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Seelenpfad 3

Und gehen

… und sehen

sehen o Wunder …

Heinz-Albert-Heindrichs (* 1930)

Maria hatte gleich das nächste Schiff genommen. Tant’ Mimi wohnte in der Siedlerstraße, hatte sich eines der grauen Häuser zurechtgemacht und vermietete Zimmer an die Feriengäste. Nur eines hielt sie immer frei. Für Karl. Manchmal dachte Maria, dass Onkel Karl womöglich eine Liebesbeziehung zu Mimi hatte. Aber sie konnte sich ihn nur schwer als Liebhaber vorstellen.

Er war nicht nur äußerlich, sondern auch vom Wesen her sehr speziell. Ein prima Kumpel, ein Mann, auf den man sich in jeder Lebenslage verlassen konnte. Für so manche Frau mochte das reichen. Doch Maria fiel es schwer, sich das einzugestehen: Onkel Karl glich er einem abgeliebten Teddybären. Sein Rauschebart ließ kaum einen Blick auf die Gesichtszüge zu. Ein Rest rot geäderter Wangenhaut blinzelte unterhalb des Auges hervor, zeugte von häufigem Aufenthalt an der frischen Luft. Viel Mimik war bei ihm ebenfalls nicht zu erkennen. Einzig seine Lippen bewegten sich ununterbrochen, wie bei einem Fisch, der an Land nach Luft schnappte. Seine Augen wirkten so, als würden sie immer lächeln. An den meisten Tagen trug er eine Latzhose, die er nur hin und wieder gegen eine dunkelbraune, verwaschene Cordhose tauschte.

Nein, Maria konnte es drehen, wie sie wollte: Onkel Karl war alles andere als attraktiv. Wobei Tant’ Mimi mit ihrer übergewichtigen Dominanz auch nicht auf den Laufstegen dieser Welt zu Hause war. Von daher waren ihre Ansprüche vielleicht nicht so hoch.

Karl hatte bei Mimi angerufen und Marias Kommen angekündigt. Noch während des Telefonats hatten seine Hände dermaßen vibriert, dass Maria kaum hinsehen mochte. Immer wieder schüttelte Karl den Kopf, während er Tant’ Mimi die Situation klar machte.

Maria hatte zu Hause die Tasche noch gegen Karls Trolley eingetauscht. Es machte einen Höllenkrach, als sie damit über das unebene Pflaster lief. Auch nicht besser als Autolärm, dachte sie und stellte sich vor, wie es klingen musste, wenn sich ganze Gruppen auf den Weg in das Oldenburger Heim oder zur Villa Kunterbunt, dem Mutter-Kind-Heim, machten.

Tant’ Mimi wartete schon im Vorgarten. Sie zupfte an ein paar Blütenstängeln herum, die noch vom Vorjahr karg ins Licht schauten. Außer den vereinzelten Krokussen war noch kein Farbtupfer im Garten zu erkennen. Es war zu lange viel zu kalt gewesen. Schwerfällig stemmte Mimi ihren Oberkörper in die Höhe. Sie blinzelte in die Sonne, als Maria vor ihr stand.

»Da bist du ja, mien Deern.« Sie strich ihr mit der erdigen Hand über die Wange. Es kratzte, als dabei ein paar Krümel zur Erde fielen. »Warst so lange nicht mehr hier. Hätte dich kaum erkannt.« Sie schürzte die Lippen. »Zehn Jahre sind das wohl.«

Maria nickte. Im Sommer waren es zehn Jahre.

Tant’ Mimi bugsierte sie ins Haus, in dem es etwas abgestanden und leicht schimmelig roch. Marias feine Nase hatte den typischen Geruch sofort eingefangen.

»Tee?«, fragte Tant’ Mimi und setzte schon den Kessel auf den Herd.

Maria verstaute derweil ihre Tasche im Zimmer.

»Hast auch eine eigene Dusche«, hörte sie Tant’ Mimi.

Es war Maria egal, sie hätte sich das Bad auch mit anderen geteilt. Schließlich wollte sie sich hier nicht erholen.

»Warum bist denn du überhaupt auf der Insel?« Tant’ Mimis Stimme klang angestrengt, als recke sie sich gerade, um etwas vom Schrank zu holen. Über Marias Gesicht glitt ein flüchtiges Grinsen. Tant’ Mimi holte den Kandis von dort oben. Mimi war kein Mensch, der in seiner kleinen Welt gern etwas veränderte.

Maria antwortete nicht, stand mit hängenden Armen vor ihrem Bett. Karl hatte es Tant’ Mimi doch am Telefon lang und breit erklärt, und auch aus ihrem Mund würde seine Cousine es nicht verstehen. Die hatte ihre eigene Sichtweise auf die Dinge. Was vorbei war, war vorbei. Wer gestorben war, war gestorben und konnte nicht wieder zum Leben erweckt werden. Besser, man verdrängte alle Erinnerungen. Sie lebte nach der Vogel-Strauß-Methode. Kopf in den Sand und abtauchen. Da war sie wie Karl.

Achim war nun schon lange verschollen. Wenn er tot war, würde von ihm nicht mehr viel übrig sein. Wahrscheinlich gar nichts. Nicht ein Haar, vielleicht ein paar Knochen. Maria kannte sich damit nicht aus. Das Meer hatte bestimmt entsprechend dazu beigetragen.

Gleich wollte Maria noch zum Osten raus radeln. Es war wie eine Schocktherapie und sie wusste auch nicht, ob es eine gute Idee war. Ob nicht zu viele Erinnerungen ausgegraben werden würden.

»Tee ist jetzt fertig, mien Deern. Setz dich zu mir.«

Maria seufzte und schlich in die Küche. Auf dem runden Eckregal tanzten noch immer zwei Porzellanfeen um eine halbnackte grüne Meerjungfrau und kleine gehäkelte Blumen schmückten die Fensterbänke. Nichts sah auch nur ansatzweise anders aus als vor zehn Jahren. Sogar das schlammfarbige Tischtuch zierte den dreibeinigen Beistelltisch noch wie damals.

Trotz der Furcht vor der eigenen Courage fühlte Maria an diesem Ort so etwas wie ein Nachhausekommen. Sie hatte schreckliche Angst vor dem, was sie hier finden könnte. Am meisten fürchtete sie sich davor, zu viel von sich selbst zu entdecken, ihren Erinnerungen nicht gewachsen zu sein.

Tant’ Mimi bemerkte davon nichts. Redete ununterbrochen über den zu kalten Frühling, über den Garten ihrer Nachbarin und ob die Insel in drei Wochen von den Badegästen förmlich überflutet werden würde. Sie hoffte auf eine große Ausbeute. »Immerhin habe ich viel renoviert im letzten Winter.«

Maria blickte erstaunt zu Tant’ Mimi. Die Küche war von den Neuerungen definitiv nicht betroffen.

Tant’ Mimi realisierte Marias fragenden Blick sofort. »In den Gästezimmern. Das muss sich jetzt auszahlen.« Sie wiegte den Kopf. Allein die Toilette habe sie ein Vermögen gekostet. Keiner müsse noch an der Strippe ziehen. Zwei runde Scheiben an der Wand waren für alles zuständig. Eine zum Wassersparen. Man käme nicht umhin, an den Aufwand zu denken, mit dem das Wasser vom Festland hierher gebracht werden würde. Die Wasserlinse unter der Insel reiche schließlich nicht, dazu sei Wangerooge viel zu sehr geschrumpft. Man munkele jetzt sogar, die Insel sei mittlerweile kleiner als Baltrum. Aber davon wollten weder die Wangerooger noch die Baltrumer etwas wissen.

Tant’ Mimi war nicht zu stoppen. Auch die Stelle des Inselarztes sei vakant. Eine Vertretung wäre jetzt da.

Maria trank ihren Tee, sagte aber nichts dazu. Das wusste sie noch von früher: Tant’ Mimi widersprach man besser nicht und eine Unterbrechung des Redeflusses wurde mit einem noch ausschweifenderen geahndet.

Nach drei Tassen mochte Maria nicht mehr. Tant’ Mimi kochte den Tee so stark, dass sie bei zu großer Menge Magenschmerzen davon bekam. »Ich will los, Tant’ Mimi. Noch ist es hell.«

»Komm ja vor Sonnenuntergang zurück!« Sie kniff die Lippen zusammen, nickte beflissen mit dem Kopf. »Hier treibt sich ein Mörder herum.«

Maria nahm sich Tant’ Mimis Fahrrad, das sie vorher bereitgestellt hatte. Die Straße war arg uneben und die Reifen holperten über die Siedlerstraße in Richtung Osten. Der Flughafen lag sehr ruhig da, noch schlief die Insel ihren Winterschlaf. Doch schon bald würden die Maschinen in Schwärmen aufsteigen und landen.

Je weiter Maria aus dem Dorf herausfuhr, desto freier fühlte sie sich. Sie hätte dieses Gefühl selbst nicht für möglich gehalten, aber die große Furcht, die sie eben noch in Tant’ Mimis Haus befallen hatte, war wie weggeblasen.

Schon am ersten Dünenübergang stellte sie das Rad ab. Es zog sie an den Strand und die steilen Dünenhänge. Sie wollte die Schaumkronen vom Meer sehen, wenn die Wellen sich brachen. Egal, wie das hier ausging. Sie war über sich selbst hinausgewachsen, indem sie den Mut gefasst hatte, nach Wangerooge zu reisen. Auf dem Dünenkamm stellte sie sich auf und schaffte es zum ersten Mal nach zehn Jahren, sich gerade hinzustellen, den Rücken aufzurichten.

Das Schicksal des kleinen Jungen hatte sie hierher geführt, damit sie das vollenden konnte, was sie musste, um endlich leben zu können.

Unten am Weg stand ein Pfahl mit einer Tafel darauf. Maria fühlte sich magisch angezogen. Und gehen hieß das Gedicht. Sie würde gehen. Sie würde sehen, atmen und am Ende hören, was das Leben ihr zu sagen hatte. Sie ging los, ihren neuen Weg entlang.

*

Daniel hatte Maria vorhin fortgehen sehen. Mit dem Trolley in der Hand. Er konnte das nicht zulassen. Sie war seine Braut, auch wenn sie das noch nicht wusste. Was hatte er nicht schon für sie getan. Und er wollte es noch weiter tun. Liebe kannte keine Grenzen. Ihm war klar, wohin sie unterwegs war und er würde ihr nach Wangerooge folgen. Nicht einen Schritt durfte sie ohne ihn machen. Er musste auf sie aufpassen. Das hatte er sein Leben lang so gehalten. Auch als die Sache mit dem Jungen damals passiert war, war er da gewesen.

Sie hatten sich zusammen für die Betreuung der Kinder angemeldet. Das heißt, sie hatte sich angemeldet und er hatte es ihr gleichgetan. Nur in ihrer Nähe wollte er sein. Es war für ihn so wichtig wie essen und trinken. Auch wenn sie seine Sehnsucht nicht erwiderte, nicht begriff, welche Anziehungskraft sie auf ihn hatte. Er liebte ihren warmen Blick, der in den letzten Jahren von so unglaublicher Traurigkeit geprägt war. Er liebte ihren recht kräftigen Po, der für ihn nicht dick, sondern einfach wahnsinnig weiblich war. Er liebte den vollen Mund, der sich viel zu selten zu einem Lachen verzog, obwohl Marias Schönheit erst durch ein Lächeln richtig zur Geltung kam. Er liebte sogar ihre kleine Speckfalte oberhalb des Hosenbundes, die sich auch mit geschickter Kleidung nur schwer verbergen ließ. Sie gehörte zu Maria, genau wie ihre Wortkargheit, die sie nur durchbrach, wenn sie wirklich etwas zu sagen hatte. Maria war keine Frau, die wahllos drauflosplapperte. Sie redete nur, wenn sie es für unabdingbar hielt.

Daniel kniff die Augen zu. Warum nur wollte sie nun nach Wangerooge? Er selbst segelte ab und zu rüber, versuchte aber, die Kindermassen nicht zu beachten, die das ganze Jahr über aus den Schullandheimen über die Insel schwärmten.

Er dachte an den liebevollen Blick, mit dem Maria dieses hässliche sommersprossige Kind damals immer angesehen hatte. Das, was aussah wie einer der Simp­sons. Oder wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Er fand keinen passenden Vergleich, weil es für diese Ausgeburt an Hässlichkeit keinen gab. Er war schlaksig und eigenwillig gewesen. In Daniels Augen auch viel zu besitzergreifend. Wenn er nur an dieses blöde Lied dachte, das der Kleine ständig beim Anziehen gesungen hatte: »Erst die Schuhe, dann die Jacke, dann die Mütze, dann der Schal.«

Dabei hatte er gekichert. Weil Sommer war und er weder Mütze noch Schal brauchte. Wenn er die Handschuhe dazu kreierte, hatte er sich schließlich vor Lachen auf dem Fußboden gekugelt.

Dass der Seenebel Achim mitgenommen hatte, war für Daniel eine gute Fügung des Schicksals gewesen. Verschluckt und weg. Das durfte er natürlich nur denken, solche Gedanken sprach man nicht aus.

Maria hatte sich danach Hilfe suchend an ihn geklammert. Sie war so froh gewesen, dass er da war. Daniel, ihr bester Freund. Er, der ihr sacht über das halblange Haar gestrichen hatte. Eine Strähne nach der anderen war ihm durch die Finger geglitten. Maria hatte unvergleichlich weiches Haar. Sie hasste es, weil sie es nicht richtig frisieren konnte. Nicht eine Spange hielt darin. Daniel aber liebte es. Diese Gar-nichts-Farbe, die Marias Onkel liebevoll als straßenköterblond bezeichnete.

Er sah es noch sacht im Wind fliegen, als sie gerade mit ihrem Trolley um die Ecke gebogen war. Er würde ihr folgen. Wie er es immer in seinem Leben getan hatte. Und wie immer würde sie es hinnehmen, es nicht wirklich bemerken.

*

Angelika Mans hatte rotgeweinte Augen. Ihre Gesichtszüge waren erstarrt, wirkten maskenhaft. Rothko war klar, dass er vorsichtig vorgehen musste. Diese Frau war in ihren Grundfesten erschüttert worden. Sie schwebte ohne Halt durchs Leben, wusste noch nicht, wie sie sich ohne ihr Kind neu platzieren sollte, ja wie sie überhaupt ohne Lukas weiterleben konnte. Wobei er aus Erfahrung wusste, dass das Ausmaß des Schmerzes, die ganze Intensität, noch gar nicht bei ihr angekommen war.

Rothko hatte Tee gekocht, aber der war ihm nicht so recht gelungen. Er hatte eine uringelbe Färbung und erinnerte nur mit großer Fantasie an das, was man echten Ostfriesentee nannte. Angelika Mans schien es egal zu sein. Sie hatte wahrlich andere Sorgen, als sich um schwachen oder starken Tee zu kümmern. Wahrscheinlich schmeckte sie den Unterschied nicht einmal.

»Wissen Sie, wo der Kleine an diesem Morgen hinwollte?« Rothko bemühte sich um einen sensiblen Tonfall. Am liebsten würde er schweigen, gar nichts sagen, aber das war in diesem Fall völlig unmöglich. Er musste den Menschen finden, der dieser Frau und ihrem Kind das angetan hatte.

Angelika schüttelte den Kopf. Nein, sie wisse nicht, wo er hinwollte. Normalerweise schlafe ein Kind um diese Zeit und treibe sich nicht draußen herum.

Ganz langsam bewegte sie dabei ihren Kopf hin und her, wurde mit ihrer Bewegung aber immer schneller. Am Ende schleuderten die aschblonden Haare um ihr Gesicht, bis sie abrupt innehielt. Gleichzeitig mit diesem Stopp sank ihr Kopf auf die Tischplatte. Die Frau war einfach erledigt. Viel mehr als gestern würde nicht aus ihr herauszukriegen sein. Der Schmerz hatte ihre Sinne betäubt, duldete keine nähere Erinnerung an das, was so wehtat, dass es nicht auszuhalten war.

Rothko, der keine Kinder hatte, bekam eine vage Ahnung davon, dass man ein Stück von sich selbst verlor, wenn ein Kind plötzlich nicht mehr da war. Angelika Mans kam ihm wie abgeschnitten vor. Nicht so, als fehle ihr mindestens ein Körperteil, sie wirkte eher wie seelenamputiert.

Ihre Stimme klang dumpf, als sie wie zur Bestätigung sagte: »Es ist, als habe man ein Stück vom Herzen entfernt. Mein Zentrum fehlt, Herr Kommissar. Alles verliert seinen Sinn. Ohne ihn.« Sie hob kurz den Blick. »Ohne Ehepartner kann man leben. Das habe ich begriffen, als er mich wegen einer anderen verlassen hat.« Sie warf mit einer energischen Handbewegung die Haare über die Schultern. »Das war nichts gegen das, was jetzt in mir vorgeht.« Ihr Kopf sank zurück auf die Tischplatte.

Es hatte etwas von »Vorhang zu«, dachte Rothko.

»Nichts«, wiederholte sie.

Der Kommissar räusperte sich. So kam er nicht weiter. Aber er hatte absolut keine Lust, sich einen Seelenklempner dazuzuholen, der ihm auch noch ins Handwerk pfuschte. Irgendwie musste er selbst an die Frau herankommen.

»Wo ist Ihr Mann denn jetzt?«, fragte er.

Angelikas Schultern zuckten fast unmerklich. »Ex-Mann«, korrigierte sie. »Keine Ahnung. Er tourt durch die Welt. Mit seiner Neuen.«

»Es ist aber ausgeschlossen, dass er sich auf Wangerooge befindet?«

Angelika erhob ihren Kopf. Sie zupfte ein Papiertaschentuch aus der Tasche. Rothko erwarte, dass sie sich nun kräftig schnäuzte. Ihre Stimme klang von dem vielen Weinen ganz näselnd. Als sie mit den Fingern über die Nasenspitze wischte, zog sich glasiger Schleim über ihr Handgelenk.

Angelika tupfte sich mit dem Taschentuch zunächst vorsichtig über die Augen, tastete sich hinunter zum Nasenflügel, den sie beim Abwischen hin und her bewegte. Danach war ihre Haltung merklich aufgerichteter und die Stimme fester. »Mein Ex-Mann hasst die Insel. Zumindest hat er das während unserer Ehe getan.« Sie schaute Rothko fest an. »Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass er hier ist oder war.«

»Weiß er denn Bescheid?« Rothko nahm einen Schluck von dem blassen Tee und verzog angewidert das Gesicht. Der Kaffee oben war schon eine Katastrophe, aber dieses Gebräu grenzte an Folter. Zum Teufel, warum hatte sein Inselkollege nicht einmal hier eine Kaffeemaschine? Er schien eingefleischter Teetrinker zu sein. Rothko hatte nichts gegen Sitten und Gebräuche, aber man musste schließlich nicht dogmatisch an allem festhalten, wenn es bessere Alternativen gab.

»Nein, Herr Kommissar. Er hat sein Handy ausgeschaltet. Ich habe am Tag vor Lukas’ Verschwinden mit ihm gesprochen.« Sie hielt inne, sprach dann sehr überlegt weiter, als müsse sie die Tragweite eines jeden Wortes genau abwägen. »Gestritten haben wir. Über nichts, wie immer. Lukas hat das völlig verstört.« Sie schluckte. »Auch wie immer. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wo er sich gerade aufhält.« Sie tupfte ihre Augen trocken. »Darüber haben wir nicht geredet. So war das dauernd.« Angelika Mans sah ihn von unten her an. »Hören Sie mir überhaupt zu?«

Rothko schreckte zusammen. »Natürlich höre ich zu, Frau Mans.« Er räusperte sich. »Ihr Mann ist also irgendwohin entfleucht. Was hatte er denn für eine Beziehung zu Lukas?«

Angelika Mans lachte schrill auf. »Beziehung?« Wieder folgte dieser merkwürdige Ton. »Er hat ihn vergessen. Einfach vergessen in seinem neuen Leben.« Sie sank erneut in sich zusammen. »Es gibt uns nicht mehr.« Angelika stieß mit gespitztem Mund Luft aus, als puste sie eine Kerze aus. »Weg. Einfach weg.«

Rothko schob seinen Oberkörper ein Stück weit über den Tisch. »Könnte es sein, dass er …«

Angelikas Augen vergrößerten sich. Ihre Stirn legte sich in Falten. Ganz langsam begann sich ihr Kopf zu bewegen. Sie verneinte die Frage, das war eindeutig.

Rothko lehnte sich zurück. Egal, was Angelika Mans sagte, sie war befangen. Er würde den Vater von Lukas finden und ihm gehörig auf den Zahn fühlen.

Seelenpfad 4

Heute hier, morgen dort

So vergeht Jahr um Jahr,

und es ist mir längst klar,

dass nichts bleibt, dass nichts bleibt,

wie es war.

Hannes Wader (* 1942)

Kristian Nettelstedt hatte sich das Appartement mit Blick auf das Festland gemietet. Den Anblick der tosenden Nordsee konnte er nicht ertragen, seit damals sein Sohn Achim verschwunden war. Warum es ihn nun trotz allem zurück auf diese Insel gezogen hatte, war ihm selbst nicht klar. Nach Achims Verschwinden war auch kurz darauf Oskar gestorben. Wie ein Engel war er seinem Bruder gefolgt. Eva, seine Frau, hatte sich Vorwürfe gemacht, weil sie Achim wegen Oskars Krankheit nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

Es wurde immer mehr zu einer Selbstanklage, die ihr Leben prägte. Kein Gespräch war mehr möglich. Als Kristian eines Tages von der Arbeit gekommen war, war ihm die Leere eines unbewohnten Hauses entgegengeschlagen. Sie hatte zwar nicht ein einziges Möbelstück mitgenommen, aber allein durch ihre Abwesenheit war ihm jeder Raum tot und leer erschienen. Er hatte auf der Welt noch nie einen Menschen so sehr geliebt wie Eva.

Er selbst war, bevor er sie kennenlernte, ein Blatt im Wind gewesen, das von einem Wirbel zum nächsten trudelte. Er hatte es nie geschafft, sich auf ein bestimmtes Leben festzulegen. Er hielt es nie lange an einem Fleck aus. Dann war Eva gekommen. Blond, grazil und wunderschön. Sie strahlte eine Verletzlichkeit aus, die ihn anrührte. Ihre Augen hatten die Farbe des Ozeans, eine interessante Mischung aus Grün und Blau, ihr Körper wirkte überaus zerbrechlich.

Kristian hatte nicht anders gekonnt, als sesshaft zu werden und sich um sie zu kümmern. Er war der Starke in der Beziehung. Das war genau das, was er brauchte. Auch Achim hatte rasch seine Nähe gesucht. Er war ein schwächliches Kind, glich Eva in fast aufdringlicher Weise. Seine labile Art rührte ihn allerdings nicht, wie sie es bei Eva tat. »Hilf ihm. Irgendwie. Er soll stark werden«, war eine der Aussagen zu Beginn ihrer Beziehung gewesen. Er solle nicht so haltlos und unsicher durchs Leben gehen wie sie. Kristian hatte ihren Wunsch sehr ernst genommen und alles versucht, was in seiner Macht stand.

Kristians Blick folgte den Silber- und Sturmmöwen, die ihre Bahnen über dem Wattenmeer zogen. Es war ablaufend Wasser, der Schlick spiegelte sich im Sonnenlicht, schien wie mit winzigen Glassplittern bedeckt.

Ohne Eva war Kristian schließlich zu seinem Vagabundenleben zurückgekehrt. Er hatte nie wieder von ihr gehört. Sie war aus seinem Leben verschwunden wie ihre beiden Söhne. Es war, als habe es die drei nie gegeben. Manchmal redete er sich ein, es sei tatsächlich so, um überhaupt weiterleben zu können. Menschen, die es nicht gab, konnten auch keinen Schmerz verursachen. Kristian hatte gelernt zu verdrängen. Es gab nur wenige Lücken, durch die er die Realität einließ.

Vor ein paar Tagen war er nachts aufgewacht. Er hatte von Achim geträumt, auf seinem blassen Gesicht schienen die Sommersprossen von noch kräftigerer Farbe. Die stoppeligen, wirren Haare standen wie stets in alle Richtungen ab. Evas Arm lag um seine Schultern, die Nägel tief im Stoff des T-Shirts eingegraben. Ihr Blick war eine einzige Anklage.

Wenn Kristian etwas nicht ertrug, war es, Eva so zu erleben. Und sei es nur im Traum.

Er hatte sich sofort ins Auto gesetzt und war mit dem nächsten Schiff auf die Insel gefahren. Angezogen wie von einem Magneten, ausgelöst von diesem Blick in seinem Traum. Was er hier wollte, das eigentliche Ziel, war ihm aber selbst nicht ganz klar.

Die ersten Tage hatte er geglaubt, wieder zu leben. Er hatte die Weite des Meeres genossen, sich vornehmlich im Westen aufgehalten. In einem Prospekt hatte er von dem Seelenpfad gelesen, den der Lions Club der Insel in Zusammenarbeit mit den beiden Kirchen erstellt hatte. Jeden Tag kletterte er durch die Dünenlandschaft und ging den Schildern nach.

»Im Osten ist der Pfad viel länger«, sagte ein Mann, der diesen Tafeln ebenfalls folgte. »Und die Aussicht dort, die viele Natur drum herum … ein Paradies. Eine Landschaft, die die Schönheit der Insel erst in vollen Zügen widerspiegelt, sage ich Ihnen.«

Kristian hatte nur genickt. Im Osten war er noch nicht gewesen, wusste auch nicht, ob er je einen Fuß dorthin setzen konnte. Im Osten war Achim verschwunden. Hier würde Evas Anklage über ihn hereinbrechen. Er wollte das alles nicht mehr. Er wollte frei sein. Es vielleicht schaffen, eines Tages zu vergessen. Doch war es möglich, so etwas je abzuschließen? Sicher nicht, verdrängen war der einzige Weg. Es wäre besser, er wäre nicht hier.

Schließlich hatte er es nicht ausgehalten und hatte sich doch zum Ostteil von Wangerooge gewagt. Eine unbestimmte Kraft hatte ihn getrieben. Sein Blick war in Richtung Ostbalje geschweift. Starr hatte er dorthin geblickt, quälende Bilder schoben sich vor seine Augen. Doch er war weitergegangen. Immer weiter. Bis zum Meer. Es war ein Fehler gewesen.

*

Wenn Maria etwas liebte, war es die Freiheit der Insel. Trotz allem, was sie hier erlebt hatte. Nirgendwo auf der Welt konnte sie die Klarheit der Luft, die Unbezwingbarkeit der Natur und gleichzeitig die Unabhängigkeit so hautnah erleben wie hier. Erst jetzt merkte sie, wie unglaublich sie all das vermisst hatte.

Es war außerhalb der Saison besonders schön hier. Eine ganz andere Atmosphäre, als wenn die Ausflugsschiffe die Touristen auf die Insel spuckten, die sich in alle Winkel verstreuten, und ein großer Teil von ihnen abends von der Inselbahn verschlungen und abtransportiert wurde. So wie es schon damals gewesen war. Maria befürchtete, die Touristenströme könnten seitdem noch zugenommen haben. Wobei es ein Phänomen war, wie sich die Menschenmassen auf der Insel verteilten. Es gab auch in der Hauptsaison immer noch Ecken, wo man völlig ungestört sein konnte. Nur im Zentrum des Dorfes war es zu der Zeit bedrückend voll. So hatte es Karl jedenfalls erzählt und Maria glaubte ihm, denn auch das war schon vor zehn Jahren so gewesen.

Es war noch früh am Tag, die Insel schlief noch. Maria war gestern den Seelenpfad des Lion Clubs gegangen, war den Tafeln durch die Dünen gefolgt. Sie war ganz gefangen von den Gedichten und Liedern, die alle paar hundert Meter auf den Schildern zu finden waren. Dieser Gang beruhigte sie, ließ sie für den Augenblick innehalten. Die Texte waren verfasst für Menschen wie sie. Menschen, die sich auf der Suche befanden. Nach Frieden, nach ihrer Mitte. Sie hatte gestern tatsächlich den Anflug der Hoffnung gehabt, hier würde endlich alles gut.

Bis sie in der Nacht wieder von ihren Träumen heimgesucht worden war, die sie brutal daran erinnert hatten, was hier vor zehn Jahren geschehen war. Ständig war Achims Stimme durch ihr Ohr gegeistert, von einer Etage zur nächsten gesprungen. Irgendwann hatte sie wie immer den Schlaf nicht mehr ertragen und war aufgestanden, hatte den Wolken bei ihrem Nachttanz zugeschaut. Hier verharrten sie wegen des immerwährenden Windes nur selten. Meist huschten sie in lebendigem Spiel über den Himmel, formierten sich neu, um nach kürzester Zeit erneut auseinanderzudriften.

Sie warf einen Blick zum Meer, entschied sich aber dann, doch nicht hinunter zum Strand zu gehen, sondern lieber zwischen den Hagebuttenbüschen und Gräsern den Pfad durch die Dünen weiterzugehen. Das Meeresrauschen konnte sie auch hier oben hören. Mit etwas Glück würde sie auch noch ein paar Vögel beobachten können. Erst gestern hatte sie die Kornweihe bei der Jagd gesehen. Es war ein Geschenk, diesen seltenen Greifvogel zu entdecken. Maria wusste diese Glücksmomente, die ihr die Natur schenkte, durchaus zu schätzen. Es lenkte so wunderbar von den schrecklichen Gedanken ab.

Nach einer Weile ließ sie sich auf einen der zahlreichen Bunker nieder. Er war in sich zusammengefallen, schon in seine Umgebung integriert. Rings umher standen Hecken­rosen in Massen, doch erst zart sprossen die ersten­ grünen Blätter. Wie dürre Finger mit vielen Haaren daran wackelten die Zweige im Wind. Maria ließ sich auf dem Betonrand nieder.

Sie hatte Glück. Kurze Zeit später sah sie tatsächlich die Weihe am Himmel. Starr verharrte sie dort, glitt dann im Gleitflug näher, rüttelte kurz und schoss schließlich zur Erde. Maria sah den Vogel eine Weile nicht, vermutlich verspeiste er gerade genüsslich seine Beute. Warum sie so großen Gefallen daran fand, diese Greifvögel bei der Jagd zu beobachten, war ihr nicht ganz klar. Vielleicht war es die Anmut dieser Tiere. Das Grazile, das ihr selbst völlig fehlte. Marias Statur war kräftig geworden, ihr Gang glich dem einer watschelnden Ente. Zumindest empfand sie es so. Daniel hatte dagegen öfter angedeutet, dass er in ihr den Inbegriff der weiblichen Schönheit sah. Aber er war in dieser Hinsicht nicht objektiv.

Daniel liebte sie, seit sie denken konnte. Schon im Sandkasten hatte er ihr gesagt, dass sie ihn heiraten solle. Weil sie der beste Arbeiter war. Keine beherrschte es damals so gut, den Bagger mit dem winzigen Lenkrad durch die imaginäre Sandwüste zu steuern, wie sie. Obwohl sie ein Mädchen war. Das musste die Jungen erst akzeptieren. Daniels Besitzanspruch hatte ihr gut gefallen. Jetzt fand sie es eher lästig. Sie wollte keinen Mann. Sich gefühlsmäßig auf niemanden mehr einlassen. Das Alleinsein war ihre Strafe dafür, dass sie auf Achim nicht gut aufgepasst hatte.

Aber als Kinder hatten Daniel und sie zusammengehört. Wie man eben in einem kleinen friesischen Dorf zusammengehörte, wenn jeder von jedem alles wusste. Nicht nur ihr war bekannt gewesen, woher die ständigen blauen Flecken kamen, die immer öfters Daniels Haut zierten. Es war gut gewesen, als der Vater die Familie endlich verlassen hatte.

Maria durchlief ein Schaudern, das sie in die Wirklichkeit zurück katapultierte. Während der Vogel seine Beute verspeiste, fühlte auch sie Hunger. Sie kramte aus ihrem Rucksack ein Stück Brot heraus, dick belegt mit Schinken, Remoulade und Salatblättern. Eine Böe riss ihr das Butterbrotpapier aus der Hand, ließ es zwischen den Heckenrosen tanzen, bis es sich in den kleinen Dornen verfing und sich die knorrigen Äste darin festkrallten. Maria mochte es nicht, wenn die Natur verschandelt wurde, weil alle ihren Müll in die Landschaft warfen. So stand sie auf und haschte nach dem Papier. Sie bekam nur einen Zipfel zu fassen, der gleich abriss. Auf allen vieren robbte sie sich näher heran, ignorierte die feinen Dornen, die sich in ihre Haut bohrten. Der Wind riss den Fetzen derweil wieder ab. Das Papier wirbelte in der Luft herum, legte sich auf die Erde und verfing sich ein Stückchen tiefer im Geäst als zuvor.

Maria stöhnte. Was halste sie sich auch immer auf! Ihre Unterarme bluteten an einigen Stellen bereits leicht. Trotzdem haschte sie weiter nach dem Papier, wollte nicht aufgeben. Es nicht einzufangen, wäre ihr wie eine Niederlage vorgekommen. Sie streckte den Arm aus, bekam es beinahe zu fassen, als sie das Gleichgewicht verlor und mit den Füßen in die Senke hineinrutschte. Maria schrie auf. Sie glaubte, diese Dornen seien das Letzte, was sie in ihrem Leben spürte. Wie Tausende von Nadeln zerstachen sie ihre Haut.

Das Papier hatte sich durch ihren Aufprall wieder losgerissen und trudelte weiter über die Dünenlandschaft.

Nach einer Weile fing Maria sich wieder. Sie bewegte nach und nach ihre Gliedmaßen, prüfte, ob nichts gebrochen war. Vorsichtig glitt ihre Zunge über die Zähne, weil sie mit dem Kopf an den Betonrand des Bunkers gestoßen war. Sie schienen völlig unversehrt, nur an der Oberlippe schmeckte sie etwas Blut.

Maria versuchte, irgendwo Halt zu finden, um aus der Senke herauszuklettern, was wegen der vielen schmerzhaften Dornen nicht einfach war. Sie verspürte nur wenig Lust, sich weitere Stiche einzuhandeln. Wahrscheinlich würde sie ohnehin ein paar Stunden damit verbringen müssen, diese winzigen Teile mit der Pinzette aus ihrer Haut zu entfernen.

Gerade als sie sich mit den Füßen abstoßen wollte, spürte sie etwas Unebenes. Es rollte sich unter ihrem Ballen, fühlte sich an wie ein Ast. Wahrscheinlich war sie auf eine Wurzel getreten. Aber daneben befanden sich weitere Teile, die sie problemlos hin- und herschieben konnte. Dann stieß ihr Fuß gegen etwas Rundes. Vorsichtig tastete sich Marias Hand an ihrem Hosenbein entlang nach unten. Die Oberfläche der Gegenstände zu ihren Füßen war glatt. Es fühlte sich an wie gut gehobeltes Holz. Eine Stimme warnte sie, sagte ihr, es sei besser, hier zu verschwinden.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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262 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839264928
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