich im Alltag bis in jede Beziehung abspielt. Wir werden wieder darauf zurückkommen.

Ich habe dir erzählt, dass unsere jüngste Tochter vorhat, bei uns auszuziehen.

Amena ist jetzt 24 Jahre alt und sie wohnt mit einer Studienkollegin in Salem. Beide haben den Bachelor und wünschen sich, nach Studienabschluss in den Weinanbau zu gehen. Gute Beziehungen dazu haben sie zum Glück.

Nun, ich muss noch auf die Redaktion.

Liebe Grüße,

Mike

Mike White

Hillstreet 12

Portland

Oregon USA

Hello Mike,

vom Pinot Noir und dem Pinot Gris aus der Region des Vally habe ich schon gehört.

Das wäre ein Grund, in die USA zu kommen und also eine Reise wert :-)

Ich versuche mich nun anzuhängen an das, was du über die Scham- und Schuldkultur geschrieben hast. Auch ich habe festgestellt, dass sich heute kaum jemand darum rührt, zu weltfremd scheint dieses Thema zu sein. Doch alles andere ist der Fall! Es durchdringt unser Leben mit markanten Folgen.

Wie kommt es dazu, dass nicht mehr das ruhige Gewissen, sondern die öffentliche Wertschätzung als erstrebenswert angenommen wird?

Immer weniger an Gebote und Vorgaben hält sich die westliche Kultur, sondern mehr an die äußere Anpassung und das Nicht-Erwischenlassen. Wie kommt es zum einen oder anderen Verhalten?

Der evangelikale Missionsforscher Klaus W. Müller zeigt die Entwicklung dazu im Kontext seiner Herkunftsfamilie. Der schuldorientierte Mensch wächst auf in einer kleinen Zahl von prägenden Personen, den Eltern und Geschwistern der Kleinfamilie.

Umgekehrt sind die Verhältnisse bei der schamorientierten Prägung. Das Kind wird bestimmt durch eine große Zahl von Personen; neben den Eltern sind es die Verwandten, Freunde, Fremde oder eine religiöse Gemeinschaft.

Wichtig scheint mir jedoch zu berücksichtigen, dass es keine reinen außen- oder innengeleiteten Kulturen gibt.

In diesem Jahr werden wir in der „Nähe“ Urlaub machen. In vierzehn Tagen fahren wir an die Westküste von Jütland. Wir freuen uns!

Liebe Grüße,

Rainer

Rainer Schmitt

Koppelgasse 101

D-20099 Hamburg

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9783754119648
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