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Kapitel 6


Das Gespräch lag eine Weile in der Vergangenheit verborgen. Die Sonne auf dem Aussichtsplateau der Rosstrappe zeigte in der Ferne das Ende des Tages an. »Einen Schluck Tee aus der Thermoskanne, ein paar Kekse gönn ich mir. Ein Nickerchen auf dem Granit vor dem untergehenden gelbroten Licht am Horizont schadet nicht.« Die letzten verblassenden Gedanken in der freien Natur. Sein Blick schweifte von dem 403 Meter hohen Granitfelsen über die um Haaresbreite senkrecht abfallenden, schroffen Berghänge. Kaum sichtbar drücken sie da unten im Tal die Bode in ein enges Flussbett. Undeutlich erkennbar blieben ebenfalls die 18 Spitzkehren des Wanderwegs Schurre zwischen den Baumwipfeln. Ein lohnendes Streitobjekt, weil Felsabstürze durch die jahrelange Sperrung des Weges sich zum Objekt des Zornes erhoben. Grund genug, morgen den Menschen anderweitig Freude zu bereiten. Diese Überlegungen brachte er nicht zum Abschluss. Die Fantasie im Kopf nährte sich aus dem Bauch. Sie hinterließ ausreichend Spuren, um die Geschichte des steinernen Hufabdrucks auf dem Aussichtspunkt mit Leben zu erfüllen. Pointenreich erzählt, entwickelte sich das Geschehen um das Granitmassiv zum Renner der geführten Touren. In Gedanken versunken hörte er den Hund aus der Sage um Ritter Bodo und Brunhilde tief aus dem Schlund des Bodekessels heulen. Jener Kultplatz zählt heute in der Öffentlichkeit zu den heiligen Stätten der Vorfahren. Sie baut auf einer facettenreichen, visionären Geschichte auf. Angst beschlich ihn. Übelkeit setzte ihm zu. Nein, er war keiner von den vier Jünglingen, die beim Versuch, die Krone aus der Bode zu retten, starben. Tot sein heißt Leben in einer anderen Dimension. Seine Stimme brummte in der Euphorie der Erwartung.

»Ja, lehne dich weit hinaus. Beweg deinen Arsch. Was sind denn 86 Lebensjahre.« Tonlos, weil in der alten Kehle festgehakt, verhallte die Zahl. Die Unfähigkeit, sie lauthals hinauszuschreien, verschwand in der Akzeptanz der Unsichtbarkeit. Zu einem war sie fähig, sie trieb die müden Knochen an.

»Gib nicht nach, das Paradies zeigt sich alleinig dem wahren Gläubigen.« Die scharlachrote Büchse in der Hand, den himmlischen Genuss verinnerlichend, schritt er das kurze Stück Weg bis zum Hotelkomplex der Rosstrappe zurück.

»Erich, siehst müde aus. Komm für einen Moment rein«, überhörte er das Angebot eines Angestellten vor dem Restaurant. Ebenso verlor sich: »Na okay, an einem anderen Tag passt es besser. Wünsche dir einen geruhsamen Nachhauseweg. Pass auf, heute sind wieder die Downhiller unterwegs.«

»Danke, ich werd`s mir merken. Da besteht keine Gefahr«, antwortete er halblaut, wobei der Rufer unbefriedigt den Kopf schüttelte. Der Wanderer zog unbeirrt weiter. Er verzog schmunzelnd die Mundwinkel, denn dem modernen Bergabfahrsport jugendlicher Enthusiasten an der Rosstrappe gewann er Positives ab. Seine Harzstadt brauchte das Image. Die Mountainbiker rasten die Strecke unter fünf Minuten hinab ins Tal. Für ihn hatte heute die tickende Uhr null Bedeutung.

»Ich gönne mir einen Moment Auszeit«, sagte er kleinlaut vor sich hin. Kein Wanderer erhielt davon Notiz, dass er sich am Wegrand gegen einen Baumstamm lehnte. Er liebäugelte damit, Teile des Radweges der Sportler zu benutzen. Die zählten zu den couragierten Mountainbikern, die im Harz eine neue touristische Attraktion ins Leben riefen. Bei allem Verständnis, die Müdigkeit in den Knochen siegte. Ein Schluck Kräutertee aus der Thermoskanne, eine Handvoll Kekse aus der roten Blechbüchse. In Sekunden senkten sich die Augenlider. Nachdem er drei Stunden dahindämmerte, traf ihn die Ernüchterung. Dunkelheit hatte sich ausgebreitet. Die Blätter in den Baumkronen der Laubbäume verschluckten jedes Fünkchen Licht vom glasklaren Abendhimmel.

»Verdammt, hab verpennt.« Er fasste es nicht, mitten in der Nacht im Wald zu sein. Nach einer Lösung suchend schaute er sich um. »Okay, ich bin am Leben und frei in meiner Entscheidung!«, sagte er vernehmbar in dem Bewusstsein, dass ihn kein Mensch hörte. »Wanderweg oder die Straße hinunter in die Stadt«, fiel wie ein Schatten über seine Miene. Sein Ausdruck verfinsterte sich augenblicklich. Die Asphaltschlange bedeutete ein Vielfaches vom Weg durch den Wald. Der Vorteil: Sie bot ein bequemeres und sicheres Geleit.

Auf halber Wegstrecke registrierte er den grellen Lichtschein eines Fahrzeuges, das sich flott näherte. Leider bergauf. Schade. Das hieß, den Trip fortzusetzen.

Er hob den Arm, um die Augen zu schützen. Dass der Fahrer das Kennzeichen abgedeckt hatte, sah er nicht. Es entging ihm, dass derjenige eine Sturmhaube mit Sehschlitz trug, wie sie Gangster benutzten. Dagegen blieb die Identität des abendlichen Wanderers kein Geheimnis. Ihr kam die Rolle zuteil, schicksalsbesiegelnd zu sein. Dem routinierten Profi, der sich hinter dem grellen Lichtstrahl verbarg, perlte der Schweiß auf der Stirn. Nicht, weil die Angst ihn jagte. Nein, wegen des zu erwartenden Aufpralls auf menschliches Fleisch. Das vorauseilende Geräusch brechender Knochen trieb die Erregung auf den Höhepunkt. Das Gaspedal im Fahrzeug berührte den Boden. Millisekunden lang regte das vegetative Nervensystem an, die Kontraktion der Haarbalgmuskeln anzukurbeln. Die Follikel erhoben sich über der Hautoberfläche und das Haar richtet sich auf. Der sogenannte Gänsehauteffekt setzte ein. Der Tod des Menschen vor ihm war beschlossene Sache. Grelles, weißliches Fernlicht fokussierte die unscheinbare Figur.

»Leck mich am Arsch, alter Knabe«, brummte er verdrossen. Die zweihundert PS brachten den Ford Ranger DoKa Limited auf einhundert Stundenkilometer.

»Halte drauf, ramme ihn«, schrie eine quirlige Stimme in seinem Kopf. »Erlöse ihn! Los!« Zeit für Überlegungen verblieb nicht. Millisekunden später gewann das schwere Gefährt den Kampf für sich. Das breit bereifte rechte Vorderrad übernahm den Job des Mordwerkzeugs. Der Aufprall, das Knacken des Schädels, verlor sich im Getöse des Motors und dem Geräusch des abrupten Bremsvorgangs.

Die Gestalt mit dem vermummten Kopf parkte den Pick-up in der Todeszone. Die Scheinwerfer erzeugten um ihn herum gespenstische Schatten. Er bemerkte sie nicht. Grinsend, herablassend zeigte er dem Toten nach getaner Arbeit sein Antlitz.

»Mein Versprechen ist eingelöst. Niemand bringt dich zurück. Nimm das hier mit auf den Weg in die Ewigkeit. Wilhelm lässt herzlichst grüßen. Deine letzte Begegnung mit den Wäldern im Harz. Genieße sie«, sagte er mit brutalem Sarkasmus in der Stimme. Zugleich drehte er das Gesicht der am Boden klebenden Hirnmasse zu, um sie sorgsam aufzuklauben. Der verschließbare Behälter mit der eingesammelten Todesfracht landete achtlos auf der Ladefläche. Gleiches geschah mit dem besudelten Laub, Gras und Erdmaterial. Die benutzte Schaufel schlug er aufs Genaueste in einer Plastetüte ein. Alles Tätigkeiten, die ihm geläufig waren. Jeden Zentimeter entkernte Fläche versetzte er mit einer 10%igen Lösung aus Wasser, Wasserstoffperoxid und einem Industriereiniger. Desinfektion funktionierte nie besser. Der Todesfahrer lächelte bei diesem Gedanken. Spuren würde hier niemand finden. Das scharlachrote Metall der Keksbüchse übersah er ungewollt.

»Es ist Zeit. Mach dich auf die Reise, Alter. Dein Sohn lässt ebenfalls grüßen.« Er starrte den toten Körper im Lichtschein der zusätzlich benutzten Taschenlampe an. »Ich bin gekommen, um auf das zerstörte Fleisch zu spucken. Dir widme ich meinen ganzen Hass. Du bist ein Verräter unseres Glaubens. Daher schuldest du mir diesen Kopf hier. Freue dich drauf. Du bestreitest die Macht der Gemeinschaft nicht mehr. Vergiss nicht, die Kameraden sind zahlreich! Ich bin ihr Glaubenswächter und Rächer. Deine Seele gehört mir.«

Aus einem Etui mit Reißverschluss entnahm er ein Skalpell, wie es Mediziner verwenden. Das Scheinwerferlicht reflektierte den Glanz der hochwertigen Edelstahlklinge in den Pupillen. Was übrig blieb, war ein Blitz darin, der von einem Sieg kündete. Der setzte sich in einer geübten Handbewegung fort. Die scharfe Klinge drang unterhalb des Kieferrandes am Kopf in den Hals ein. Wie Butter zerteilte sie die Haut, Knorpel, Muskeln, Sehnen, Arterien und Venen. Die Hand führte das Instrument kraftvoll. Der kompetent auf Zug und Druck abgestimmte Bewegungsablauf zerstörte mühelos den ersten Halswirbel, dessen medizinischer Begriff – Atlas – ihm vertraut war. Seine Aufgabe, das gesamte Gewicht des Kopfes zu tragen, fand damit ein Ende.

»Ab in den Sack, Alter«, sagte er zufrieden, um ihn sofort in einen undurchsichtigen Folienbeutel zu schieben. Zum Schluss verbog er die sterblichen Überreste, indem er solange an ihnen zerrte, bis alles hineinpasste. Die Aufregung war vorbei. Atem und Puls beruhigten sich. Die Dunkelheit verschluckte das Verbrechen. Sie war Teil der sich schleichend ausweitenden Routine im Job des selbständigen Bestatters. Vorsichtshalber kontrollierte er die Verschnürung der Fracht auf dem Pick-up.

»He, hast es bequem?«, nickte er dem Paket zu. »Wir beide fahren in ein Versteck, wo niemand auf die Idee kommt, uns zu suchen. Mit deinem Antlitz habe ich zur Freude der Anhänger Besseres im Sinn.«

Nach ein paar Kilometern wendete das Fahrzeug auf Höhe des Abzweigs zur Rosstrappe. Seine Anwesenheit blieb unbemerkt.

Kapitel 7


Den nervigen Klingelton des Smartphones gewahrte der Gast im Berghotel auf dem Hexentanzplatz wie im Rausch. Minuten vergingen, ehe er begriff: »Für mich. Scheiße, Augen auf. Oh verdammt, wie spät ist es?« Den Oberkörper abrupt senkrecht aufgerichtet, saß er im Bett. »Ah, eine WhatsApp.« Die Nachricht ließ seine Alarmglocken schrillen.

»Ich brauche Hilfe, sofort! Kommen Sie zur Scheune, Evelyn!«

»Moment«, brummte er langgezogen vor sich hin. »Es ist fünf Uhr morgens«, den Blick wie hypnotisiert auf die Zeiger der analogen Armbanduhr gerichtet. Er wählte ihre Nummer.

»Teilnehmer ist abwesend«, erklärte die elektronische Ansagerin.

»Evelyn, nimm ab. Los!« Die Gefühlsregungen im Kopf purzelten durcheinander. Rationale Überlegungen waren ihm nicht vergönnt. Einzig der Gedanke, ihr zu helfen, trieb ihn ungewaschen in die Klamotten. Es gab einen stichhaltigen Grund. Ein Signal auf Rot! Hastig kleidete er sich an. Die Dienstpistole, eine SIG Sauer P6, verstaute er im Holster, das auf der linken Körperseite am Gürtel der Hose hing. Die Frage, ob er von der Waffe Gebrauch machen würde, stellte sich ihm nicht. Im Dienst gehörte es zur Pflicht, sie am Körper zu tragen. Er verließ das Zimmer, begab sich zum Passat auf dem Parkplatz hinter dem Hotel. Von dem Moment an umgab ihn Dunkelheit. Der Schlag auf den Hinterkopf tötete nicht. Nein, der Ausführende schien darin geübt zu sein. Eine Beule mit aufgeplatzter Kopfhaut blieb äußerstenfalls zurück. Unstrittig waren auch die einsetzenden Kopfschmerzen, die mit einer elenden Übelkeit einhergingen. Das Signal, das die Schläger aussendeten, war eindeutig: die Polizei mit beißendem Hohn und Spott bedecken. Sie brauchten nichts im Speziellen zu arrangieren, außer Lorenz dem preiszugeben.

»Komm«, schnarrte der Kleinere den Größeren an. »Versteck deinen blöden Kopf, mach es wie ich«, sagte er bestimmend. »Sieh her. Zieh die Kapuze tief in Gesicht. Los, du gehirnamputiertes Riesenbaby. Ist das Klebeband griffbereit?«, fuhr er stimmgewaltig den Kerl neben ihm an. Er schaute missfallend aufwärts. Zumindest überragte der ihn mit seinen zwei Metern Körpergröße um Längen.

»Klaro, bin ja nicht verblödet«, knurrte der. Dass er dem Rang nach Helfer war, kümmerte ihn nicht. In der Hand hielt er graues, selbstklebendes Gewebeband. »Hier, sieh her! Reicht das?«

Die Antwort entfiel. Stattdessen: »Los, stell den Bullen hier drauf. Halte den Kerl einen Moment fest.« Er griff nach der zusammenklappbaren Sackkarre, um sie eilfertig zu öffnen. »Fixiere ihn darauf provisorisch. Da, das Seil. Zieh los! Ab zur Bronzefigur.«

»Die da mit dem fetten, polierten Arsch? Die Hexe oder was sie darstellt?«

»Was denn sonst? Das ist eine beliebte Kultfigur. Beweg dich, Idiot.«

»Okay. Das ist der Spaß. Sobald das Programm die Bilder hochlädt«, schob er ein feixendes Lachen in den Vordergrund.

»Klappe halten, Kerl. Erledigen wir den Job. Ich trete dir in die Eier, wenn du aufmuckst. Glaub mir, die Älteste schiebt dein dämliches Spatzengehirn in die Verdammnis. Mach hin. Klar?«

»Okay! Bin ja dabei. Stopfen wir ihm das Maul?«

»Ja, pass auf, dass der Bulle nicht erstickt. Haben sonst den ganzen Klüngel am Hals. Und lass die Finger von der Kanone. Deine lüsternen Augen verraten dich. Die Knarre fasst du nicht an. Ist das klar?«

»Von mir aus. Ich mach ja, was du sagst.«

Sie stellten Lorenz dicht an die nach vorn gebückte Bronzefigur heran. Empfindungslos, mit der Routine eines Roboters, folgten Unmengen Klebeband, um seinen Körper mit dem der Figur zu fixieren. Das Riesenbaby zurrte es sorgfältig fest.

»Unzerstörbar«, brummte er befriedigt mit einem Feixen, das dem Ebenbild der Hexe zur Ehre gereichte. Die Umstände beherrschten ihn. »Ist geil, Chef«, sagte er an den Mitstreiter adressiert. »Ein Scheiß Bulle, Bestatter. Sein Markenzeichen verpasse ich ihm eigenhändig. Das brennt sich in den Birnen ein.«

»Fertig mit dem Quatsch? Erledige den Job, du Stück Scheiße«, traf den Redner, dessen Brust sich vor Selbstwertschätzung wölbte. »Keine Namen, hab ich dir gesagt. Schluss damit. Drück den Bullen fester an das bronzene Hinterteil«, hörte er den Meister sagen. »Verdammt, pass auf. Press seine Nase in die Ritze am Arsch. Ich verlange, dass du ihn zumindest symbolisch Scheiße fressen lässt.«

Der Helfershelfer lachte mit einem Grunzen auf. »Ja, kein Problem.« Er drückte das Gesicht mit einem heftigen Ruck an den Werkstoff aus einer Legierung aus Kupfer und Zinn. Zufrieden knurrte er. »Mehr Action? Sieh her, da klebt Speichel mit Blut vermischt an der Bronze.«

»Lass sein. Hast deinen Job erledigt. Es reicht! Die Befreier toben garantiert, wenn sie das Panzerband entfernen. Hat mir Spaß bereitet. Darauf trinken wir nachher einen.«

Von Spaßigkeit blieb angesichts des deprimierenden Bildes nichts übrig. Die Verletzung der Regeln störte sie nicht. Im Gegenteil. Mittlerweile erlaubte das an Helligkeit zunehmende Tageslicht, die Szene mit dem Smartphone lupenrein zu fotografieren.

»Für den Eigenbedarf«, lautete der Befehl ihres Auftraggebers. »Überlasst den schaulustigen Touristen den Vorrang. In einer Stunde gibt es tausende Klicks.«

Und so kam es. Benno Lorenz vernahm aufgeregt diskutierende Stimmen. Das Geschehen aus der Umgebung wahrzunehmen, funktionierte eingeschränkt. Die Augen durchdrangen das undurchsichtige Dunkel der nach Karbol riechenden Verhüllung nicht. Was sich hervortat, erfühlte sich kühl und glatt. Zu allem Überfluss hatte sich im Mund ein metallischer Geschmack aufgebaut. Der vermischte sich mit dem Blut von den aufgeplatzten Lippen. Eine grässliche Angelegenheit, die ihn unmittelbar mit der Gegenwart vernetzte. Er würgte den Speichel hinunter.

»Luft, atme«, schrie die Stimme im Kopf angsterfüllt. Husten begleitete die Welle panischer Angst. Der schmale Spalt unter dem fixierten Mund an der Gesäßspalte der Figur, ließ abfließendes Sekret erkennen. »Spare deine Kraft. Handele wie ein Blinder, besser, sei ein Taubstummer. Konzentriere dich auf die Umgebung«, verordnete den Muskeln Ruhe.

Just in diesem Moment kam die Erinnerung zurück. Der Schlag auf den Hinterkopf, der Schmerz in den Millisekunden bis zur tiefen Ohnmacht mit einer plötzlichen Leere. Die Gedanken rasten, ohne ein Gesamtbild zu formen. Allen angespannten Muskeln zum Trotz verschärfte die völlige Bewegungsunfähigkeit die Angst vor der unbekannten Gebrechlichkeit.

»Bin ich gestürzt? Wo, auf dem Parkplatz?«

Da umschwirrte ihn das Gewirr eines deutlich wahrnehmbaren Bienenschwarms. Es schwoll an, zeigte sich menschlich, gab der eigenen Ohnmacht des Gefangenseins Gewissheit.

Kapitel 8


Gegen sieben Uhr entstiegen zwei Wandergruppen ihren Reisebussen. Der Menschenstrom formierte sich. Er hatte ein Ziel. Die geheimnisumwobenen, doppeldeutigen Figuren auf dem Hexentanzplatz. Den Bronzehintern der Hexe zu berühren, sich dabei zu fotografieren und die Aufnahme unmittelbar auf sämtlichen sozialen Netzwerken zu verbreiten, war mittlerweile zu einem beliebten Ritual geworden. Unabhängig davon waren Hexen in allen Formen und Größen weiterhin die Verkaufsschlager unter den Mitbringseln aus dem Harz. Die Touristen redeten drauflos. Das Spektrum der Reaktionen schlug urplötzlich um. »Donnerwetter, was ist das da? Ein Besoffener? Ein Streich zu Werbezwecken?« In Grüppchen zusammenstehende Menschen gestikulierten konfus durcheinander. Die Aufregung endete in ohrenbetäubendem Getöse. »Helft dem Gefesselten. Nein wartet, macht ein Foto, los komm, eins mit mir drauf«, hörte er verschiedene Male. Hände zerrten an ihm. Ein ratschendes Geräusch, irgendetwas zerriss. Plötzlich schien sein Gesicht zu brennen. Er hatte höllische Schmerzen. Haarbüschel hingen am Klebeband. Abrupt brach das Befummeln ab. »Hey, verdammt, der hat eine Knarre«, beendete den Vorgang. »Lasst ihn stehen. Die Polizei, ruft sie. Das ist ein Gangster. Seht her! Die haben sich gegenseitig beharkt.«

Lorenz fluchte innerlich. »Ihr Idioten, Schwachköpfe. Ich bin ein pflichtbewusster Bürger, Polizist«, verkümmerte in der Wut der eigenen Unfähigkeit, sich zu befreien. Das Gewebeband hielt. Es gebot dem Gefesselten zu schweigen, weil der Speichel, einhergehend mit der bewusst ausgelegten Bemessung der Luftzufuhr, sein Leben bedrohte.

Das zynische Gefeixe seitwärts stehender Motorradfahrer gewahrte er nicht. Einer davon schob sich als Wortführer in den Vordergrund. Hämisch grinsend sagte er: »Das ist für die aufgeladene Schuld, die dir der Wanderführer auferlegt. Lass den Toten ruhen.«

Er hatte kaum geendet, da fiel ihm der, den er Riesenbaby nannte, ins Wort. »Was redest du für eine Kacke? Knacken wir dem Bullen die Knochen.«

»Du bescheuerter Kerl. Nicht heute. Seh´n wir uns an, wie die Warnung auf ihn wirkt. Begreifst du? Komm, wir verziehen uns.«

Die aufgezwungene, halb hockende Körperhaltung verlieh Lorenz eine ungewohnte Zerbrechlichkeit. Die Atemfrequenz erhöhte sich, begleitet von einem Würgen. Muskelstränge in den Oberschenkeln zitterten. Sie verkrampften sich schmerzhaft. Das Schlimmste aber wahr, dass er diesen Zustand nicht aus eigener Kraft ändern, geschweige denn beenden konnte.

»Was zum Teufel haben die mit mir angestellt?« Schrecken und jäh aufkommende Wut erfüllten ihn. Die Umklammerung verhinderte die allerwinzigste Bewegung. Aus dem aufsteigenden Zorn entwickelte sich rasanter Hass. Ohne Fremdhilfe gab es keine Befreiung aus der misslichen Lage. Er stöhnte auf, wenn ihn jemand berührte. Die einzige Möglichkeit, um sich auszudrücken, misslang. Die Masse starrte ihn an wie einen Verbrecher am Pranger.

»Nehmt dem Kerl die Knarre ab«, schrien erneut ein paar der dazugekommenen Urlauber. In diesem Moment mischte sich jemand ein.

»Los, weg hier. Haut ab«, hörte Lorenz den Aufschrei einer furchtlosen Stimme aus der Menge. Die sprach ihn an. »Keine Angst, bin der Busfahrer. Ich werde Sie beschützen. Die Meute ist sensationslüstern. Die Dummheit siegt bei den meisten. Sie verstecken dahinter ihren Flattermann. Sehen Sie es denen nach.« Er beugte sich über den Gefesselten. Der Geruch von Blut mit Erbrochenem hielt ihn nicht ab, sich ihm näher zuzuwenden.

»Halten Sie durch. Ich verschaffe Ihnen Bewegungsfreiheit, um das Atmen zu erleichtern. Keine ruckartigen Bewegungen. Da haben Verpackungsgenies wahre Kunstfertigkeiten gezeigt. Die haben Ihren Körper mit extrem belastbarem Gewebeband fixiert. Ich erkläre das, damit Sie eine Vorstellung von dem kuriosen Bild haben, das Sie abgeben. Ihr Gesicht hängt in der Gesäßfalte des bronzenen Hexenhinterteils hier auf dem Parkplatz am Hexentanzplatz. Das verfolgt Sie garantiert eine Weile. Der Held am Hexenarsch, ist ja cool. Mein Herr, hören Sie mich«, folgte. Im gleichen Augenblick schrie er: »Himmelherrgott, verzieht euch! Ihr seht ja genug. Das hier ist ein Opfer. Gesteht ihm Frieden zu. Die Polizei trifft jeden Moment ein.« Als er registrierte, dass die Menschentraube zurückwich, atmete er einmal tief ein und aus. »Geschafft!«

»Nur noch einen kurzen Augenblick! Ich benutze mein Taschenmesser. Sie sind gleich erlöst. Vorsicht«, mahnte er den Gefesselten. »Drehen Sie das Gesicht zur Seite. Versuchen Sie, Schleim mit dem Blut aus dem Mund auszuspucken. Bitte, keine Rücksichtnahme. Ich bleibe hier stehen, niemand aus der Meute kommt in Ihre Nähe.«

Lorenz konzentrierte sich voll auf den Tonfall. Er bewegte sich ganz langsam. Es gelang ihm, den Kopf zu drehen, und erblickte seinen Beschützer. Sein ehemals blankes Entsetzen verschwand. Er sah in das Gesicht eines Mittvierzigers, das wortlos lächelte. Hastig fuhr seine Zunge über die aufgeplatzten Lippen. Die Haut zeigte sich blass. Sein Helfer sah die Adern, die an der Schläfe pochten. Die Stimme klang kratzig, indes verständlich. Die innere Anspannung aus sich herausschreiend, rief er: »Verdammt, Sie sind mein Lebensretter.«

»Ja, da ist was dran. Im allerletzten Moment. Atmen Sie! Die frische Luft tut gut!«

»Danke für die Hilfe. Ich bin Polizist. Bitte befreien Sie mich auch noch von dem restlichen Klebezeug.«

»Hmm, die Pistole, ein Wunder, dass die fest im Holster hängt. Das Glück war Ihnen wohlgesonnen.«

»Ich lebe! Das zählt! Meine Absicht ist es, das weiterhin zu genießen. Dank Ihres Einsatzes«, schob er hinterher.

Die Reaktion zeigte sich vorhersehbar. »Okay ist mir eine Ehre. Leider ließen sich die Fotografien nicht verhindern. Sie, der Polizist, ein Opfer der Sensationslust. Daraus entsteht mit Sicherheit ein regelrechter Hype.« Er zog die Unterlippe vor Scham zwischen die Zähne, um darauf herumzukauen. Augenblicke später trafen die Einsatzkräfte ein.

»Der Onkel da oben im Himmel ist Ihnen wohlgesonnen, Kollege«, meinte einer der Polizisten mit einem Grinsen auf den Lippen. »Alles dran? Wie riecht denn ein Hexenarsch?«, verkniff er sich nicht.

»Probieren Sie es aus. Vergessen Sie die Hemmungen. Blut, Spucke, Angst sind in hinreichendem Maße verblieben.«

»Verzeihung, Spaß beiseite. Ich sehe äußerlich keine schweren Verletzungen. Ein paar kleinere Schürfwunden. Meine Empfehlung: Bitte konsultieren Sie den Notarzt. Ah, da kommt er ja schon«, sagte er besorgt an Lorenz gewandt. »Vorab bin ich angehalten, dass Sie sich legitimieren. Fürs Protokoll. Sie verstehen?«, brach der Satz mittendrin ab. »Tja, bleibt die letzte, überfällige Sache«, druckste er herum.

»Was? Los!«, brachte Lorenz voller Ungeduld hervor.

»Tja, da, das Holster.« Fahriges Augenzucken und eine betretene Handbewegung folgten. »Verzeihung, meine Pflicht, äh, äh, es tut mir leid, Herr Kollege. Sieht nach einer schrecklichen Demütigung aus. Bitte, die Waffe da, ich bin angehalten, sie auf Vollständigkeit zu kontrollieren, einschließlich der Reservemagazine. Es könnten sich fremde Personen daran vergriffen haben.«

»Stimmt, die Absicht stand einigen Unbekannten ins Gesicht geschrieben. Meinem Retter hier gelang es, dies zu verhindern«, wies er zufrieden lächelnd auf den Busfahrer. »Das ist ein echter Lebensretter und Zeuge der Ereignisse. Der schlug dem Erstickungstod ein Schnäppchen. Danke«, sagte er, um ihm gleichlaufend die Hand zu reichen. »Wir sind ein unschlagbares Team.«

»Ja, bitte ab dem Zeitpunkt, wo ich Sie verschnürt an der Figur fand. Das gebe ich gern zu Protokoll.«

»Okay. Das vereinfacht die Angelegenheit«, traf Lorenz mit Erleichterung.

»Meine Herren, ich bin fertig. Brauche eine Dusche und Kaffee. Im Folgenden ist das Ihr Zeuge«, sagte er an den Leiter der polizeilichen Einsatzgruppe gerichtet. »Unabhängig davon werde ich den Dienstherren über den Vorgang in Kenntnis setzen. Mich erreichen Sie in der Polizeidirektion. Reicht das aus? Ich komme ihrer Bitte nach und lasse den Notarzt einen Blick auf meinen Kopf werfen. Der brummt gigantisch«, meinte er und befingerte die Beule am Hinterkopf. »Verdammter Mist, damit war nicht zu rechnen.«

»Okay, Herr Kollege. Mein Vorschlag, wir reduzieren die Einsatzkräfte.« Er bemerkte, dass Lorenz fahrig auf die Armbanduhr schaute. »Ruhen Sie sich aus«, verlor sich mit dem Handschlag zur Verabschiedung.

Eine Stunde bis zum Treffen mit Evelyn Feist verblieb. Neun Uhr hieß die Vereinbarung. Die Frage, wieso der Anruf nicht rausging, schluckte er vergnatzt hinunter. »Scheiß Smartphone!«

Er mutmaßte nicht, dass sie zeitig in Sorge über den Wirtschaftshof schritt. Ihr Stoßgebet galt der Vergesslichkeit. »Mist, du versteckst dich garantiert wieder bei Erna in der Werkstatt, blödes Mädel«, verschärfte ihre Anspannung. Eine neue Überraschung folgte. Sie formte in ihr den Ruf nach Aufmerksamkeit. Erstaunt, den Cousin um diese Uhrzeit anzutreffen, sagte sie impulsiv: »Du hier, Wilhelm? Was treibt dich um diese Zeit zu uns?«

»Bleib friedlich«, antwortete der mit Spott auf den Lippen. »Ich bin dabei, der Erna die News auf YouTube zu zeigen. Hätte ich von deiner Anwesenheit gewusst, tja, dann bekämst du zuerst das Makabre zu Gesicht.«

Die Schärfe in ihrem Disput blieb nicht unbemerkt.

»Evelyn, lass den Jungen in Frieden seinen Job erledigen«, traf sie überfallartig.

»Oma, ich bin die Ruhe in Person«, verpuffte an der angriffswilligen Haltung der alten Dame.

»Prima, was anderes erwarte ich nicht. Bin heilfroh, dass Wilhelm mich über Neuigkeiten in der Gemeinde unterrichtet. In dem Fall gebührt ihm explizit der Dank. Das wünschte ich mir ebenfalls für meine Kleine. Ev, wenn da nicht diese verdammte Blindheit wäre. Hoffentlich begreifst du, dass das gefährlich ist. Das Seelenheil der Gemeinschaft verklärt sich. Nur dass du es weißt: Es tut mir nicht leid, was da passierte. Ich rufe dich zur Ordnung, Enkelin. Die überschäumenden Gefühle für den Polizisten verpesten die Luft in meiner Werkstatt. Ich sehe es dir an. Für mich stellen solche Überlegungen gewaltige Energien dar, die sich sichtbar in eine Form gießen. Unser Gott hat verhindert, dass du deinem unglückseligen Vater nachgeeifert hast. Vergessen, was ich dich lehrte über die Kontrolle von Empfindungen und bewussten Gedanken?«

Evelyn suchte nach einer gebührenden Antwort. Sie war sicher, den richtigen Ton mit einem Lob zu finden. »Weißt du, fünfunddreißig Jahre lang lebe ich hier. Eine bessere Lehrerin gab es nicht. Bitte, erklär mir, was du damit bezweckst? Weshalb bist du derart aufgebracht? Wessen werde ich beschuldigt?«

»Schweig still«, drang die Maßregelung wider Erwarten scharf in ihren Kopf. »Was ermutigt dich, Fremden das zu zeigen, was uns heilig ist? Verdammt Ev, du gewährst einem Ungläubigen Einblick in unser Seelenheil. Denen versagen wir die Gnade, sich mit uns zu vermischen, denn ihre Vernichtung steht kurz bevor. Du findest einen Ehemann aus den Reihen der Familie. Wenn ich in das Paradies eintrete, bedarf es einer weitsichtigen Nachfolgerschaft. Denk darüber nach.« Sie faltete ihre Hände. Ev erkannte, dass sich dahinter die Offenbarung ihrer Gedanken verbarg. Für die alte Dame war das ein Spiegelbild des inneren Zusammenhalts, vor allem der Konzentration. »Versuchs mit mir zusammen, Evelyn. Sammle dich, werde ein geschlossenes Ganzes. Lass ab von dem Polizisten, dein Gemüt ist augenblicklich still«, endete sie in einem gleichmäßigen Singsang. Ihre Enkelin fand nicht zu der prophezeiten, vereinten Kraft, die sich in den Lebenslinien der Handflächen verbarg. Fehlanzeige, da gab es keinen Zusammenschluss positiver Energien. Die Wirkung des Handlesens blieb aus. »Konzentriere dich, mein Kind«, murmelte die Alte hypnotisierend in der Tonart eines rauschenden Baches. »Benutze beide Hände, lege die Handflächen aneinander, in Brusthöhe, mit den Fingerspitzen senkrecht nach oben gerichtet. Damit vermagst du das Gebet der Seele bewusster zu unterstützen. Sie verstärkt dein Seelenlicht. Spürst du, was die Gedankenkraft hervorbringt? Das ist wegweisend, um zum geistigen Ursprung, dem Ziel des Ungeformten, zurückzukehren.«

»Es reicht! Verzeih, Oma! Du versuchst, mich wie einen Ungläubigen zu missionieren. Ist dir denn nicht klar, dass ich unseren Glaubensinhalten verpflichtet bin? Ich bete regelmäßig für einen erfüllten Tag. Im Moment suche ich mein Handy. Bitte hab Verständnis dafür. Vorträge sind das Letzte, was ich gegenwärtig brauche.«

Die Alte reagierte ohne Zögern. Das Heft aus der Hand geben, niemals käme ihr das in den Sinn.

»Evelyn, du schuldest mir Respekt. Dein Verhalten ist ungebührlich. Versteck dich nicht hinter fadenscheinigen Sprüchen. Seit den Kinderjahren war das Bestandteil meiner Lehre. Wo führt das denn hin? Sag es offen heraus. Du trägst in dir unlautere Gedanken. Sie erzeugen den unverwechselbaren Geruch, den Sex erzeugt. Ich kann das förmlich riechen. Nimm meine Mahnung entgegen. Sex außerhalb der Ehe führt unentrinnbar zum Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dein Opa erfuhr das ebenfalls. Er gehörte zur Sorte der untreuen Hurenböcke. Er trägt Mitschuld am Tod von Werner«, erklärte sie mit grimmigem Blick. »Schau mich an, Ev. Mein treuloser Ehemann verhielt sich wie ein Aussätziger. Wo ich grad dabei bin. Dein Herr Vater folgte seinem Beispiel. Du bist ein Bastard. Die uneheliche Frucht einer verheirateten Ungläubigen. Ich zog dich auf, und das war einzig mein Wille. Das zu vergessen, verzeiht dir Gott nie.«

»Aufhören, Erna«, schrie Evelyn.

»Nein, du hörst zu! Enkelin, du vernebelst dein Gehirn. Verdammt, was treibt dich bloß, mit diesem glaubensfremden Polizisten zu kokettieren. Der schnüffelt in unserer Familie herum. Sein Einfluss schadet der Gemeinschaft. Glaub mir, die Karten haben gesprochen.«

»Sie lügen! Schluss damit! Dein Gefasel schlägt mir aufs Gemüt.«

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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432 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783969010174
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