Читать книгу: «Inselgötter», страница 3

Шрифт:

Jung setzte sich und starrte vor sich hin. Was ist hier eigentlich los?, fragte er sich. Was machte ihn so sauer? Du musst das positiv sehen, versuchte er sich zu überzeugen. Die Anerkennung der Chefs, die Übernahme eines Falles, in dem sie sich bewähren konnten, die in Aussicht gestellte Beförderung. Andere würden darüber schier aus dem Häuschen geraten. Er nicht. Nur Charlotte versüßte ihm die Aussicht auf das heraufziehende Unheil. Die Arbeit mit ihr war immer anregend gewesen. Er konnte sogar von ihr lernen. Das war der einzige Grund sich zu freuen, neben ihrem Anblick natürlich. Sie war wirklich ein Lichtblick in dem ganzen Durcheinander.

Im selben Moment fiel ihm Tiny wieder ein. Der und seine Ängste. Er versaute alles. Sein Leben war ohnehin schon aus den Fugen. Er fühlte sich manipuliert, unter Druck gesetzt, missbraucht. Hätte ihm der Leitende nicht von Anfang an reinen Wein einschenken können? Warum musste er so tun, als stünde noch zur Diskussion, was schon längst entschieden war?

»Ihr Espresso, Signore«, sagte jemand neben ihm.

Jung fuhr auf und blickte erschrocken in das Gesicht von Roberto. Er war klein und hatte eine Halbglatze. Alles an ihm war rund und freundlich. Selbst wenn er den Mund nicht aufmachte, jeder hätte sofort erkannt, dass er Italiener war.

Jung kam gerne in sein Bistro. Er schätzte die leichte Küche. Es gab sechs Speisen auf der Karte, die wöchentlich wechselten. Nur Brot mit Dip gab es immer und gemischte Antipasti, aber die erst ab Wochenmitte. Roberto duzte seine Stammgäste und nannte sie beim Vornamen. Jung atmete auf.

»Entschuldige, ich war in Gedanken. Ich hab dich gar nicht kommen hören.«

Jung nahm die Tasse entgegen und rührte Zucker in den Kaffee.

»Ich sah dich und dachte, ich geh mal rüber«, fing Roberto an.

»Setz dich doch. Ich schätze angenehme Gesellschaft.«

»Grazie, Tomi. Gibt’s Probleme?«, fragte Roberto und setzte sich Jung gegenüber an den Tisch.

»Der Job, Roberto, der Job. Kennst du das nicht?«

»Ich jage keine Kriminellen, Tomi, ich bewirte sie.«

Sie lachten. Roberto wusste, womit Tomas Jung sich herumschlug. Sie hatten sich gelegentlich darüber unterhalten.

»Weißt du eigentlich immer, wann du einen Bösewicht vor dir hast oder einen harmlosen Zeitgenossen?«, fragte Jung amüsiert.

»Du nicht?«

»Mein Chef hat mir gerade angeraten, mehr Zeitung zu lesen. Dann wüsste ich, was mir fehlt.«

Sie lachten. Jung schlürfte seinen Kaffee.

»Zeitung lesen. Mamma mia! An was hat er dabei gedacht?«, fragte Roberto mitfühlend.

»An einen gewissen Eilers. Der Name sollte mir bekannt sein. Meint er jedenfalls. Kennst du ihn?«

»Welchen? Den Senior oder den Junior?«

»Du kennst sie also.«

»Sie sind ab und zu bei mir. Wenn das heißt, dass ich sie kenne, dann ja.«

»Gehören sie zu deinen hungrigen Kriminellen oder zu den anderen?«, fragte Jung.

Roberto schmunzelte und wiegte den Kopf.

»Warum willst du das wissen? Haben sie was ausgefressen?«, fragte er zurück.

»Nein, nein. Der Junior wird vermisst. Ich soll mich darum kümmern.«

»Ach so, ich verstehe«, kommentierte Roberto nichtssagend.

»Was verstehst du? Weißt du etwas über sie?«

»Nein, nein. Jedenfalls nichts, was dir weiterhelfen könnte.«

»Was weißt du denn über sie?«, fragte Jung neugierig.

Roberto stierte auf den Tisch und schwieg.

»Ich weiß, Roberto. Du redest nicht gerne über deine Gäste. Aber in meinem Job bin ich …«

»Sie sind sehr unterschiedlich«, unterbrach ihn Roberto ernst. »Wie Tag und Nacht, como acqua e fuoco, wie Himmel und Hölle. Du weißt, was ich meine, nicht wahr?«

»Okay. Ich weiß, was du sagen willst. Aber eine Vorstellung …«

»Der Alte ist laut, crudamente e arrogante, der Junge leise, discrete e gentile. Capire?«

»Ja, schon verstanden. Aber …«

»Reicht das nicht?«, bemühte sich Roberto, das Thema zu beenden.

»Ja. Das ist schon mal was. Aber ist dir …«

»Möchtest du zum Abschluss una Grappa?«, fragte Roberto dazwischen.

Jung fügte sich Robertos unausgesprochenem Wunsch und brach ab.

»Hast du einen, den du mir empfehlen kannst?«, fragte er freundlich.

»Habe ich tatsächlich«, erwiderte Roberto munter. »Gerade frisch reingekommen. Aus dem Friaul. Einen Grappa Il Merlot di Nonino Monovitigno. Molto fantastico. Du wirst sehen.«

»Hoffentlich schmeckt er auch so«, lachte Jung.

»Er schmeckt auch so«, echote Roberto und erhob sich.

Charlotte Bakkens

Die Walzenmühle lag an der Werftstraße. Ein Stück weiter bis zur Schiffbrücke und Jung war am Hafen angekommen und auf dem halben Weg zurück zu seiner Arbeitsstätte. Er schlenderte vorbei an der Museumswerft und den restaurierten Oldtimern aus Zeiten, in denen noch Kohle auf Gaffelschonern verschifft wurde. Von hier hatte er eine ungehinderte Aussicht über den Hafen bis rüber zum Restaurant Bellevue auf dem Ostufer. Er ließ den Blick schweifen über die Marina links davon, das Hafenkontor und das hässliche Silo der Raiffeisengenossenschaft am Harniskai. Dahinter reihten sich alte Mietshäuser, manche hübsch renoviert, manche, wie die in der Kurzen Straße, abgesackt, schief und dem Abriss nahe. Den Hang hinauf, nach Jürgensby schob sich ein unübersichtliches Gewirr aus Häuschen und Häusern, die durch enge Gassen, Treppen und Wege verbunden waren. Dazwischen kleine Plätze, Bäume, Buschgruppen und Kinderspielplätze. In Richtung Hafenausgang wurde das winklige Viertel von dem Neubau des regionalen Telekom-Anbieters abgeschlossen. Darüber erhob sich St. Jürgen wie das Mahnmal für eine bessere Welt. Und stadteinwärts, oberhalb der Hafenspitze, wachten die massiven Blocks hübscher Altbauten wie eine freundliche Festung über der Stadt, wehrhaft und doch einladend. Er liebte den Anblick. Er liebte seine Stadt, gestand Jung sich ein.

Er riss sich von dem Anblick los und sah nach vorn. Er erkannte sie sofort. Unter den vielen Passanten auf der Pier stand sie weit vorne, am Liegeplatz des Salonschiffs Alexandra. Sie musterte den Oldtimer, eine vielbewunderte Attraktion Flensburgs. 1986 hatte der damalige Besitzer den Dampfer einem Verein geschenkt, deren Mitglieder die alte Lady nicht missen mochten. Sie hatten das Überbleibsel aus vergangenen Seefahrerzeiten vor dem Verschrotten gerettet. Seitdem ist die 1908 gebaute »Alex«, wie sie die Flensburger liebevoll nennen, der letzte seegehende Passagierdampfer Deutschlands.

Jung konnte sich nicht vorstellen, dass Charlotte großes Interesse an dem Schiff hegte. Nostalgisch angehauchte Schwärmerei hatte er noch nie an ihr festgestellt. Dazu war sie nicht der Typ. Ihre Stärken lagen woanders. Sie lebte im Jetzt, hatte einen pragmatischen Verstand und ein breitgestreutes Wissen über alles, was den Alltag der Menschen bestimmte: Gesundheit und Krankheit, Fitness und Ernährung, Computer und das Leben im Internet. Er hatte ihre Fähigkeiten schätzen gelernt, gelegentlich sogar bewundert.

Sie war nicht zu übersehen. Er hätte darauf gewettet, sie in jeder erdenklichen Verkleidung auf der Stelle wiederzuerkennen: groß, um die 1,80, sportliche, makellose Figur, kurzer, kunstloser Haarschnitt, bis auf den dezenten Lippenstift ungeschminkt. Das letzte Mal war sie in gelbem Ölzeug bei strömendem Regen gekommen. Heute war sie gekleidet wie bei ihrem ersten Zusammentreffen: helles Sweatshirt, kurze, braune Lederjacke, Kaki-Jeans und flache Leinenschnürschuhe. Ein Rock, ein Kleid oder ein Hosenanzug wären eine Sensation gewesen. Sie sah ungeheuer gesund aus. Tomas Jung empfand so etwas Ähnliches wie Freude.

*

Sie wandte sich ab und blickte in Jungs Richtung. Sie hatte ihn genauso schnell entdeckt wie er sie. Beide setzten sich in Bewegung, als triebe sie etwas Unsichtbares an.

»Der Boss hat mir gesagt, wo ich Sie treffe«, sagte Charlotte Bakkens, als sie Tomas Jung zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte.

»Moin, Charlotte.« Lächelnd nahm er ihre Hand. »Warum lässt du dich nicht endlich versetzen? Du hast hier öfter zu tun als in Kiel.«

»Moin, Chef. Ich denk mal drüber nach.« Sie lachten und ließen voneinander ab.

»Ihre Frau hat angerufen. Das soll ich Ihnen vom Boss ausrichten«, sagte sie bedeutungsvoll.

»Okay. Bist du schon in den neuen Fall eingeweiht?«, überging er ihre Bemerkung.

»Der Anruf schien wichtig. Sonst hätte er mir nicht aufgetragen, Sie zu informieren«, blieb Charlotte hartnäckig.

»Ich kümmere mich darum. Später.«

Charlotte fixierte ihn aufmerksam. Jung registrierte ihren skeptischen Blick.

»Weißt du, um was es in unserem neuen Fall geht?«, fragte er noch einmal.

»Im Großen und Ganzen, ja«, erwiderte sie unbeteiligt.

»Das Große und Ganze. Was ist das?«, hakte Jung nach und setzte sich langsam in Richtung Polizeiinspektion in Bewegung.

»Der Polizeipräsident wollte mich sehen. Das ist ganz was Neues. Ich war so was von nervös, Chef«, erklärte Charlotte mit gespieltem Entsetzen. Jung lachte.

»Es geht um ein paar vermisste Personen auf Sylt«, fuhr sie fort. »Wir sollen sie finden. Schnell. Das schien ihm wichtig zu sein. Was soll das? Schnell soll es doch immer gehen, oder?«

»Ansonsten nichts?«

»Er schien ein gesteigertes Interesse zu haben. Warum, weiß ich nicht.«

»Typisch«, lachte Jung.

»Wissen Sie mehr, Chef?«, fragte Charlotte unsicher.

»Nicht wirklich. Holtgreve hat einige wenige Andeutungen gemacht. Mehr nicht.«

»Andeutungen. Was für Andeutungen?«

»Wir sind oben aufgefallen, Charlotte«, lachte Jung spitzbübisch.

»Oben? Sie meinen, beim Präsidenten?«

»Bei dem Minister, dem Generalstaatsanwalt, dem Präsidenten. Ja, die da oben. Sie lieben uns, seit wir den Mordfall auf Sylt so schnell und geräuschlos begraben haben.«

»Lieben? Das kann nicht wahr sein«, amüsierte sich Charlotte.

»Der Präsident hat deinen Fernsehauftritt in den höchsten Tönen gelobt, Charlotte. Holtgreve übrigens auch.«

»Hört sich gut an. Und was weiter?«

»Sie wollen uns weiter lieben können. Das heißt, wir sollen ihnen aus der Patsche helfen.« Jung grinste in sich hinein.

»Welche Patsche? Reden Sie doch nicht so drum herum. Ich komme mir schon ganz blöd vor.«

»Lies die Akten. Dann weißt du mehr. Vielleicht kommt dir die eine oder andere Idee. Wir unterhalten uns anschließend.«

Sie waren angekommen. Die Polizeiinspektion lag schräg gegenüber. Der neben dem Eingang angeschraubte Wegweiser zu den verschiedenen Dienststellen war nach der Neuordnung der Inspektion entfernt worden. Nur der blaue Leuchtkasten war übrig geblieben. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte man in dem Gebäude eher ein kleines, feines und teures Hotel alter Pracht vermuten können. In Paris oder anderen französischen Städten fand man sie noch, ausgestattet mit edlen Stilmöbeln und schweren Teppichen. Aber zu Flensburg hätte das nicht gepasst. So stellte sich die Frage, wozu das Gebäude früher gedient haben mochte. Es musste aus der Gründerzeit stammen, die Stilrichtung war nicht eindeutig zuzuordnen. Die Fassade war reich ornamentiert. Simse, Steinmetzarbeiten und schmiedeeiserne Geländer vor Balkonen und Austritten zierten die Vorderfront. Vor einiger Zeit hatte es einen strahlend weißen Außenanstrich erhalten. Es hob sich auch deswegen vorteilhaft von der ebenfalls dekorativen Nachbarschaft ab.

»Moin, Herr Oberrat«, begrüßte sie der wachhabende Beamte am Eingang.

»Moin, Petersen. Das ist Charlotte Bakkens, Kriminalkommissarin aus Kiel. Sie wird die nächste Zeit bei uns sein«, stellte Jung seine Begleiterin vor.

»Schön. Wenn Sie etwas brauchen sollten, Frau Kommissarin, ich bin immer für Sie da«, sagte Petersen und lächelte charmant.

»Ich werde Sie bei passender Gelegenheit daran erinnern, Hauptwachtmeister«, lächelte Charlotte zurück.

Jung setzte sich in Bewegung und Charlotte folgte ihm auf dem Fuß.

»Das Gesülze hat er sonst nicht drauf«, flüsterte Jung ihr ins Ohr.

»Bei Ihnen wäre das auch völlig unangebracht, Chef«, flüsterte sie zurück und lachte.

Jung streifte sie mit einem irritierten Blick und strebte dem Treppenhaus zu.

»Die Akten sind bei mir«, wandte er sich an sie, als sie das Stockwerk erreicht hatten, auf dem sein Büro lag. »Hast du schon einen Schreibtisch und einen PC?«

»Ja. Der Boss hat das bereits geregelt. Ich sitze unten, gleich neben Petersen. Meinen Laptop habe ich auch mitgebracht.«

»Gut. Dann komm mit.«

In seinem Zimmer händigte Jung ihr die Akten aus.

»Ich warte auf deine Ideen, Charlotte«, sagte er schmunzelnd.

»Und Sie denken an den Anruf, Chef?«, entgegnete Charlotte, während sie die Tür hinter sich schloss. Jung ließ sich seufzend in seinen Bürostuhl fallen.

*

Sie warf die Akten auf den Tisch und stellte ihre Segeltuchtasche daneben. In letzter Zeit waren ein paar findige Newcomer in der Modeszene auf die Idee gekommen, aus dem Leder alter Turngeräte, ausrangierten Armeezelten und ausgemusterten Segeln Taschen zu fertigen. Die Materialien hatten alle Strapazen der Vergangenheit überstanden. Sie waren einfach unverwüstlich. Deswegen hatte sich Charlotte für sie entschieden. Aber nicht allein deswegen. Die Taschen waren sorgfältig verarbeitet. Auf handwerkliche Qualität legte sie Wert. Nicht zuletzt schätzte sie den sportlichen Chic. Die schwarze Fünf auf der Vorderseite erinnerte sie an das Alter, in dem sie sich unwiderruflich entschieden hatte, Polizistin zu werden. Für sie war die Fünf eine geheime Botschaft, die ihr ungeahnte Kräfte verlieh. Bis zu diesem Augenblick waren sie noch nie versiegt.

Sie packte ihren Laptop aus. Smartphone und Portemonnaie ließ sie in der Tasche. Den Rest hatte sie im Auto. Für ein paar Tage außer Haus benötigte sie nicht viel. Eine kleine Reisetasche, ebenfalls aus weißem Segeltuch, genügte ihr. Den meisten Platz nahm ihre Joggingausrüstung in Anspruch. Ohne Joggen würde ihr etwas fehlen. Es gehörte zu ihrem Leben wie Essen und Trinken. Vorhin hatte sie schon eine attraktive Laufstrecke ausgekundschaftet. Die Promenade entlang um die Hafenspitze herum auf die andere Seite, hinauf auf das Steilufer – eine geeignete Treppe für eine verschärfte Härteübung würde sich da schon finden lassen – und wieder zurück zu ihrem Hotel unweit der Polizeiinspektion.

Das Hotel gefiel ihr nicht. Die genormte Plastik-Nasszelle jagte ihr Schauer über den Rücken. Sie wollte da nicht bleiben und würde sich eine neue Unterkunft suchen. Vielleicht sollte sie den Hauptwachtmeister an der Wache beim Wort nehmen.

Sie setzte sich auf den einfachen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Es war das einzige Sitzmöbel in ihrem Büro, wenn man den Raum überhaupt so nennen wollte. Er wirkte wie die ehemalige Arrestzelle für orientierungslose Betrunkene, festgenommene Nutten oder rabiate Randalierer. Das musste schon eine Weile her sein. Jetzt gab es neben Tisch, Stuhl und Aktenablage ein Telefon, einen PC mit Zugang zum Internet und dem Netzwerk der Polizei. Mehr brauchte sie auch nicht. Tageslicht wäre schön gewesen. Sie tröstete sich bei dem Gedanken, dass ihre Verweilzeit hier ohnehin nicht lang dauern würde. Die Suche nach den Vermissten würde sie ganz gewiss nach außerhalb führen. Sylt war nicht gerade ihr Lieblingsplatz. Aber sie hatte hier ihren ersten spektakulären Erfolg als Kriminalbeamtin gehabt. Und das versöhnte sie mit der Aussicht, wieder dort hinzumüssen.

Sie schlug die erste Akte auf. Die Vermisste, Goscha Müller, war 53 Jahre alt, eine Witwe aus Düsseldorf. Zuletzt hatte sie mit ihrer Schwester vom Bahnhof Niebüll aus telefoniert. Ihre ältere Schwester erwartete sie in ihrem Ferienhaus in Rantum. Gosche Müller hatte sie gebeten, sie vom Bahnhof in Westerland abzuholen. Sie war dort nie angekommen. Die Schwester meldete sie nach zwei Tagen als vermisst.

Der Zweite war ein Mann, Helmut Bohl, er wohnte in Berlin und war auf dem Weg in den Urlaub gewesen. Seine Frau war vorausgefahren und hatte sich im Hotel Stadt Hamburg in Westerland einquartiert. Er war 55 Jahre alt. Sein Beruf als Fondsmanager hatte ihn auf dem Festland aufgehalten, sodass er erst später zu seiner Frau stoßen wollte. Von Niebüll aus hatte er seine Frau über seine Ankunft in Westerland informiert. Sie wartete vergeblich. Als sie die nächsten zwei Tage nichts von ihm hörte, ging sie zur Polizei und gab eine Vermisstenanzeige auf.

Die dritte Vermisste, Gisela Terhegen, war ebenfalls in den Fünfzigern: Eine verheiratete Frau, wohnhaft in Köln und allein unterwegs nach Sylt. Sie hatte von Niebüll aus mit dem Facilitymanager der Eigentumsanlage in Westerland telefoniert, in der sie ein Apartment hatte. Sie hatte ihn angewiesen, ihre Wohnung für einen längeren Aufenthalt herzurichten und mit dem Nötigsten zu versorgen. Im Klartext hieß das, er sollte die Betten neu beziehen und den Kühlschrank auffüllen. In der Folgezeit hatte sie nichts mehr von sich hören lassen, weder beim Hausmeister noch bei ihrem Mann. Eine Woche später hatte der Ehemann seine Frau als vermisst gemeldet.

Der Vierte, Jens Eilers, fiel durch sein Alter aus dem Rahmen. Er war Anfang 30, hatte eine führende Position als Projektmanager eines Baukonsortiums. Zur Zeit seines Verschwindens leitete er die millionenschwere Konversion eines ehemaligen Militärgeländes an der Ostsee. Er hatte sein Segelboot in List auf Sylt liegen. Seine Mutter hatte mit ihm zuletzt am Telefon gesprochen, als er in Niebüll den Zug bestieg, um ein Segelwochenende auf der Nordsee zu verbringen. Das war das letzte Lebenszeichen von ihm gewesen. Der Liegeplatz im Lister Hafen blieb leer. Seine Mutter meldete ihn am darauffolgenden Dienstag als vermisst.

Den Akten waren Fotos beigeheftet. Sie zeigten gut frisierte Köpfe und gepflegte Gesichter, wie man sie auf Anzeigen für Kreuzfahrtschiffe und Bildungsreisen nach Kappadokien fand.

Allen Fällen gemeinsam war, dass sie jeweils an einem Freitag vom Bahnhof Niebüll aus Kontakt zu ihren Angehörigen hatten und die Züge, die sie vermutlich bestiegen hatten, mit demselben Bahnpersonal unterwegs waren.

Charlotte Bakkens lehnte sich zurück. Das gibt eine Menge Arbeit, dachte sie. Zum Glück war sie frei, musste keine Rücksicht nehmen, etwa auf eine feste Beziehung oder gar eine Familie. Es hatte in der Vergangenheit den einen oder anderen Mann in ihrem Leben gegeben. Aber warum musste immer alles gleich so kompliziert werden? Warum konnte es nie dabei bleiben, ein paar unbeschwerte Stunden oder auch eine Nacht miteinander zu verbringen, Spaß zu haben und dann wieder an die Arbeit zu gehen?

Sie schüttelte den Kopf. Ideen sollte sie haben, hatte der Chef gesagt. Welche Ideen? Niebüll und das Bahnpersonal am Freitag waren allen Fällen gemeinsam. Dem Kollegen vor ihr war das natürlich sofort aufgefallen und er war diesem Aspekt zuerst hinterhergestiegen. Ohne handfestes Ergebnis. Langweilig, höchstwahrscheinlich auch nutzlos, da weiterzumachen. Was gab es noch? Das Alter der Vermissten war eine weitere Gemeinsamkeit. Bis auf eine Ausnahme gehörten sie der älteren Generation an, Menschen im besten Alter mit Geld. Sylt, teure Hotels, Ferienwohnungen ließen darauf schließen. Wahrscheinlich gab es noch mehr als das, was in den Akten festgehalten worden war. Auf Neudeutsch hießen diese Menschen »Bestager«. Der junge Typ machte da keine wirkliche Ausnahme. Er war Eigner eines Segelbootes mit Liegeplatz im Lister Hafen. Geld schienen sie also alle zu haben. Aber was hieß das schon? Man konnte daraus alle möglichen Schlüsse ziehen. Was noch?

Zuerst einmal sollte sie die Personen googeln, dachte sie. Vielleicht ergaben sich ein paar versteckte Hinweise, wo und wie sie weiterkommen konnten. Sie mussten sich den vermissten Personen nähern. Das hatte sie von Jung gelernt. Tätern und Opfern auf den Pelz zu rücken, das Innerste nach außen zu kehren, das war das Geheimnis eines erfolgreichen Ermittlers.

Sie packte ihren Laptop aus, stellte die Tasche neben den Stuhl und entriegelte die Klappe.

An die Arbeit

Sein Ärger war nach der Begegnung mit Charlotte fast verflogen. Er verspürte einen Hauch von Elan. Sie würden arbeiten und erfolgreich sein. Er warf sich vor, dass er an allem etwas auszusetzen hatte und automatisch Schwierigkeiten befürchtete. Ohne Kritik fühlte er sich einfach unwohl. Er neigte zu Pessimismus, gestand er sich ein, einem Pessimismus, der ihn zu beherrschen schien, egal, was auf ihn zukam. Warum nur? Seine Lebenserfahrung, seine berufsspezifischen Traumata, seine Skepsis gegenüber scheinbar unumstößlichen Tatsachen, reichte das als Erklärung aus? In Momenten der absoluten Stille, wenn er tief in sich hineinhorchte, vernahm er ein fernes Rauschen, ein Grauen vor den Menschen und vor dem, wozu sie fähig waren.

Erst neulich hatte im Fernsehen eine Journalistin berichtet, dass sogenannte Gotteskrieger im Irak ihre Gefangenen folterten. Sie setzten sie so lange auf Flaschen mit abgebrochenen Hälsen, bis After und Enddarm zerfetzt waren. Ihm war schlecht geworden. Er hatte sich danach eine Folge True Detective reingezogen. Er war ein Fan amerikanischer TV-Serien. The Sopranos, Dexter, The Wire und andere faszinierten ihn. Die Schauspieler waren gut, ihre Gesichter unverbraucht, echt und wirklichkeitsnah. Die Sicht auf die Welt war seiner eigenen Sicht recht ähnlich. Danach schaltete er um auf Eurosport 1 und platzte in einen Werbespot für einen Online-Möbelversand. Am Arsch der Welt kaufe man keine Möbel ein, behauptete ein Schauspieler, der durch seine Auftritte in deutschen TV-Krimis prominent geworden war. Der Trottel lümmelte sich auf einem weißen Sofa, fingerte auf einem Tablett-PC herum und merkte gar nicht, dass er selbst schon längst im Arsch der Welt angekommen war. Jung wechselte daraufhin zu Arte, dem Bildungssender. Auf dem Kanal lief ein Erotikthriller. Endlose Szenen, in denen alte Männer an einer bewusstlos gedopten nackten Studentin herumsabberten. Das hatte gereicht. Er flüchtete sich ins Bett und verbrachte eine unruhige Nacht.

Jung schüttelte den Kopf und ließ sich in seinen Bürostuhl sinken, das einzige luxuriöse Möbelstück in seiner kargen Arbeitszelle. Er versuchte sich weiter Mut zu machen und dachte, dass es ganz und gar unmöglich war zu wissen, was genau die Zukunft bringen würde. Ganz im Gegenteil. Versuchte man im Vorfeld zu verhindern, was man ängstlich befürchtete, so bekam man das Schlimmste irgendwann auf dem Silbertablett serviert. Das hatte ihn das Leben gelehrt. Aber wie war es mit dem, was man sich sehnlichst wünschte? Gingen Wünsche eher in Erfüllung, wenn man gar nichts tat? Das hatte ihn das Leben nicht gelehrt. Noch nicht!

Seine Art zu denken und zu handeln hatte ihm in letzter Zeit Erfolge eingebracht. Der Gedanke daran richtete ihn halbwegs wieder auf. Das Lob seiner Chefs hatte ihm geschmeichelt. Das konnte er nicht leugnen. Seine Freude darüber irritierte ihn, weil das Lob aus einer Ecke kam, die er oft kritisiert hatte und insgeheim verachtete. Der Beifall kam von der falschen Seite. Aber von welcher Seite sollte er sonst kommen?

Am liebsten hätte er das Gespräch mit Holtgreve rückgängig gemacht und noch einmal geführt. Dann hätte er sich in aller Ruhe angehört, was sein Chef vorzubringen gehabt hätte, bis zum Schluss und ohne zu unterbrechen, hätte vielleicht die eine oder andere Frage zur Präzisierung oder zum besseren Verständnis gestellt und hätte, wie es sich für einen guten Beamten gehörte, seinen vollen Einsatz zugesichert. Statt eines disharmonischen Arbeitsessens hätten sie eine lösungsorientierte Besprechung gehabt, aus der beide gestärkt den heraufziehenden Herausforderungen ins Auge geblickt hätten. Zu schön, um wahr zu sein, aber durchaus möglich, dachte Jung. Es lag an ihm. Wenn er etwas zum Besseren wenden wollte, dann sich selbst. Die anderen waren die anderen. Sie hatten das Recht, zu sein, wie sie waren, und sich zu ändern oder nicht. Dieses Recht nahm er für sich selbst auch in Anspruch. Und jede Einmischung von außen hätte er als Anmaßung und ungehörig zurückgewiesen.

Fang endlich an zu arbeiten und versinke nicht in Grübeleien, ermahnte er sich. Was war zu tun?

Das Telefon läutete und hielt ihn von weiteren Erwägungen ab.

»Jung, Polizeiinspek…«

»Ich bin’s, Svenja. Ich hatte vorhin schon einmal versucht, dich zu erreichen. Hat dir dein Chef das nicht ausgerichtet?«

Jung seufzte lautlos und lehnte sich zurück.

»Hallo, Svenja. Doch, hat er. Was gibt es denn so Dringliches?«, sagte er, um einen freundlichen Tonfall bemüht.

»Wie geht es dir in deiner WG? Musstest du schon ordentlich putzen?«

»Danke der Nachfrage. Es geht. Aber deswegen rufst du doch nicht an, oder?«

»Cara kommt in zwei Wochen aus dem Semester.« Sie schwieg, als erwartete sie eine heftige Reaktion.

»Ja und?«, erwiderte er gleichmütig.

»Hast du nicht mehr zu sagen?«, reagierte sie ungehalten.

»Was willst du von mir, Svenja?«

»Ich meine, du solltest dich darum kümmern, dass du …«

»Svenja, ich fände es besser, wenn du dich um dich selbst kümmerst und nicht um mich. Ich mag es nicht, wenn wir …«

»Warum sind wir eigentlich noch verheiratet, Tomi?«, sagte sie in einem Tonfall, der nichts Gutes verhieß.

»Svenja, wenn du wirklich nach einer Antwort suchst, dann frage dich lieber, warum wir geheiratet haben. Du hältst mich von der Arbeit ab.«

»Arbeit? An was arbeitest du denn, mein Lieber?« Ihre Ironie war unüberhörbar.

»Ich soll vier Menschen finden, die spurlos verschwunden sind.«

»Sicherlich waren sie zu lange verheiratet«, sagte sie schnippisch.

Bevor Jung reagieren konnte, klickte es in der Leitung. Jung legte den Hörer langsam zurück. Der Schmerz, den er empfand, wurde gedämpft von dem Gedanken, dass sie durchaus den Nagel auf den Kopf getroffen haben könnte. Nicht, was sie beide, Svenja und ihn, anbelangte, so weit war er noch lange nicht. Aber was die Vermissten anging.

Es war immer wieder das alte Lied. Man musste den Opfern nahekommen, in sie hineinkriechen, das Unterste zuoberst kehren. Dann kam man den Dingen auf die Spur, auch möglichen Tätern. Und wie machte man das, wenn die Vermissten nicht greifbar oder vielleicht schon tot waren? Man musste ihre Beziehungen zu anderen untersuchen, zu Angehörigen, Kindern, Ehepartnern und so weiter und so fort. Ganz einfach. Die gab es immer.

Beziehungen, dachte er und lachte lautlos. Beziehungen, mein Gott. Die ganze Welt war eine einzige riesige Beziehungskiste, man konnte sich davor gar nicht schützen, auch wenn man wollte. Selbst eine unerwünschte Nicht-Beziehung war eine Beziehung, gerade weil man sie als Pest empfand. Sie verursachte Schmerzen. Und Schmerzen, das hatte sein Beruf ihn gelehrt, waren die produktivsten Antreiber, unaufhaltsam und mit erschreckend grausamen, oft aber auch mit überraschend wohltätigen Folgen.

Also, was war zu tun? Er musste die Verwandten aufsuchen und fragen. Wer waren die Vermissten? Was trieb sie um? Wonach waren sie auf der Suche? Was war ihnen wichtig?

Bei wem sollten sie am besten anfangen? Beim Letzten. Bei Jens Eilers. Sein Fall bot die besten Aussichten, rasch voranzukommen. Der Vater hatte ein spezielles Interesse bekundet. Er und seine Frau hatten ihre rückhaltlose Unterstützung zugesagt. Jedenfalls hatte Holtgreve das berichtet. Es wäre blöd, nicht davon Gebrauch zu machen.

Jung nahm den Hörer auf und wählte die Vermittlung.

»Wir haben eine neue Mitarbeiterin. Ihr Büro liegt neben dem Wachlokal. Unter welcher Nummer kann ich sie dort erreichen? … Danke.«

Jung wählte 3010.

»BKI, Bakkens.«

»Charlotte, ich bin’s. Wir sollten loslegen. Kannst du hochkommen?«

»Okay. Bin schon unterwegs.«

*

»Also, hast du eine Idee?«, begann Jung.

»Ich habe die vermissten Personen gegoogelt«, antwortete Charlotte und machte eine Pause.

»Und? Was hast du gefunden?«

»Eine Menge, aber nicht viel, was uns weiterhelfen könnte. Es ist merkwürdig. Unsere Vermissten haben so gut wie keine Präsenz im Netz. Alles sehr, sehr dünn. Bis auf den jungen Eilers. Und der auch nur als Segelenthusiast. Ein Fan von Folkebooten.«

»Die anderen sind alt. Sie sind anders aufgewachsen als die Handy-Generation. Mit Facebook und Co haben die nichts am Hut.«

»Zumindest von dem Fondsmanager hätte ich mehr erwartet. Schließlich geht es ums Geschäft. Soviel ich weiß, sammelt so ein Typ Geld ein, um damit noch mehr Geld zu machen. Das Netz bietet ihm ideale Möglichkeiten dafür.«

Jung lachte.

»Warum lachen Sie, Chef? Wenn ich …«

»Weißt du, dass die Schweizer Großbanken eigene Abteilungen zur Verschleierung und Vernichtung von Daten eingerichtet haben? Ohne das Netz geht bei denen natürlich gar nichts mehr. Deswegen brauchen sie die Datenfuzzis, um ihre Aktivitäten zu tarnen. Anlagestrategien, Kunden, Transaktionen, niemand soll die Nase in ihre Angelegenheiten stecken können. Vertrauensschutz nennen die das.«

»Woher wissen Sie das, Chef?«

»Zufall. Ein Journalist, Lucas Hässing. Er schreibt gerne über die Großbanken und ihre Geheimnisse. Ich weiß nicht mehr, wo ich auf ihn gestoßen bin.«

»Okay. Wenn es um schmutziges Geld geht, dann muss natürlich …«

»Nicht nur das, Charlotte«, unterbrach sie Jung. »Auch normale Leute schätzen es nicht, wenn jeder über ihre Verhältnisse Bescheid wissen kann. Armut ist eine Bürde, Geld aber auch. Den ganzen Tag zermartern sich die Reichen das Hirn. Die Frage, wohin mit der Knete, begleitet sie wie eine juckende Allergie. Schließlich soll ihr Geld ja nicht renditelos in den Tresoren der Banken …«

»… oder in den Steuersäckeln unfähiger Politiker versickern«, ergänzte Charlotte.

»Genau. Das will keiner.« Jung lachte grimmig.

»Vielleicht trifft das ja auch auf die anderen zu. Ferienhäuser auf Sylt, Urlaub im Stadt Hamburg. Das stinkt geradezu nach Geld.«

»Du sagtest vorhin, ihre Präsenz im Internet sei dünn. Wie dünn?«

»Die Witwe wird in den Sylter Nachrichten erwähnt. Der Artikel berichtete über die Eröffnung des Golfhotels Budersand in Rantum. Sie war einer der namentlich aufgeführten Gäste. Der Fondsmanager …«

Бесплатный фрагмент закончился.

956,89 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
283 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839249369
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают