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Читать книгу: «Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens», страница 2

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Abb. 7: Zwillingsbecher (joint jars), Yangshao-Kultur, 4.800 – 3.600 v. Chr., Banpo, Shaanxi (Banpo-Museum).

Wie kam es zu der prähistorischen Weinstraße?

Aus der eurasischen Vogelperspektive fällt auf, dass sich – größtenteils entlang der Seidenstraßen-Verzweigungen – ein breiter Gürtel von Weinanbaugebieten zwischen Westen und Osten über die Jahrhunderte und Jahrtausende bis in die Gegenwart erhalten hat: in den Flusstälern Europas, im gesamten Mittelmeerraum, am Schwarzen Meer, im Kaukasusgebiet, im Nordwesten Irans, in den Oasen Turkmenistans und Usbekistans, in den Flusstälern Tadschikistans und des Hindukusch, im Ferghanatal, in Nordost-Kasachstan, in Westchina, Zentralchina und Nordostchina. In all diesen Regionen lässt sich die Weinkultur anhand von archäologischen Funden, historischen Aufzeichnungen und volkstümlichen Überlieferungen, Mythen und teils immer noch lebendigen rituellen Praktiken auf eine kontinuierliche Tradition von mindestens 2.000 Jahren und meist weit bis in vorgeschichtliche Zeiten zurückführen.

Die Gesamtpalette der Entdeckungen und Erkenntnisse zur vorgeschichtlichen und antiken Weinkultur entlang des west-östlichen Netzwerks und die teils frappierenden Parallelen in ihrer Entwicklung über enorme geographische Distanzen hinweg lassen sich in der Hypothese einer prähistorischen Weinstraße zusammenfassen, die sich wesentlich früher konstituierte als die erst vor rund zweieinhalb Jahrtausenden in der Geschichte in Erscheinung tretenden Handelswege der Seidenstraße. Letztlich wird durch alle prähistorischen wie historischen Epochen hindurch deutlich, dass sich die Expansion von Weinkultur stets über den Handel vollzog. Typisch hierfür sind die Phönizier, die Weinanbau und -herstellung einschließlich des technischen Knowhows, der Keramikgefäße sowie typischer Zutaten wie Harz und Kräuter bereits vor über drei Jahrtausenden im gesamten Mittelmeerraum und bis zu den Atlantikküsten verbreiteten – übrigens wohl nicht zufällig in Verbindung mit der Erfindung eines der ersten und einflussreichsten Schriftsysteme der Menschheit. Analog trifft dies auf den kontinentalen Fernhandel im eurasischen Raum zu, wobei davon auszugehen ist, dass dabei gerade auch Wein und Alkoholika einen Wirtschaftsfaktor darstellten – und dies noch vor dem Aufleben des eigentlichen Seidenstraßenhandels.

Im Kontext der Eurasischen Hypothese spielt die Paläolithische Hypothese eine zentrale Rolle, die plausibel begründet, dass die ersten Begegnungen unserer Vorfahren mit der in den gemäßigten Zonen seit Jahrmillionen weit verbreiteten eurasischen Wildrebe unvermeidlich zu deren Nutzung für die Herstellung vergorener Getränke führte. Dies galt eben nicht nur für Europa, den Mittelmeerraum und den Vorderen Orient, sondern gerade auch für den chinesischen Raum mit seinem Reichtum wilder Rebsorten. Das bedeutet, dass an den klimatisch günstigen Breitengraden lange vor der Entwicklung jeglicher Land- und Getreidewirtschaft, möglicherweise bis weit zurück in das Paläolithikum, Prototypen des Traubenweins gewonnen wurden. Dies ergibt sich aus den besonderen natürlichen Eigenschaften der Weintraube, wonach die an den Beerenschalen vorhandenen Hefen in Verbindung mit dem hohen Zuckergehalt bei Lagerung und entsprechender Temperatur zwangsläufig und so leicht wie bei kaum einer anderen Frucht einen Gärprozess in Gang setzen. Somit kann die Paläolithische Hypothese für die Mehrzahl der geographischen Räume angenommen werden, wo auf dem eurasischen Kontinent die ersten Zivilisationen und die frühesten Hochkulturen entstanden sind.

Die Annahme, dass Primaten einschließlich der frühen Steinzeitmenschen seit Jahrmillionen ethanolhaltige Früchte aufspürten, sich daran – höchstwahrscheinlich in geselliger Höhlengemeinschaft beim Lagerfeuer – delektierten und sich damit evolutionäre Selektionsvorteile sicherten, stützt sich auf die zuerst von dem amerikanischen Biologen Robert Dudley (2004) formulierte »drunken monkey«-Hypothese (vgl. auch McGovern 2009). Sie kann wiederum auf aufschlussreiche Vorgänge in der Tierwelt und entsprechende Legenden rekurrieren, die besonders in China in Form der Geschichten vom sog. »Affenwein« seit Jahrhunderten mündlich und schriftlich überliefert sind. Diese und zahlreiche wissenschaftlich untersuchte Phänomene bezeugen, dass die sensorische Attraktivität gärender Früchte und speziell Weintrauben bei Primaten und bestimmten Tierarten zerebrale Stimuli auslöst und überlebensstrategische wie selektionsevolutionäre Vorteile mit sich brachte. In Anbetracht der weiten Verbreitung der Vitis-Gattung dürfte sich neueren genetischen Erkenntnissen zufolge bereits der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Affe die leicht gärenden wilden Weintrauben zunutze gemacht haben.

Allen Anzeichen nach löste die Entdeckung der Fermentation und die über die Jahrtausende immer mehr verfeinerte Nutzung des Alkohols durch den Urmenschen in der späteren Evolutions- und Zivilisationsgeschichte einen Quantensprung aus – analog zur Entdeckung und Verwertung des Feuermachens für die Speisezubereitung. Die alkoholische Gärung, in der Natur allseits vorhanden, lieferte erhebliche Vorteile im Sinne von rascher Energieversorgung besonders in der kalten Jahreszeit, Hygiene und Konservierung von Getränken, Ernährungsvielfalt sowie desinfizierenden, analgetischen, euphorisierenden, bewusstseinserweiternden, aphrodisischen und fortpflanzungsfördernden Wirkungen. Dieses Knowhow der Verarbeitung alkoholhaltiger Früchte initiierte einen natürlichen Selektionsprozess für die betreffenden Gruppen hinsichtlich Gesundheit, vielfältigerer und verbesserter Ernährung und insbesondere auch geistiger Kreativität. Auffallend, aber nicht erstaunlich ist in jedem Falle die Synchronizität zur Neolithischen Revolution vor rund 10.000 Jahren.

Im Zusammenhang mit dieser Quantensprung-Hypothese und ausgehend von den neueren archäologischen Erkenntnissen kann man annehmen, dass bei den in den betreffenden Klimazonen siedelnden eurasischen Urgesellschaften die einfach zu bewerkstelligende Vergärung von wilden Weintrauben als Initialprozess für die früheste Herstellung unterschiedlicher alkoholischer Getränke diente. Diese wurde später, v.a. mit der beginnenden Getreidekultivierung, immer komplexer, wobei der »Jiahu-Cocktail« und in den folgenden Jahrtausenden nachgewiesene ähnliche Mischgetränke in China hervorragende Beispiele repräsentieren. Dazu zählen in der weiteren Entwicklung auch Prototypen des Biers. Auffallend sind dabei west-östliche Parallelen wie etwa der in China wie im Nahen Osten gleichermaßen nachgewiesene Anbau von Gerste zur Herstellung eines bierähnlichen Gebräus.

Wie schon vor ihm der chinesische Archäologe und Historiker Wu Qichang in einem Artikel 1937 und der amerikanische Anthropologe und Ernährungsbiologe Solomon Katz (Katz/​Voigt 1986), vertritt der Münchner Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf (2008) die Hypothese »Bier vor Brot«, wonach Gerste und andere Getreidearten ursprünglich exklusiv für diesen Zweck kultiviert wurden und nicht von Anfang an schon für die aufwändige Verarbeitung zu Brot und anderen Lebensmitteln. Dies wird durch die Tatsache gestützt, dass Brot in Mesopotamien erst vor rund 6.500 Jahren auftauchte, also immerhin sechs Jahrtausende nach Beginn der Kultivierung der Gerste, die in China für die Lebensmittelherstellung so gut wie keine Rolle spielte und nur in neolithischen Mischgetränken nachgewiesen wurde. Dies erklärt auch, weshalb die Alkoholika-Produktion in den eurasischen Frühgesellschaften lange vor Sesshaftigkeit und Landwirtschaft und v.a. in Verbindung mit den ersten magisch-religiösen Praktiken aufblühte.

Auch der Wissenschaftshistoriker und Altorientalist Peter Damerow (2012) leistet der »Bier-vor-Brot«-Hypothese in seinen posthum veröffentlichten Untersuchungen zu frühen Brautechniken des sumerischen Biers Vorschub. Diese stehen für ihn in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Errungenschaften der Neolithischen Revolution, d. h. den Ursprüngen von Landwirtschaft, urbaner Wirtschaft, Verwaltungs- und Handelsstrukturen, religiösem Leben sowie überhaupt aller zivilisatorischer Errungenschaften wie früher Formen der Schrift. In den sumerischen Quellen finden sich Hinweise, dass außer Gerste für die Initialisierung des Fermentationsprozesses Honig und Wein eingesetzt wurden. Eine ähnliche Zusammensetzung von »Wein-Bier-Cocktails« aus Weintrauben, Gerste und Honig mit Zusätzen von Baumharz und Kräutern fand sich im gleichen Zeitalter nicht nur in den ägyptischen, anatolischen, minoischen und mykenischen Kulturen (später ebenfalls im homerischen Trank kykeon), sondern auch in China, nämlich in Liangchengzhen in der Ostprovinz Shandong, einem wichtigen Ausgrabungsort der neolithischen Longshan-Kultur aus dem 3. Jt. v. Chr. Die Analysen von Spuren in dort entdeckten Keramikgefäßen weisen auf eine Mischung von Reis, Gerste, Honig, wilden Weintrauben, Baumharz und Kräuterzusätzen hin. Dass auch hier nachweislich die Hefegärung von Weintrauben genutzt wurde, lässt zweierlei Schlüsse zu: Einerseits wurde dieses Verfahren in den dazwischen liegenden vier Jahrtausenden seit dem »Jiahu-Cocktail« kontinuierlich weiterentwickelt und verfeinert. Andererseits spielte die Rezeptur des »Liangchengzhen-Cocktails« auch ab dem 2. Jt. v. Chr. mit dem Beginn der dynastischen Epochen seit der Xia- und Shang-Periode (21. – 11. Jh. v. Chr.) und eventuell noch bis in die Zhou-Dynastie (11. – 3. Jh. v. Chr.) eine, wenn auch zugunsten einer differenzierteren und ausgereifteren Fermentationstechnologie auf der Basis einer aufblühenden Getreidewirtschaft, abnehmende Rolle. Mit dem Blick auf diese ähnlichen Rezepturen von »Bier-Wein-Cocktails« in Mesopotamien, Ägypten, Anatolien, Griechenland und China und entlang der damals schon funktionierenden eurasischen Handelswege spricht also vieles dafür, dass die Weintraubengärung kulturübergreifend als die »Initialzündung« für spätere komplexere und sich regional zunehmend diversifizierende Fermentationsverfahren gelten kann.


Unter diesen und den zuvor erwähnten Aspekten der weiten Verbreitung der eurasischen Weinrebe über nahezu alle frühen Kulturräume zwischen Europa und Ostasien sowie aus der Paläolithischen Hypothese erschließt sich folgerichtig die »Wein-vor-Bier«-Hypothese, womit eingeräumt wird, dass der Traubenwein am Anfang aller Braukunst steht und das älteste Kulturgetränk der Menschheit per se darstellt.

Aus den bislang vorliegenden Argumenten und Indizien ergibt sich die Inspirationshypothese, die besagt, dass die Nutzbarmachung der Fermentation die anderen zivilisatorischen Errungenschaften direkt oder indirekt förderte, wozu die sich verbessernden materiellen Lebensbedingungen gehören, v.a. auch die Manufaktur von Keramik, Haushalts-, Jagd- und Ackergeräten, Waffen, Kleidung und Schmuck. Hinzu kommt, dass die allmählich verfeinerte Herstellung und der nach und nach ritualisierte wie gesellschaftlich konventionalisierte Genuss von geistigen Getränken, wie wir ihn bis heute v.a. in der georgischen ebenso wie in der chinesischen Kultur, also an beiden Enden der Seidenstraße, immer noch beobachten können, maßgebliche Wirkung auf schöpferische Leistungen in allen Bereichen des kulturellen Aufblühens zeigte. Diese Hypothese erklärt, wie sich unter dem Impetus des Weins und alkoholischer Getränke von magischen Riten bis hin zur Wissenschaft alle Faktoren des Entstehens von Kultur entwickelt haben.

Alkohol als Kulturträger

McGovern et al. (2000; 2003; 2009) und Reichholf/​Josef (2008) führen in stichhaltiger Weise aus, dass wahrscheinlich keine Kultur ohne die Nutzung von Drogen entstanden ist und dass darunter wiederum Alkohol nicht nur die älteste, sondern auch die am weitesten verbreitete Droge der Menschheit ist. Wie kein anderes Rauschmittel ist Ethanol überall in der Natur vorhanden und leicht verfügbar, in geringen Mengen sogar permanent im Blut enthalten und damit kein körperfremder Stoff. Für die Versorgung gewährt es die oben genannten evolutionären Vorteile und hat zudem sozial-kommunikative, bewusstseinserweiternde und kreativitätsfördernde Funktionen. Aus den bisherigen Erkenntnissen ergibt sich also in letzter Konsequenz, dass die Droge Alkohol – vorwiegend in der ästhetischen und symbolträchtigen Manifestation des vergorenen Rebensaftes – untrennbar mit der Entstehung von Kultur verknüpft ist. Nicht zufällig spielt der Wein in der ältesten monotheistischen Weltreligion, dem indo-iranischen Zoroastrismus, sowie im Judentum und Christentum mit den beiden ältesten christlichen Staaten der Welt, Georgien und Armenien – kontinuierlich bis heute die traditionsreichsten und bedeutendsten Weinregionen –, eine dominante Rolle. Bei genauerer Betrachtung war und ist der Genuss von Wein und Alkoholischem auch im Buddhismus und Islam verwurzelt (vgl. dazu den Beitrag in diesem Band S. 99-100). Die chinesische Mythologie und Literatur, Konfuzianismus und Daoismus sind ohnehin von der komplexesten und höchstentwickelten Alkoholkultur der Menschheit geprägt und in allen Lebensbereichen vom inspirativen Elixier geradezu durchtränkt. Die enge Korrelation von Zivilisation und Weinkultur thematisiert und begründet Patrick McGovern ausführlich und in eindrucksvoller Weise in seinen beiden Büchern zur Wein- und Alkoholgeschichte.

Welch dominante Rolle Alkoholisches in Chinas Gesellschaft seit den Anfängen spielte, spiegelt v.a. auch die Literatur in allen Epochen wider. Bereits die ersten Überlieferungen und schriftlichen Zeugnisse machen deutlich, dass die Kunst der Fermentation und ihre hochkomplexe, weltweit einzigartige Technologie sowie der rituelle Alkoholgenuss eine dominante Rolle in Chinas religiösem, höfischem, literarisch-künstlerischem und alltäglichem Leben einnahmen.

Im chinesischen Schriftsystem selbst verraten Hunderte zusammengesetzte Schriftzeichen mit der graphemischen Komponente für »Alkohol«, einem ursprünglichen Piktogramm einer Tonamphore, dass Alkohol bereits bei der Entstehung der Schrift und ihrer anfänglichen Verwendung für Orakelzwecke eine zentrale Bedeutung hatte. Dieses chinesische Graphem ist übrigens dem sumerischen Symbol verblüffend ähnlich.

Bis in die Gegenwart ist in China keines der zahlreichen Feste, keine Tempel- oder Gedenkzeremonie, kein Staatsbankett, kein offizieller oder privater Gästeempfang vorstellbar ohne den Ausschank alkoholischer Getränke, meist beim üppigen Mahl und mit den uralten Trinkritualen. Aus den Anfängen der konfuzianischen Welt- und Gesellschaftsordnung stammen die heute noch gern zitierten Sprichwörter »Keine Feierlichkeit ohne Alkohol«. (wu jiu bu cheng li) und »Feste sind erst vollkommen mit Alkohol«. (li yi jiu cheng).

Literatur

P. Damerow, Sumerian Beer: The Origins of Brewing Technology in Ancient Mesopotamia, in: Cuneiform Digital Library Journal, 2012, S. 2, www.cdlj.ucla.edu/​pubs/​cdlj/​2012/​cdlj2012_002.html.

B. G. Fragner / ​R. Kauz / ​F. Schwarz (Hrsg.), Wine Culture in Iran and Beyond, Wien 2014 (= Veröffentlichungen zur Iranistik 75).

S. H. Katz / ​M. M. Voigt, Bread and Beer: The Early Use of Cereals in the Human Diet, in: Expedition 28, No. 2, Summer 1986, S. 23–34.

P. Kupfer (Hrsg.), Wine in Chinese Culture – Historical, Literary, Social and Global Perspectives, Berlin 2010 (= Wissenschaftsforum Kulinaristik 2).

P. Kupfer, Weinstraße vor der Seidenstraße? – Weinkulturen zwischen Georgien und China, in: H. König / ​H. Decker (Hrsg.), Kulturgut Rebe und Wein, Heidelberg 2013, S. 3–17.

P. E. McGovern, Ancient Wine: The Search for the Origins of Viniculture, Princeton/​Oxford 2003.

P. E. McGovern, Uncorking the Past. The Quest for Wine, Beer, and other Alcoholic Beverages, Berkeley et al. 2009.

P. E. McGovern / ​S. J. Fleming / ​S. H. Katz. (Hrsg.), The Origins of Ancient History of Wine, London/​New York 1996.

J. H. Reichholf, Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte, Frankfurt a. M. 2008.

Y. Ying, Putao mei jiu yeguangbei [Traubenwein aus glänzendem Becher der Nacht], Xi’an 1999.

Wie Nebukadnezar zu seiner Flasche kam.
Der altorientalische und biblische Hintergrund übergroßer Wein- und Sektflaschen

Sebastian Grätz, Doris Prechel

Hinführung

Altorientalische Herrscher spielen in der europäischen Kulturgeschichte gemeinhin keine besondere Rolle – zu fern ist deren Wirken sowohl in geographischer als auch in chronologisch-geschichtlicher Hinsicht. Umso bemerkenswerter ist es, dass einige von ihnen uns als Namenspatrone überdimensionierter Wein(hier v.a. Bordeaux) und Champagnerflaschen begegnen. Diese sind jedoch fast immer Raritäten. So schreibt beispielsweise die Weinjournalistin Valmai Hankel: »One of the highlights of any major wine auction is the sale of the big bottles. (…) They came at the end of the auction, 27 lots ranging in size from double magnums (also known as Jeroboams) to Imperials (also known as Methuselahs), and one giant Balthazar.« (Hankel 2003, S. 64). Es stellt sich für uns als Altorientalistin und als Bibelwissenschaftler nun natürlich die Frage, wie und warum diese längst verschollenen Personen der altorientalischen Geschichte bzw. deren Namen für die großen Flaschen in Gebrauch kamen. Uns hat in besonderer Weise die Figur des Nebukadnezar fasziniert, weil er zum Patron einer sehr großen Flasche mit 15 l Inhalt wurde und weil er als eine der schillernsten Figuren der altorientalischen und der biblischen Tradition gelten kann. Daher sei er im Folgenden anhand der Quellen des Zweistromlandes und den Zeugnissen der Bibel porträtiert. In einem dritten Schritt soll dann vor dem erarbeiteten Hintergrund nach der Herkunft der Namenstradition großer Flaschen gefragt werden.

Nabû-kudurrī-uṣur: Die keilschriftliche Überlieferung

Als Nabû-kudurrī-uṣur II., dessen Name mit »Nabû (der Gott der Schreibkunst und der Weisheit), meinen Sohn beschütze!« zu übersetzen ist, am 7. September 605 v. Chr. in Babylon gekrönt wurde, hatte Babylonien bereits das Erbe des assyrischen Imperiums angetreten.

Obwohl der babylonische Herrscher somit ein Weltreich regierte (Abb. 1), das aus Gründen, die noch aufzuzeigen sind, in die kollektive Erinnerung der abendländischen Kultur Eingang finden sollte, hinterließ er selbst der Nachwelt doch eine erstaunlich geringe Anzahl aussagekräftiger Quellen. Dies liegt zuvorderst daran, dass ein Staatsarchiv, das über Aufstieg und Fall des babylonischen Reiches hätte Auskunft geben können, allem Anschein nach nicht existierte oder bis zum heutigen Tage nicht gefunden wurde. Die während der Regierungszeit des Nabû-kudurrī-uṣur II. verfassten Königsinschriften, Briefe sowie (private) Rechts- und Verwaltungsurkunden, die auf Tontafeln in Keilschrift niedergeschrieben wurden und bei den Ausgrabungen in Babylon zu Tage kamen, spiegeln auf jeden Fall in keiner Weise außenpolitische Erfolge wider. Folgt man den historischen Primärquellen, so erhalten wir stattdessen das Bild von einem überaus frommen Regenten, dem v.a. der Ausbau seiner Metropole am Herzen lag.

Abb. 1: Geographische Ausdehnung des neubabylonischen Reiches.

Die Königsinschriften legen höchst beredtes Zeugnis davon ab. In ihnen wurde wiederkehrend der Auf-, Aus- und Umbau von Tempeltürmen, Tempeln, Palästen und Befestigungsmauern thematisiert, wobei der Verfasser der Inschriften nicht müde war, Angaben über Bau- und Schmuckmaterialien ebenso en detail zu schildern, wie deren exotische Herkunft aus fernen Regionen von Magan am Persischen Golf (wohl heutiges Oman) bis hinauf zum Libanon. Tatsächlich bestätigen die physischen Überreste in Babylon die immensen Anstrengungen, die Nabû-kudurrī-uṣur II. in dieser Hinsicht unternahm. Welch großer Stolz den Regenten erfüllte, mag man seinen Inschriften entnehmen, die ganz in einer Jahrhunderte alten babylonischen Tradition stehen.

»Als der große Herr Marduk mich rechtmäßig berief und mich anwies, das Land recht zu leiten, die Menschen zu hüten, die Kultstätten zu versorgen (und) die Heiligtümer zu erneuern, da war ich meinem Herrn Marduk ehrfürchtig gehorsam. Seine erhabene Kultstätte (und) ruhmreiche Stadt Babylon (und) ihre großen Mauern (mit den Namen) Imgur-Enlil und Nimitti-Enlila vollendete ich. An die Laibungen ihrer Stadttore stellte ich wilde Stiere und furchterregende Drachen. Was kein vormaliger König getan hatte: Mein väterlicher Erzeuger hatte die Stadt mit Mauer und Graben aus Asphalt und Backstein zweifach umgeben. Ich aber baute eine gewaltige Mauer, eine dritte, eine längs der beiden anderen, aus Asphalt und Backstein und ich verband sie mit den Mauern, die mein Vater angelegt hatte. Ihr Fundament gründete ich fest im Untergrund, und ihre Spitze machte ich berggleich hoch. Mit einer Mauer aus Backstein umzog ich gegen Westen die Stadtmauer von Babylon.«

(V R 34 I 12 – 34)

Eine unbeantwortete Frage bleibt indes, wie Nabû-kudurrī-uṣur II. seine fast ins Unermessliche gehenden Bauvorhaben organisatorisch bewältigte und finanzierte. In Anbetracht der spektakulären Anstrengungen, die der Herrscher der Gestaltung Babylons zukommen ließ – er dürfte allein drei Dutzend Millionen Lehmziegel für die Zikkurrat des Marduktempels, den berühmten Turm zu Babel, gebraucht haben –, darf doch nicht in Zweifel gezogen werden, dass es auch weniger friedvolle Unternehmungen gab. Schuf Nabû-kudurrī-uṣur II. als Bauherr quasi ein Zentrum der gesamten damaligen Welt, von dem überreichlich Königsinschriften Zeugnis ablegen, so erfahren wir über militär-politische Maßnahmen zum Erhalt seines Weltreiches nur ganz indirekt durch Chroniken der späteren Geschichtsschreibung. Dass damit auch zusätzlich zu dem vorhandenen Reichtum aus der Binnenwirtschaft eine finanzielle Unterfütterung der Bauprojekte durch Tributleistungen einherging, darf man wohl unterstellen. Der sogenannte Hofkalender, ein sechsseitiges Tonprisma aus Babylon, gibt trotz seines fragmentarischen Zustandes zu erkennen, dass sich u. a. die Könige der Mittelmeeranrainer Tyros, Gaza, Sidon, Arwad und Aschdod unterworfen haben dürften. Über dieses einzige Dokument seiner Art hinaus kann lediglich auf die bereits erwähnten Chroniken verwiesen werden. Neben der lapidaren Erwähnung fast jährlich stattfindender Feldzüge nach Syrien in den ersten sechs Jahren seiner Herrschaft liest sich dort:

»Das siebte Jahr: Im Monat Kislev bot der König von Akkad seine Truppen auf und zog zum Hethiterlande. Die Stadt Juda belagerte er. Am 2. Adar eroberte er die Stadt. Den König nahm er gefangen. Einen König nach seinem Herzen setzte er dort ein. Er nahm den schweren Tribut und brachte ihn nach Babel.«

(ABC 5 Rs. 11 – 13)

In diesen Zeilen findet sich die spärliche Referenz zu der lange vor der Entzifferung der Keilschrift bekannten babylonischen Gefangenschaft. Nabû-kudurrī-uṣur II. hat demnach im Jahre 598 v. Chr. seine Truppen von Babylonien nach Nordsyrien geführt und die Stadt Jerusalem angegriffen. Am 16. März desselben Jahres gelang ihm ihre Eroberung. Der regierende König Jojachin wurde gefangen genommen und an seiner Stelle Zedekia eingesetzt. Für die zweite Eroberung Jerusalems können wir uns schon nicht mehr auf keilschriftliche Quellen berufen, sondern nur auf die biblischen Berichte (siehe unten).

Fassen wir also zusammen: Nur zwölf der insgesamt 42 Jahre Regierungszeit des NabûkudurrI –-uṣur II. sind bisher durch zeitgenössische historische Primärquellen und keilschriftliche chronologische Texte belegt. Dennoch zählt Nabû-kudurrī-uṣur II. ohne Zweifel zu den großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Die Wiederentdeckung der altorientalischen Kulturen in der ersten Hälfte des 19. Jhs. durch Ausgrabungen im alten Zweistromland und die mit den Inschriftenfunden einsetzende Entzifferung der babylonischen Keilschrift haben indes kaum etwas dazu beitragen können. Das hohe Maß an Erinnerungwürdigkeit ist zum einen vielmehr den (v.a. griechischen) Autoren der klassischen Antike mit ihren ins Fabulöse gehenden Geschichten über die erstaunlichen Bauten in Babylon geschuldet. Allerdings verband man schon recht bald die weltwunderwürdigen architektonischen Leistungen, derer sich der Herrscher in seinen eigenen Inschriften ausgiebig rühmt, mit sagenumwobenen Gestalten, wie etwa Semiramis als Schöpferin der Hängenden Gärten. Zum anderen sollte sich rezeptionsgeschichtlich jedoch die Zerstörung Jerusalems und die damit einhergehende Massendeportation der Einwohner Judas nach Babylonien, über die Nabû-kudurrI– -uṣur II. selbst der Nachwelt nicht ein einziges Wort hinterließ, als wesentlich wirksamer erweisen.

Abb. 2: Rekonstruktionsskizze des Tempelbezirks von Babylon.

Abb. 3: Drache aus glasierten Ziegeln am Ištar-Tor.

Nebukadnezar: Die biblische Darstellung

Die im Deutschen geläufige Aussprache »Nebukadnezar« geht auf den Sprachgebrauch im Alten Testament zurück, wo der Name des Herrschers zumeist Nebukadnaessar geschrieben wird. In den Büchern Jeremia und Ezechiel begegnet dem Leser auch die korrektere Form Nebukadrae‘ssar. Diese Schreibweisen gehen freilich auf die Arbeit der Masoreten zurück, die die Aussprache des ursprünglich ohne Vokalzeichen geschriebenen Textes verbindlich festlegten, so dass die einheitliche Namensform der griechischen Übersetzung Nabuchodonosor wohl die ältere hebräische Aussprache spiegelt. Es ist nicht ganz klar, ob die Festlegung der Aussprache durch die Masoreten einen abwertenden Zweck verfolgt. So ist u. a. erwogen worden, dass die masoretisch-hebräische Aussprache an ein Wortspiel »Nabû beschütze das Maultier« erinnern könne. Doch dies ist alles andere als sicher.

Nebukadnezar ist mit 119 Erwähnungen in der alttestamentlichen Literatur derjenige Fremdherrscher, der mit Abstand am häufigsten erwähnt wird. Der Grund liegt auf der Hand: Er ist dafür verantwortlich, dass dem Reich Juda sein einstweiliges Ende beschieden, dass die Stadt Jerusalem in Trümmer gelegt und dass der Tempel gebrandschatzt wurde. Er ist dafür verantwortlich, dass, sei es durch Flucht oder Deportation, eine namhafte judäische Diaspora nach Ägypten und Babylonien kam. Diese war jedoch literarisch sehr produktiv: Sie zeichnet sich für zahlreiche Schriften des Alten Testaments, die griechische Übersetzung der fünf Bücher Mose und der anderen alttestamentlichen Schriften sowie möglicherweise auch für die Entstehung des jüdischen Synagogengottesdienstes verantwortlich. Weiterhin prägten diese in Babylonien und Ägypten ansässigen Juden in unterschiedlichen Zentren der Gelehrsamkeit die jüdische Theologie und Kultur bis zumindest ins Mittelalter hinein. Die Figur des Nebukadnezar markiert damit einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Israels: Erst seine Maßnahmen gegen Juda, Jerusalem und den Tempel haben direkt und indirekt Prozesse in Gang gebracht, die für die Entstehung des Judentums entscheidendes Gewicht besitzen. Im Alten Testament selbst wird dies zum Teil bereits so gesehen: Neben Notizen wie 2. Könige 25,8, wo die Zerstörung Jerusalems geschildert wird, liegen aus der früheren Zeit Worte von Propheten vor, die die Ereignisse um den babylonischen Herrscher theologisch reflektieren. So wird Nebukadnezar im Jeremiabuch zwar als Weltherrscher bezeichnet, dem sogar die Tiere dienstbar sind (Jeremia 27,6), doch diese Weltherrschaft verdankte er letztlich Gott, der den König gleichzeitig als seinen »Knecht« bezeichnet (Jeremia 25,9; 27,6). So führt Nebukadnezar nur das aus, was Gott sowieso zu tun im Sinn hatte. Auch der wesentlich später wirkende jüdische Historiker Flavius Josephus sieht Nebukadnezar als tatkräftigen Mann.

Gewissermaßen wird so aus der Not eine Tugend gemacht: Der Religion und Kultur Israels drohte nach der Zerstörung des Tempels der Untergang, und die einzige sinnvolle Strategie zum Überleben war es, Gott als denjenigen zu sehen, der nicht nur das eigene Schicksal, sondern auch das der Fremden und Feinde in den Händen hält. Hier wird der erste Schritt zum biblischen Monotheismus gegangen, der auch die islamische und die christliche Religion und Kultur bis heute prägt.

Diese Sichtweise ist auch im Buch Daniel zu beobachten, auf das nun etwas näher eingegangen werden soll. Das Danielbuch setzt ein mit der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar und schildert in seinem Fortgang das Geschick des deportierten Judäers Daniel und seiner Freunde am Hof des Großkönigs. Hier entwickelt sich Daniel dank göttlicher Fügungen zum Günstling Nebukadnezars, denn das Wissen des Judäers übersteigt die Weisheit der babylonischen Experten bei weitem. Auf eine ernste Probe wird dieses Wissen in Daniel 2 gestellt. Nebukadnezar hat einen Traum, der ihn beunruhigt, der aber von keinem seiner Experten gedeutet werden kann. Der Clou daran ist, dass er niemandem diesen Traum erzählt. Allein Daniel ist nun im Stande, dem König dessen Traum und seine Deutung mitzuteilen und so eine drohende Todesstrafe sowohl von den babylonischen Experten als auch von sich und seinen judäischen Genossen abzuwenden. Er beschreibt dem König dessen Traum von dem Koloss, der auf tönernen Füßen steht, und liefert gleich die Deutung mit: Die unterschiedlichen Materialien, aus denen der Koloss besteht, bezeichnen eine Folge von Weltreichen, die schließlich von einem göttlichen Reich abgelöst werden. Nebukadnezar erkennt daraufhin, dass diese Deutung göttlichen Ursprungs ist und wirft sich nun selbst vor Daniel nieder. Impliziert ist dabei natürlich, dass dieser Ruhm dem Gott Israels zukommt.

Als wäre die Traumgeschichte nicht erzählt worden, fährt das dritte Kapitel des Buches fort: Nebukadnezar lässt ein großes goldenes Standbild anfertigen, dessen Maße zwar genannt werden, dessen Gestalt aber unklar bleibt. Jeder Bewohner des Reiches muss nun, wie ein Edikt verkündet, dieses Bild anbeten, und es ist von vornherein klar, dass dieser Erlass dem biblischen Bilderverbot zuwiderläuft. Drei Judäer werden nun bezichtigt, die Anbetung des Bildes zu verweigern. Es fällt auf, dass Daniel in diesem Kapitel gar nicht in den Blick genommen wird. Die drei Verweigerer werden in einen angeheizten überdimensionalen Ofen geworfen und überleben dies auf wundersame Weise. Wie in Daniel 2 endet der Vorgang damit, dass sich Nebukadnezar vor dem Gott Israels demütigt und nun sogar bei harter Strafe verbietet, über den Gott der Judäer verächtlich zu sprechen.

977,41 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
464 стр. 175 иллюстраций
ISBN:
9783945751589
Редактор:
Правообладатель:
Автор
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