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Allerdings können Freiheitsrechte nicht unbegrenzt gewährt werden. Ihre Grenzen finden sie regelmäßig in den Freiheitsrechten anderer Menschen. Dies gilt z. B. mit Blick auf die Freiheit, laute Musik auch nach Mitternacht zu hören, mit Blick auf die Öffnungszeiten von Gaststätten, insbesondere in Wohngebieten etc. Die Freiheitsrechte Einzelner müssen, da sie in Konflikt mit den Freiheitsrechten anderer stehen können, in diesen Fällen etwa durch Hausordnungen, Mietverträge, Sperrzeitenregelungen, das Gaststättenrecht u. a. begrenzt werden.

Darüber hinaus würde eine grenzenlose Gewährleistung von Freiheitsrechten („freie Bahn dem Tüchtigen“) typischerweise zu einer erheblichen Ungleichheit der Menschen führen, zumeist zulasten der „Schwächeren“. Bereits an dieser Stelle wird deshalb offenkundig, dass die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, sowie übrigens auch der Freiheit und Gerechtigkeit sowie der Gleichheit und Gerechtigkeit, in einem geradezu unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen.

1.3.3Gewährleistung von Gleichheit

Das Ziel der Gleichheit der Menschen entspricht der zweiten großen Forderung der bürgerlichen Revolutionen und späteren Verfassungen der Neuzeit. Auch im Grundgesetz sind mehrere Gleichheitsgrundrechte enthalten. Gemäß Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Weitere Gleichheitsgebote gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 betreffen die Gleichberechtigung von Männern und Frauen bzw. Benachteiligungsverbote wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Herkunft, des Glaubens, der religiösen und politischen Anschauung etc. Behinderte und nicht behinderte Menschen sind im Grundsatz gleich zu behandeln, ebenso wie eheliche und nichteheliche Kinder (vgl. Art. 6 Abs. 5 GG).

Die Gewährleistung von Gleichheit stellt ein wichtiges Regelungsziel zahlreicher Rechtsnormen dar. Ganz allgemein ist es vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG Aufgabe aller staatlicher Institutionen und Behörden, alle Bürgerinnen und Bürger bei Vorliegen derselben Voraussetzungen gleich zu behandeln. Auch im Strafrecht gilt der Grundsatz, dass jeder unbeschadet der Person vor dem Gesetz „gleich“ ist. Die antike Göttin Justitia trägt deshalb eine Binde vor den Augen, damit „ohne Ansehen der Person“ gerichtet werde.

Die verbundenen Augen der Justitia lehren aber auch, dass Gleichbehandlung eine Verallgemeinerung voraussetzt. Verallgemeinerung wiederum bedeutet Vergröberung und kann sich im Einzelfall wiederum als ungerecht erweisen. Ein reicher Mann kann seinen Schuldner ebenso auf Begleichung seiner Schulden in Anspruch nehmen wie ein Gläubiger, der darauf viel dringlicher angewiesen ist. Und ungerecht erscheint auch der häufig kolportierte Satz: „Jedem ist es verboten, egal ob reich oder arm, unter den Brücken von Paris zu schlafen“; dies erscheint deshalb als ungerecht, weil reiche Bürger gar nicht erst auf die Idee kommen würden, unter einer Brücke zu schlafen.

Dass absolute Gleichheit zu sehr ungerechten oder unbefriedigenden Ergebnissen führen kann, zeigt auch das folgende lustige Beispiel. Ein Vater hat drei Söhne und möchte sie „gleich“ behandeln, indem er ihnen allen drei zu Weihnachten ein Schaukelpferd schenkt. Dieses „gleiche“ Geschenk hat aber bei den drei Söhnen sehr unterschiedliche Begeisterung ausgelöst, weil der eine Sohn drei Jahre, der andere sechs und der dritte 14 Jahre alt war. Die Verwirklichung absoluter Gleichheit führt also, isoliert betrachtet, oft zu unsinnigen oder ungerechten Ergebnissen.

1.3.4Gewährleistung von Gerechtigkeit

Bereits Aristoteles wusste: Bei der Frage der Gleichheit stellen sich häufig auch Fragen nach der Gerechtigkeit. Zuvor hatte Platon gefordert: Es sei nicht jedem genau das Gleiche, sondern jedem das ihm „Angemessene“, jedem das „Seine“ zu gewähren. „Suum cuique“, jedem das Seine, war deshalb eine alte Forderung auch des römischen Rechts. Und in ganz ähnlicher Weise hat sich im Mittelalter Thomas von Aquin geäußert: Die Menschen ins rechte Verhältnis zueinander setzen, ist Gegenstand der Gerechtigkeit.

Die Frage nach der Gerechtigkeit ist eines der zentralen Themen der Philosophie und der Theologie, aber auch der politischen Theorie und der Rechtswissenschaft. Wie kompliziert diese „große Frage“ der Menschheitsgeschichte jedoch sein kann, zeigt bereits folgendes Beispiel aus archaischer Zeit (vgl. Arzt 1996, 22): Der älteste von vier Brüdern hatte eine große Ziegenherde von unbekannter Stückzahl; der zweitälteste, ein Schmied, hatte 30 Ziegen, der drittälteste, ein Lastträger, drei Ziegen. Der Jüngste besaß nichts, sollte jedoch Hirte werden. Dazu gaben ihm der älteste Bruder nichts, der Schmied fünf Ziegen und der Lastträger eine Ziege. Der Schmied besaß nun 25, der Lastträger zwei und der Hirte sechs Ziegen. Nach einigen Jahren hat sich der Bestand beim Schmied auf 50, beim Lastträger auf 10 und beim Jüngsten, der sich dem Geschäft von Berufs wegen widmete, auf 132 Ziegen vermehrt. Auch die Herde des ältesten Bruders hatte sich wesentlich vergrößert.

Da stirbt der Jüngste. Sein Testament lautet wie folgt: Mein ältester Bruder, der mir in meiner Not nicht geholfen hat, soll nichts erben. Meine beiden anderen Brüder sollen meine Herde erben, wobei ich auf den Richter vertraue, dass er nach Anhörung dieser beiden Brüder meine Ziegen an sie gerecht verteilen werde.

Wie hätten Sie nach Anhörung der Brüder die Ziegen aufgeteilt? Nach dem Sachverhalt gibt es mindestens fünf Alternativen für eine „gerechte“ Entscheidung:

•Die erste Entscheidungsmöglichkeit könnte dahin gehen, die Herde von 132 Ziegen in zwei gleiche Teile aufzuteilen, so dass sowohl der Schmied als auch der Lastträger je 66 Ziegen erhielten. Dieser „Halbteilungsgrundsatz“, der zudem unkompliziert zu „handhaben“ ist, entspricht dem deutschen Erbrecht.

•Eine andere Möglichkeit der Entscheidung könnte darin bestehen, die Ziegen nach dem Verhältnis aufzuteilen, wie der Schmied und der Lastträger seinerzeit Ziegen abgegeben hatten. Der Schmied hatte fünf Ziegen abgegeben, der Lastträger eine Ziege. Danach wären die 132 Ziegen im Verhältnis von 5:1 aufzuteilen, so dass der Schmied 110 und der Lastträger 22 Ziegen erhielte.

•Eine weitere Variante wäre eine Aufteilung nach der damaligen „Opferquote“. Der Schmied hatte seinerzeit 1/6 seiner Ziegen abgegeben, der Lastträger 1/3. Dies entspräche einer prozentualen Opferquote von 1:2, so dass der Schmied 44 und der Lastträger 88 Ziegen erhielte.

•Sodann könnten die Ziegen auch nach sozialen Gesichtspunkten verteilt werden, so dass derjenige mehr Ziegen erhielte, der bedürftiger wäre. Entsprechende „Billigkeitsentscheidungen“ nach Bedürftigkeit sieht das Recht an vielen Stellen vor.

•Schließlich könnte auch erwogen werden, die genannten Alternativen für eine „gerechte“ Entscheidung ganz oder teilweise miteinander zu kombinieren. Solche „Kombinationsprinzipien“ gibt es nicht selten im Recht.

Ich überlasse der Leserin und dem Leser die Einschätzung, welche Alternative die „gerechteste“ wäre. Allerdings könnten alle fünf Teilungsmethoden, je aus der Perspektive der Betroffenen betrachtet, als „gerecht“ angesehen werden. Auch der Gesetzgeber befindet sich nun häufig in exakt dieser Situation, zwischen mehreren denkbaren „gerechten“ (oder auch: ungerechten) Entscheidungsalternativen abwägen und sich dann für die eine oder andere Alternative entscheiden zu müssen. Damit wird deutlich, dass „Gerechtigkeit“ keine absolut feste Größe darstellt und häufig maßgeblich davon abhängt, aus welcher Perspektive, Betroffenheit oder Interessenlage heraus eine „gerechte“ Entscheidung getroffen werden soll.

Und da es mitunter mehrere „gerechte“ Alternativen gibt und ggf. keinesfalls Einigkeit darüber besteht, wie etwas „gerecht“ geregelt werden sollte, bedarf es letztlich einer verbindlichen Entscheidung darüber, was rechtens sein soll. Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muss jemand festsetzen, was rechtens ist (Thomas Hobbes); und dies ist in modernen Zivilisationen der Staat, der durch gesetzgeberische Entscheidung festlegt, was in diesem Sinne „rechtens“ ist.

1.3.5Gewährleistung von Rechtssicherheit

Ein weiteres Ziel und eine weitere wichtige Funktion von Recht ist die Gewährleistung von Rechtssicherheit. Auch dazu zunächst zwei Beispiele:

Beispiel:

Familie F. (Vater, Mutter, drei Kinder) will ein Haus kaufen. Die Finanzierung ist nur möglich, wenn auch die vom Staat gewährten Beihilfen bzw. Steuervorteile in Anspruch genommen werden. Familie F. muss sich also darauf verlassen können, dass sich an den im Zeitpunkt der Kaufentscheidung bestehenden Regelungen während deren vorgesehener Geltungsdauer nichts zu ihren Lasten ändert, weil sie sonst ggf. ihr Haus wieder verkaufen müssten. Aus Gründen der Rechtssicherheit hat der Staat deshalb bisher immer dafür gesorgt, dass solche Steuervergünstigungen oder Zuschüsse so lange gewährt werden, wie man im Zeitpunkt der Kaufentscheidung darauf hatte vertrauen können.

Weiteres Beispiel:

Studentin A. will Soziale Arbeit studieren. Ihre Eltern, die in sehr bescheidenen Verhältnissen leben, können sie dabei nicht finanziell unterstützen. A. kann auch nicht nebenbei arbeiten gehen, weil sie noch ihre kranke Mutter betreut. A. ist deshalb auf Zahlungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) angewiesen und muss sich darauf verlassen können, dass die gesetzlichen Regelungen des BAföG für sie während ihres Studiums so bleiben, wie sie zu Studienbeginn bestanden haben.

Die beiden Beispiele zeigen, dass das Verfolgen von Zukunftsplänen Orientierungssicherheit und Realisierungssicherheit voraussetzt. Beides im Sinne von Rechtssicherheit zu gewährleisten, ist deshalb ein weiteres wesentliches Ziel und eine wesentliche Funktion von Recht. Rechtssicherheit soll gewährleisten, dass man sich auf die Geltung von rechtlichen Normen verlassen kann. Rechtssicherheit soll also Messbarkeit und Berechenbarkeit von Recht gewährleisten. Deshalb gilt bei staatlichem Handeln der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Und deshalb gibt es auch das (rechtsstaatliche) Verbot rückwirkender Strafgesetze und rückwirkender Besteuerung. Es ist ein Gebot der Rechtssicherheit, sich darauf verlassen zu können, dass Strafgesetze oder Steuergesetze so gelten, wie dies im Zeitpunkt der Begehung einer Straftat oder im Zeitpunkt des Entstehens der Steuerpflichtigkeit der Fall gewesen war.

1.3.6Friedenssicherung

Eine wesentliche Funktion von Recht ist die der Friedenssicherung, in der in früheren Jahrhunderten sogar die wesentliche Legitimation staatlichen Handelns gesehen wurde. Friedenssicherung gilt nach innen und außen. Nach „innen“, also innerhalb des jeweiligen Staates, erfolgt Friedenssicherung u. a. durch das Strafrecht, das Strafprozessrecht, das Polizeirecht, das Straßenverkehrsrecht u. v. m. Friedenssicherung nach „außen“ soll erreicht werden durch das Friedensvölkerrecht, das Kriegsvölkerrecht, Konventionen der Vereinten Nationen, Verträge z. B. über Truppenabbau, Atomwaffenabbau usw. Internationale Gerichte wachen über die Einhaltung dieser völkerrechtlichen Grundsätze und verurteilen ggf. Kriegsverbrecher (z. B. die überlebenden Hauptschuldigen des Nationalsozialismus in den Nürnberger Prozessen 1946 oder Hauptschuldige von Kriegsverbrechen in den 1990er Jahren auf dem Territorium des früheren Jugoslawiens).

1.3.7Steuerung gesellschaftlicher Prozesse

Eine ganz wesentliches allgemeines Ziel und eine ganz bedeutende weitere Funktion von Recht ist die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse. Auf die Vorschriften des Baurechts, Raumordnungsrechts, Straßenverkehrs- und Luftverkehrsrecht etc. zur Steuerung von „Großvorhaben“ ist bereits hingewiesen worden. Aufgrund des Steuerrechts werden Abgaben erhoben, die zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben erforderlich sind. Zahlreiche Rechtsnormen greifen steuernd in das Wirtschaftsleben ein, z. B. solche des Gewerberechts, des Wettbewerbsrechts, Kartellrechts, des Arbeitsrechts.

Und nicht zuletzt werden durch das Sozialrecht in einem außerordentlich bedeutsamen Umfange gesellschaftliche Prozesse gesteuert. Aufgrund des Sozialgesetzbuchs (SGB) und weiterer Sozialgesetze wird in Deutschland zurzeit ca. ein Drittel des jährlich erwirtschafteten Bruttosozialprodukts „umverteilt“, im Wesentlichen für die Finanzierung von Sozialleistungen.

1.3.8Erziehung

Es gibt Rechtsnormen, mit denen erzieherische Ziele verfolgt werden. Auch dies kann eine Funktion von Recht sein. Auch wenn die Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG vorrangig das Recht (und die Pflicht) zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder haben, wird ab dem Schulalter von Kindern auch der staatlichen Gemeinschaft ein Erziehungsrecht ihnen gegenüber eingeräumt, und zwar insbesondere in den Schulgesetzen (der Länder). Auch das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) – Kinder- und Jugendhilfe – ist insoweit ein Erziehungsgesetz, als es die Erziehung der Eltern in der Familie unterstützt, ergänzt und (ausnahmsweise) sogar ersetzt. Des Weiteren werden mit dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) als einem speziellen Strafgesetz für Jugendliche und Heranwachsende bis zum Alter von unter 21 Jahren u. a. erzieherische Zielsetzungen verfolgt (siehe 14.3).

1.3.9Abschreckung

Daneben haben sowohl das Jugendstrafrecht als auch das Erwachsenenstrafrecht Abschreckungsfunktion. Sie verfolgen explizit und implizit das Ziel, durch Androhung von Strafe zu verhindern, dass Straftaten überhaupt begangen werden. Ähnliche Ziele verfolgen auch manche Regelungen des Ordnungswidrigkeitenrechts.

1.3.10Strafe

Insbesondere die Rechtsnormen des Strafrechts einschließlich des Strafprozessrechts und des Jugendstrafrechts dienen dem Ziel und haben die Funktion, einzelne Bürgerinnen und Bürger zu bestrafen, wenn sie gegen Strafgesetze verstoßen haben. Damit wird der Anspruch des Staates realisiert, strafbares Verhalten zu ahnden. Aufgrund der Entscheidung eines unabhängigen Strafgerichts kann deshalb Freiheitsstrafe verhängt oder zur Bewährung ausgesetzt werden, oder es kommt ggf. zur Verhängung von Geldstrafen, zum Ausspruch eines Fahrverbotes im Straßenverkehr oder zur Einziehung von Gegenständen (Tatwaffen). Näheres dazu wird in den Kapiteln 13 und 14 ausgeführt.

2Rechtsnormen

2.1Charakteristika von Rechtsnormen

Übersicht 4

Charakteristika von Rechtsnormen

– Normierung menschlichen Verhaltens

– Rechtsetzung durch den Staat

– Rechtsetzung durch Mehrheitsentscheidung

– Rechtsetzung durch formalisierte Verfahren

2.1.1Normierung menschlichen Verhaltens

Gegenstand von Rechtsnormen ist im Wesentlichen die Normierung menschlichen Verhaltens bzw. deren Rechtsbeziehungen. (In früheren Zeiten waren mitunter auch Vorschriften für die Natur und für Tiere vorgesehen, wenn z. B. ein Pferd einem Reiter einen tödlichen Tritt versetzt hatte. Als heute kurios anmutendes Beispiel gilt auch der Berner Maikäferprozess von 1479; vgl. Arzt 1996, 2).

2.1.2Rechtsetzung durch den Staat

Rechtsetzung durch Schaffung von Rechtsnormen mit allgemeiner Verbindlichkeit ist Aufgabe des Staates, dem insoweit ein Rechtsetzungsmonopol zukommt.

Vertiefung: Auch dies war in früheren Jahrhunderten nicht selten anders, als es etwa den Göttern oder einem einzelnen Gott oblag, Recht zu stiften. So wird z. B. in der Bibel berichtet, dass Gott seine zehn Gebote auf zwei steinerne Tafeln geschrieben habe (5. Buch Moses, 22). Spätestens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert war das staatliche Rechtsetzungsmonopol jedoch nicht mehr umstritten, wenn es auch unterschiedlich begründet wurde. Die Begründung des Philosophen Rousseau war z. B. die, dass die Mitglieder der Gesellschaft mit dem Staat einen „contrait social“ („Sozialvertrag“) geschlossen und damit das Rechtsetzungsmonopol vertraglich an den Staat abgegeben haben, damit dieser verbindlich für alle Rechtsnormen setze.

„Staat“ kann dabei ein Nationalstaat sein oder als Gliedstaat eines solchen ein Bundesstaat in einem föderativen System wie der Bundesrepublik Deutschland, unter bestimmten Voraussetzungen auch eine kommunale Gebietskörperschaft. Von zunehmender Bedeutung ist zudem die Setzung von Rechtsnormen durch die Europäische Union sowie, wenn auch zum Teil erst in Ansätzen, durch die Vereinten Nationen.

2.1.3Rechtsetzung durch Mehrheitsentscheidungen

In den modernen demokratischen Staaten erfolgt die Setzung von Rechtsnormen zumeist aufgrund von Mehrheitsentscheidungen der vom Volk gewählten Abgeordneten in den Parlamenten. In Deutschland ist dies auf der Bundesebene der Deutsche Bundestag unter Mitwirkung des Bundesrates, in den Bundesländern sind dies die Landtage. Der dort zum Ausdruck gebrachte Mehrheitswille beinhaltet zwar keine Garantie für Gerechtigkeit oder sachliche „Richtigkeit“ der in Rechtsnormen einfließenden parlamentarischen Entscheidungen; dennoch wird diese Vorgehensweise in den westlichen Demokratien als relativ bestes, weil „demokratisches“ Rechtsetzungsverfahren angesehen. Zum Traditionsbestand in den modernen Verfassungsstaaten der Neuzeit gehört dabei aber auch, dass Minderheiten geschützt und maßgeblich am Verfahren beteiligt werden. Bestimmten Minderheiten werden sogar zusätzliche Verfahrensrechte zugestanden (z. B. den Minderheitsfraktionen in den Parlamenten).

2.1.4Rechtsetzung durch formalisierte Verfahren

Wie schwierig und häufig umstritten es ist, „gerechte“ Entscheidungen zu treffen und dem Gerechtigkeitsgefühl entsprechende Rechtsnormen zu verabschieden, ist bereits in Kapitel 1 deutlich geworden (siehe 1.3.4). Wie dargestellt lässt sich nämlich oft nicht ohne Weiteres sagen, welche Festlegungen „gerecht“ sind, weil nicht selten mehrere „gerechte“ Entscheidungen und Rechtsnormen denkbar erscheinen. Auch der Verweis auf das „Gerechtigkeitsgefühl“ (wessen?) oder auch auf die „Vernunft“ (von wem?) führt oft nicht weiter, da Gefühle und Ansichten über das „Vernünftige“ allzu häufig auseinander gehen.

Von daher liegt es nahe, dass der Gesetzgeber sich zwischen mehreren Alternativen „gerechter“ oder „vernünftiger“ Rechtsnormen entscheidet und durch die Schaffung entsprechender Rechtsnormen damit verbindlich festlegt, was „rechtens“ sein soll (vgl. oben 1.3.4). Wichtig für die Legitimation solcher Entscheidungen ist, dass dabei bestimmte Verfahrensregelungen eingehalten worden sind, die z. B. gewährleisten, dass zumindest eine umfassende Abwägung zwischen verschiedenen Alternativen und dass eine umfassende Beteiligung der relevanten Institutionen und Organisationen stattgefunden hat. In nahezu allen Verfassungen wird deshalb detailliert vorgegeben, wie Gesetzgebungsverfahren abzulaufen haben und wie das Zusammenwirken im Parlament, mit der Regierung und ggf. den Verbänden oder anderen Beteiligten zu erfolgen hat.

2.1.5Zunahme des Bestandes an Rechtsnormen

Die Anzahl und der Umfang von Rechtsnormen haben seit Jahrzehnten immer mehr zugenommen. Wesentliche Gründe für die Zunahme des Bestandes an Rechtsnormen sind u. a. in Übersicht 5 angeführt.

Übersicht 5

Gründe für die Zunahme des Bestandes an Rechtsnormen:

– Rückgang traditioneller Hilfepotentiale

– Zunahme öffentlicher Hilfen

– Zunahme von Verrechtlichung durch „Vergesetzlichung“

– Zunahme von Verrechtlichung aufgrund von „Vergerichtlichung“

– Rechtliche Regelung bisher nicht geregelter sozialer oder ökonomischer Sachverhalte

Vertiefung: Traditionelle Hilfepotentiale stell(t)en neben den Kernfamilien die Großfamilien, die Nachbarschaft oder die dörfliche Gemeinschaft dar. Die (Groß-)Familie war Jahrtausende lang – und ist es in vielen Teilen der Welt bis heute – Grundlage und Garant für die Alterssicherung. Von daher war man bemüht, möglichst viele Kinder zu bekommen. Auch was sonst von der engeren Familie nicht geleistet werden konnte, übernahm mitunter die Großfamilie oder die dörfliche Gemeinschaft. Der soziale Wandel hat zumindest in West- und Mitteleuropa weitgehend dazu geführt, dass diese traditionellen Hilfepotentiale stark zurückgegangen oder fast vollständig verschwunden sind.

Dies ging gleichsam Hand in Hand mit der Zunahme öffentlicher Hilfen, etwa in Form der Krankenversicherung, der Rentenversicherung oder der Versicherung gegen andere Lebensrisiken sowie in Form von staatlicher Fürsorge und staatlichem Schutz. In Deutschland kam es seit den 1880er Jahren zur Entwicklung der Kranken-, Invaliden-, Unfall- und Rentenversicherung, und die Sozialgesetzgebung wurde in den folgenden Jahrzehnten immer weiter ausgebaut.

Damit einher ging eine wesentliche Ausweitung des Bestandes an Rechtsnormen aufgrund neuer Gesetze, es kam also zu einer zunehmenden Verrechtlichung durch „Vergesetzlichung“. Dies gilt keineswegs nur für den Sozialbereich, sondern für fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Mit der Zunahme des Straßenverkehrs wurden entsprechende Rechtsnormen in diesem Bereich erforderlich. Mit Blick auf die Wirtschaft mussten Rechtsnormen geschaffen werden, die Wettbewerb ermöglichen oder begrenzen, Arbeitnehmer schützen oder bestimmte Wirtschaftsbeziehungen insgesamt „ordnen“.

Da aber kaum ein Gesetz alle nur denkbaren Fälle regeln kann, ist es Aufgabe der Gerichte, nicht nur Streit zu schlichten, sondern auch Recht fortzuentwickeln. Durch Entscheidungen von Gerichten entsteht also Recht in Form von „Richterrecht“, das die vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtsnormen interpretiert und ergänzt. Das dadurch geschaffene Richterrecht wird so ebenfalls zu einem maßgeblichen Orientierungspunkt für die Rechtspraxis. Insbesondere höchstrichterliche Entscheidungen der obersten Bundesgerichte tragen maßgeblich zur Rechtsfortentwicklung bei (Verrechtlichung durch „Vergerichtlichung“).

2.2Objektive und subjektive Rechtsnormen

2.2.1Objektives und subjektives Recht

Für die gesamte Rechtsordnung und auch die Soziale Arbeit ist es wichtig, zwischen objektivem und subjektivem Recht zu unterscheiden.

Unter objektivem Recht oder objektiven Rechtsnormen versteht man die gesamte Rechtsordnung bzw. die Gesamtheit der existierenden Rechtsnormen. Dazu zählen alle Gesetze wie z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) oder das Sozialgesetzbuch (SGB). Auf die dort enthaltenen objektiven Rechtsnormen kann sich der Einzelne allerdings nur berufen bzw. auf ihrer Grundlage Klage vor den Gerichten erheben, wenn ihm zusätzlich auch ein subjektives Recht, meist in Form eines (Rechts-)Anspruchs, zusteht. Häufig ist es so, dass mit objektiven Rechtsnormen auch subjektive Rechte Einzelner verbunden sind. Allerdings ist dies keineswegs immer der Fall. Deshalb muss man objektive und subjektive Rechte voneinander unterscheiden, wie die Übersicht 6 verdeutlicht.

Übersicht 6

Rechte

1.Objektives Recht

= die gesamte Rechtsordnung

= die Gesamtheit der Rechtsnormen

2.Subjektive Rechte

= Rechte des Einzelnen

2.1Herrschaftsrechte als Rechte,

2.1.1die sich gegen jedermann richten (= absolute Rechte), z. B. Eigentumsrechte;

2.1.2die sich gegen einzelne Personen richten (= relative Rechte), z. B. Forderungen aufgrund eines Kaufvertrages.

2.2Gestaltungsrechte, z. B. Kündigung eines Mietvertrages

2.3(Rechts-) Ansprüche

2.3.1des Privatrechts (§ 194 BGB),

2.3.2des öffentlichen Rechts (z. B. §§ 24, 27 SGB VIII).

Vertiefung: Objektive Rechtsnormen stellen gleichsam Verpflichtungen Einzelner bzw. eines Trägers hoheitlicher Verwaltung dar. Berufen kann sich der Bürger jedoch nur auf subjektive Rechte, die ihm ausdrücklich in einer Rechtsnorm zugebilligt werden; diese kann er dann auch vor Gerichten gegen den Willen anderer durchsetzen („einklagen“). Die wichtigsten subjektiven Rechte, als Rechte des Einzelnen, sind Ansprüche; vielfach wird dafür auch der inhaltsgleiche Begriff „Rechtsansprüche“ verwendet. Solche gibt es sowohl im privaten Recht als auch im öffentlichen Recht. § 194 BGB definiert einen privatrechtlichen Anspruch allgemein als das Recht eines Einzelnen, von einem anderen ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu verlangen. Aufgrund eines Kaufvertrages hat der Käufer gemäß § 433 BGB z. B. einen Anspruch, von dem Verkäufer die Übergabe eines gekauften Autos zu verlangen, während der Verkäufer gegenüber dem Käufer einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung hat.

Beispiele des öffentlichen Rechts für ein solches subjektives Recht in Form eines Anspruchs sind etwa der Anspruch eines Kindes ab dem vollendeten ersten/dritten Lebensjahr auf den Besuch einer Tageseinrichtung (§ 24 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 SGB VIII). Und ein Personensorgeberechtigter (zumeist ein Vater und/oder eine Mutter) hat unter bestimmten Voraussetzungen gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung. In beiden Fällen können diese Ansprüche gegenüber der öffentlichen Verwaltung (hier: dem Jugendamt) vor Gericht „eingeklagt“ und damit durchgesetzt werden.

2.2.2Möglichkeiten der Einteilung von Rechtsnormen

Vertiefung: Wenn man noch einmal einen Blick auf das objektive Recht wirft, kann man die verschiedenen Rechtsnormen wie in Übersicht 7 einteilen.

Übersicht 7

Möglichkeiten der Einteilung von Rechtsnormen

1. nach der Rechtsquelle: Gesetzes- und Verordnungsrecht sowie Gewohnheitsrecht

2. nach dem Geltungsbereich der Rechtsnorm: inländisches und ausländisches Recht

3. nach dem Inhalt der Rechtsnorm: öffentliches Recht und Privatrecht

4. nach der Wirkung der Rechtsnorm: zwingendes und dispositives Recht

5. nach der Zeit: ab einem / bis zu einem bestimmten Datum

Weitere Vertiefung: Neben dem Gesetzes- und Verordnungsrecht gibt es auch ungeschriebenes, so genanntes Gewohnheitsrecht, das gewohnheitsmäßig allgemein anerkannt wird. Aufgrund der oben dargestellten Zunahme der geschriebenen Rechtsnormen gibt es in Deutschland nicht mehr viel Gewohnheitsrecht. Ein „klassisches“ Beispiel dafür war das früher gewohnheitsrechtlich anerkannte „Züchtigungsrecht“ von Eltern und Lehrern; zum Glück ist inzwischen in Rechtsnormen definitiv geregelt worden, dass eine solche „Züchtigung“ (also: das Verprügeln von Kindern zu Zwecken der „Erziehung“) unzulässig und verboten ist.

Vom (Herkunfts- und) Geltungsbereich her kann man inländisches und ausländisches Recht unterscheiden. Besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen Zivilrecht (oder Privatrecht) und öffentlichem Recht (dazu 2.4). Von der Wirkung her gibt es zwingendes und dispositives Recht. Zwingendes Recht gilt immer ohne Ausnahme, dispositives Recht lässt ggf. ein Abweichen von Rechtsnormen aufgrund vertraglicher Vereinbarungen zu.

Beispiel:

Für den Fall der Ehescheidung sieht das BGB unter bestimmten Voraussetzungen nachehelichen Unterhalt für den geschiedenen „Ex“-Ehepartner vor (§ 1569 ff. BGB). Von diesen Regelungen können die (früheren) Eheleute jedoch gemäß § 1585c BGB abweichende Vereinbarungen schließen, können also aufgrund eines (notariellen) Vertrages z. B. auch auf nachehelichen Unterhalt verzichten.

Nicht mehr von großer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen vor- und nachkonstitutionellem Recht. Mit vor- bzw. nachkonstitutionellem Recht (von lat. „constitutio“ = Verfassung) sind Rechtsnormen gemeint, die vor bzw. nach Inkrafttreten des Grundgesetzes (im Jahre 1949) geschaffen worden sind. Die für die Soziale Arbeit wichtigsten Rechtsnormen stammen mittlerweile fast alle aus der Zeit nach 1949. Ein Beispiel für nach wie vor gültiges vorkonstitutionelles Recht ist das Gesetz über die religiöse Kindererziehung aus dem Jahre 1921.

2.3Hierarchie, Zitierweise und Strukturen von Rechtsnormen

2.3.1Rechtsquellen

Es gibt Rechtsnormen unterschiedlicher Herkunft und Bedeutung, die in einem gestuften, hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Die verschiedenen Rechtsnormen werden in diesem Zusammenhang häufig auch als „Rechtsquellen“ bezeichnet.

Grundsätzlich ist es so, dass die von der jeweils „höheren“ Ebene erlassenen Rechtsnormen denjenigen übergeordnet sind, die auf einer „unteren“ staatlichen Ebene erlassen worden sind. Deshalb gehen Rechtsnormen der Europäischen Union denen der Bundesrepublik Deutschland (als Gesamtstaat) vor, deren Rechtsnormen wiederum gegenüber denen vorrangig sind, die auf Landesebene geschaffen sind (dazu: Hömig/Wolff 2016, Erläuterungen zu Art. 31 GG).

Auf das Europäische Recht soll im Folgenden nicht näher eingegangen werden, da es bislang für die Soziale Arbeit in Deutschland noch keine wesentliche Bedeutung erlangt hat. Dies wird sich möglicherweise in den nächsten Jahren ändern, wie die Entwicklungen z. B. im Bereich des Wirtschaftsrechts, des Gesundheitsrechts, des Umweltrechts und partiell auch bereits des Sozialversicherungsrechts gezeigt haben. Auf Rechtsnormen der Europäischen Union soll an dieser Stelle auch deshalb (noch) nicht eingegangen werden, weil dort zum Teil Begriffe verwendet werden, die im deutschen Recht eine andere Bedeutung haben.

Die deutschen geschriebenen Rechtsnormen stehen in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander (Übersicht 8).

Übersicht 8

Stufung/Hierarchie von Rechtsnormen in Deutschland

1.Bundesrecht

1.1Grundgesetz (GG) = Bundesverfassung

1.2Bundesgesetz

1.3Bundesrechtsverordnung

Bundesrecht bricht Landesrecht (Art. 31 GG)!

2.Landesrecht

2.1Landesverfassung

2.2Landesgesetz

2.3Landesrechtsverordnung

2.4Satzung, z.B. von Gemeinden oder Sozialversicherungsträgern

Die oberste Rechtsnorm bzw. oberste Rechtsquelle in Deutschland ist das Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik aus dem Jahre 1949, unsere Bundesverfassung (im Einzelnen dazu Kap. 8). Dort sind die wesentlichen Grundentscheidungen für das Verhältnis von Bürger und Staat und für den Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland getroffen worden. Danach ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat und zugleich ein Rechtsstaat. Außerdem enthält das Grundgesetz in den Art. 1 bis 19 Grundrechte und in den Art. 20 bis 146 Regelungen des so genannten Staatsorganisationsrechts: über die Verfassungsorgane und ihr Verhältnis zueinander (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht) sowie über weitere Themenbereiche wie Verwaltung, Finanzverfassung, Bundeswehr u. a. m. Das Grundgesetz geht allen anderen Rechtsnormen der Bundesrepublik Deutschland sowie der Länder vor, bzw. diese dürfen nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. Ist z. B. ein Bundesgesetz nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, kann es vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben werden.

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9783846353868
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