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Der traurige Alltag an deutschen Schulen

Das Unterrichtskonzept, das in Deutschland am häufigsten für Mehrsprachigkeit angewendet wird, verdient es jedoch nicht einmal, überhaupt als Konzept bezeichnet zu werden. Kinder mit Migrationshintergrund werden einfach in die regulären Klassen gesetzt, ohne dass ihnen geholfen wird, die neue Sprache zu lernen.66 Dies geschieht in der naiven Hoffnung, dass Kinder von ganz allein Deutsch lernen, nur durch den täglichen Kontakt mit der Sprache. Submersion nennt die Erziehungswissenschaft dieses Prinzip. Es heißt so viel wie das „Untertauchen in eine Fremdsprache“.

Dieses vermeintliche Konzept wurde schon 1971 im Einwanderungsland USA als unrechtmäßig erklärt, weil es das Recht auf Chancengleichheit im Bildungssystem gefährde.67 Obwohl es dort als illegal gilt, wird es in Deutschland einfach verteidigt.

So findet Submersion in Klassen statt, in denen Schüler mit Migrationshintergrund sitzen, die mit ganz verschiedenen Muttersprachen aufgewachsen sind.68 Im Unterricht wird aber auf diese Vielfältigkeit nicht eingegangen. Es wird ausschließlich Deutsch gesprochen. Für die meisten Schüler ist das aber eine Fremdsprache, auch wenn sie in Deutschland geboren sind. Fremdsprache heißt nicht, dass sie diese überhaupt nicht sprechen. Die Kompetenzen der Kinder im Deutschen sind ganz unterschiedlich, je nachdem, in welchem Umfeld sie aufgewachsen sind bzw. wie lange sie hier schon leben. Es ist aber eben nicht ihre Muttersprache. Natürlich gibt es auch Kinder mit Migrationshintergrund, die sich im Alltag ohne Probleme verständigen können. Schwierigkeiten bereiten häufig die komplexe Grammatik des Deutschen sowie bildungssprachliches Vokabular wie ‚multiplizieren‘ oder ‚Substantiv‘. Das heißt, sie müssen sowohl eine neue Sprache als auch fachliche Inhalte verarbeiten. Trotzdem werden die Leistungen der Kinder mit Migrationshintergrund häufig an denen der deutschsprachigen gemessen. Doch wie kann man beides miteinander vergleichen? Nehmen wir an, die Schüler sollen ein Gedicht von zehn Strophen auswendig lernen. Eine große Herausforderung für die deutschen Schüler, eine dreifache für Kinder mit Migrationshintergrund. Diese müssen meist erst einmal üben, die Wörter zu lesen und richtig auszusprechen. Die nächste Hürde ist dann, deren Bedeutung zu verstehen, bevor sie sie schließlich auswendig lernen können. Wenn sie also in der gleichen Zeit nur drei Strophen können, ihre deutschen Mitschüler hingegen bereits fünf, bedeutet das keinesfalls, dass sie eine schlechtere Leistung erbracht haben. Fälschlicherweise wird diese Art von Bewertung jedoch häufig verwendet. So haben Schüler mit Migrationshintergrund kaum Erfolgserlebnisse, sondern werden vorwiegend auf Defizite und Schwächen hingewiesen. Hinzu kommt, dass einige Lehrer nicht die fehlende Unterstützung, sondern die Muttersprache als Hindernis für eine gute Bildung und Grund für die schlechten schulischen Leistungen darstellen.69

Das Ziel der Submersion, die Schüler mit Migrationshintergrund in die sprachlich dominante Mehrheit ohne großen Aufwand zu assimilieren,70 schlägt aber nicht nur dahingehend fehl. Es führt bei Schülern aus Sprachminderheiten gar zu einer gestörten Sprachentwicklung. So erreichen sie sowohl in ihrer Erstsprache als auch in der Zweitsprache nur ein geringes Niveau.71

Die Schwierigkeiten in beiden Sprachen haben zudem Misserfolg in der Schule zur Folge. Und so erbringen viele Kinder mit Migrationshintergrund schlechtere Leistungen als ihre deutschen Mitschüler, wodurch sich ein Rückstand aufbaut, der nur schwer wieder aufgeholt werden kann. Denn auch die kognitiven Fähigkeiten der Kinder können sich nicht vollständig entfalten, da fehlende Kenntnisse in der Zweitsprache keine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit den Gegenständen des Unterrichts zulassen.72

All diese Faktoren sind mit für das Selbstbild der Jugendlichen verantwortlich. Sie bekommen das Gefühl vermittelt, ein Problemkind oder gar minderwertig zu sein. Oft haben sie sogar den Eindruck, dass sie in dieser Gesellschaft nicht willkommen sind. Denn wie oft hören sie den Satz: Wenn du hier keine Ausbildung findest, kannst du ja zurückgehen. Doch zurück heißt Deutschland, denn sie sind hier geboren. Und so verwundert es nicht, dass sich einige Jugendliche bewusst abkapseln – zum Selbstschutz und aus Trotz. Nach dem Motto: Ihr wollt mich nicht, dann will ich euch auch nicht. Und mit dem Scheinkonzept Submersion wird man ihnen da kein anderes Gefühl vermitteln können.

Die einzige Alternative zur Submersion in Deutschland ist derzeit allerdings nur der Unterricht in Deutsch als Zweitsprache. Wobei man kaum von einer wirklichen Alternative sprechen kann, da der Unterricht viel zu selten, meist einmal pro Woche, durchgeführt wird und deshalb nicht den gewünschten Lerneffekt erzielt. Da die Schüler mit Migrationshintergrund außerhalb des normalen Unterrichts gefördert werden, kann die Lehrkraft zwar speziell auf das Niveau der Lernenden eingehen. Indirekt wird ihnen aber auch hier bewusst gemacht, dass sie nicht zu den anderen gehören. So wird ihnen klar: Sie sprechen eine Sprache, die den anderen fremd ist und es wird Distanz aufgebaut.73 Denn Kindern bleibt nicht unbemerkt, wer vor oder nach dem regulären Unterricht an einer – oftmals als „Förderunterricht“ benannten – Stunde teilzunehmen hat. Allein der Name macht deutlich: Diese Kinder müssen gefördert werden, sind anders als die anderen aus der Klasse, weichen von der „Norm“ ab.

Yes we did

Im Gegensatz zu Deutschland hat in den USA Immigration schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Im Laufe der Jahre haben sich dort viele Programme entwickelt, um Kinder mit Migrationshintergrund beim Erlernen der englischen Sprache zu unterstützen. Es ist gar gesetzlich fixiert, dass allen Kindern, die in den USA als Englischlernende gelten, das Recht auf pädagogische Unterstützung haben, um ihnen eine sinnvolle Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen.74 Die Herkunftssprache wird zudem in den Unterricht einbezogen und auch die Kultur der Kinder wird wertgeschätzt – all das, woran es in Deutschland leider noch mangelt.

Ein Konzept, das Deutschland als Vorbild dienen kann, nennt sich Dual Language School. Sie strebt Bilingualität an und integriert sowohl die Kinder aus sprachlichen Minderheiten als auch aus der Mehrheit. Bei dieser Schulform findet der Unterricht in Klassen statt, in denen Kinder mit zwei verschiedenen Muttersprachen gemeinsam unterrichtet werden. Dabei gehört die eine Hälfte einer sprachlichen Mehrheit und die andere einer Minderheit an. Die Unterrichtszeit wird gleichmäßig auf beide Sprachen aufgeteilt.75 Die erste Dual Language School, die internationale Bekanntheit erlangte, war die Coral Way Elementary School in Florida. Die Idee kam von einer Gruppe sozial gutsituierter Kubaner, die in den USA im Exil lebten, da sie vor dem Castro-Regime geflohen waren. Sie hatten ein großes Interesse daran, dass ihre Kinder die englische Sprache erlernen und gleichzeitig ihre Spanischkenntnisse pflegen. Im Gegensatz zu vielen anderen Konzepten konnten die Jungen und Mädchen durch dieses eine Aufwertung ihres sprachlich-kulturellen Hintergrunds erfahren.

Auch in Deutschland gibt es Schulen, die bilingualen Unterricht anbieten. Dabei werden die Lernenden auf Deutsch und einer Minderheitensprache unterrichtet. Sprachen wie Türkisch und Italienisch erfreuen sich mittlerweile großer Beliebtheit in Deutschland, weswegen einige Eltern an einer bilingualen Ausbildung ihrer Kinder interessiert sind. Jedoch werden unbekannte oder weniger populäre Minderheitensprachen bei diesem Konzept nicht berücksichtigt.76 Auch wird dieses Konzept bislang nicht konsequent umgesetzt. So gibt es beispielsweise Schulen, an denen der sogenannte Herkunftssprachenunterricht nur ein bis zweimal die Woche angeboten wird. Das ist eindeutig zu wenig. Außerdem existieren einige bilinguale Schulen, die die Unterrichtszeit nicht gleichmäßig auf beide Sprachen verteilen, sondern im Verhältnis von 70 zu 30.

Dennoch zeigen die Beispiele aus den USA, dass Kinder mit Migrationshintergrund mehr Erfolgserlebnisse haben, die Zweitsprache zu lernen, wenn ihre Muttersprache in den Unterricht einbezogen wird. Kinder, die an bilingualen Schulen oder in ihrer Herkunftssprache unterrichtet werden, erreichen höhere Kompetenzen in Erst- und Zweitsprache. Dies wirkt sich auch positiv auf die schulische Leistungen aus. Es geht also nicht darum, nun ausschließlich bilinguale Schulen in Deutschland einzuführen, sondern darauf aufmerksam zu machen, welchen großen Einfluss die Muttersprache auf die eigenen Kompetenzen hat. Dies zeigte auch schon die sogenannte Interdependenz-Hypothese, die 1978 von James Cummins aufgestellt wurde. Sie entkräftete die damals vorherrschende Meinung, dass Mehrsprachigkeit schädlich sei. 1966 hatte John Macnamara die Behauptung aufgestellt, ein Kind müsse Kenntnisse in seiner Muttersprache einbüßen, sobald es Fortschritte in der Zweitsprache mache.77 Heute besteht jedoch Konsens darüber, dass Fähigkeiten von einer Sprache auf die andere übertragen werden können.78 Der Misserfolg von Submersion lässt sich also folgendermaßen erklären: Dass Kinder mit Migrationshintergrund häufig geringere bildungssprachliche Kompetenzen in ihrer Muttersprache aufweisen, liegt unter anderem daran, dass Familien ihre Sprache zu Hause nur für die Alltagskommunikation verwenden. Dadurch bleibt das Niveau an einem bestimmten Punkt stehen, weil es nicht durch Schulbildung oder ähnliches erweitert wird. Wenn dann diese Kinder in der Schule erstmals intensiven Kontakt zur Zweitsprache, also Deutsch, haben, sind ihre Kenntnisse in der Muttersprache unzureichend. Deshalb ist es schwierig für sie, Kompetenzen in der Zweitsprache zu entwickeln, was wiederum dazu führt, dass sie keine weiteren Fortschritte in der Erstsprache machen.

Plädoyer für Integration durch sprachliche Bildung

Es ist dieser Teufelskreis der Mehrsprachigkeit, der verdeutlicht, wie wichtig es ist, den Sprachen verschiedener Minderheiten Wertschätzung entgegenzubringen und sie mit in das deutsche Bildungssystem einzubeziehen. Denn Integration ist ein Prozess, zu dem zwei Seiten gehören: Nicht nur die Migranten müssen den Willen zeigen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und die deutsche Sprache zu lernen. Auch die deutsche Bevölkerung und die Politik müssen Handlungsbereitschaft zeigen. Um Integration durch sprachliche Bildung zu ermöglichen, müssen daher Minderheiten stärker gefördert werden, die deutsche Sprache zu lernen. So sollte vor allem die praktische Umsetzung und die bundesweite Verbreitung von bilingualem Unterricht sowie Herkunftssprachenunterricht überdacht und unterstützt werden, da diese Konzepte den sprachlichen und kulturellen Hintergrund aller Kinder wertschätzen. Sowohl die Kinder aus der Sprachmehrheit als auch die der Minderheit müssen sich manchen Schwierigkeiten beim Erlernen einer Fremdsprache stellen, haben aber gleichzeitig Erfolgserlebnisse, wenn ihre Muttersprache im Unterricht behandelt wird. So sind alle gleichberechtigt. Zudem lernen die Kinder kulturelle Besonderheiten ihrer Mitschüler kennen, so dass Toleranz und gegenseitiges Verständnis gefördert werden.

Immerhin gibt es aus sprachwissenschaftlicher Sicht keinerlei Zweifel mehr daran, dass Bilingualität die kognitive Entwicklung von Kindern fördert. Zudem werden durch sprachlich-kulturellen Austausch das gegenseitige Verständnis sowie soziale Kompetenzen gefördert und erweitert. Es ist die Integrationspolitik Deutschlands, die eklatante Mängel aufweist und somit das Bildungssystem am nächsten Schritt in die richtige Richtung hindert.

Aber auch jenseits von Sprachunterricht können Schulen den dort vorherrschenden Fokus auf eine Sprache und eine Kultur aufbrechen, indem sie der Herkunft ihrer Schüler explizit Raum im Unterricht und Schulkonzept einräumen. Es ist tatsächlich verwunderlich, wie Schulen seit Jahrzehnten an der Lebenswelt ihrer Schüler vorbei unterrichten können, ohne dass lautstarker Protest zu vernehmen ist. Nur selten oder gar überhaupt nicht sind türkische, italienische, polnische oder russische Autoren im regulären Schulliteraturkanon vorzufinden. Und wehrend christliche Feiertage wie selbstverständlich in den Schulalltag integriert werden, werden Festtage anderer Religionen oder Kulturen ins private Umfeld der Schüler verwiesen. Diese und weitere Beispiele zeigen, dass wir auch über 50 Jahre nach den Anwerbungsabkommen einer modernen Einwanderungsgesellschaft nicht gerecht werden. Das Ideal der Herausbildung homogener Gruppen ist für die heutige Gesellschaft nicht mehr zeitgemäß und führt zu einer Benachteiligung von Schülern aus nicht-akademischen und herkunftsdeutschen Familien.

Es wird nun also wirklich Zeit, ein Bildungssystem zu etablieren, das Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund keine zusätzlichen Steine in den Weg legt, sondern sie in ihrem Bildungsbestreben unterstützt. Denn: Noch ist es stark vom Zufall abhängig, ob ein Migrant einen erfolgreichen Bildungsweg einschlagen wird oder nicht. Eine demokratische Gesellschaft kann jedoch nur als solche fortbestehen, wenn sie jedem Gesellschaftsmitglied die gleichen Rechte und Möglichkeiten zugesteht. Daher muss sie sich dafür einsetzen, dass nicht mehr das Schicksal oder die Herkunft der Entscheider über Lebenschancen ist, sondern jedes einzelne Gesellschaftsmitglied selbst.

Erforderlich sind aber auch die Etablierung einer Willkommenskultur und ein Umdenken in der Weltanschauung jedes Einzelnen. Denn Diskriminierung und Aussonderung können nur Bestand haben, wenn an den alten Vorurteilen festgehalten wird. Wir benötigen aber Schuldirektoren, Lehrkräfte, Kindergärtner und Sozialarbeiter, die alle Kinder und Schüler individuell fördern79 und beurteilen, ohne dabei negativen öffentlichen Diskursen zu verfallen. Das Bildungssystem als eines der bedeutendsten Elemente unserer Gesellschaft muss sich daher endlich seiner Verantwortung stellen.

„Ich bin ein Kind deutscher Institutionen.“
Oktay Ay


Dass ich heute an einer deutschen Universität immatrikuliert bin, ist alles andere als selbstverständlich. Denn: Nicht nur komme ich aus einem bildungsfernen Elternhaus, sondern ich habe auch einen türkischen Migrationshintergrund.

Schon wehrend meiner Schulzeit stand die Herkunft meiner Eltern häufig im Zentrum, angefangen von der 1. Klasse bis zu den letzten Tagen des Abiturs. Es gibt unzählige Beispiele, die zeigen, wie ich aufgrund meiner türkischen Herkunft diskriminiert wurde. Auf meinen Vorschlag, die Abschlussfahrt nach Istanbul zu unternehmen, entgegnete mir mein damaliger Gymnasiallehrer vor der ganzen Klasse, dass er keine Reise zu den „muslimischen Brüdern“ unternehme. Weil ich im Vertretungsunterricht einmal mit meinem Tischnachbarn redete, ermahnte mich der Lehrer – obwohl er mich nicht kannte – mit den Worten, dass ich aussehe, als ob ich den Unterricht nötig hätte. Er zog seine Schlussfolgerung aus meinem südländischen Erscheinungsbild. Bekam ich nach der Grundschule noch die Empfehlung auf die Realschule zu gehen, da ich – wie mir mein damaliger Deutschlehrer beteuerte – kein gutes Deutsch spreche, schloss ich mein Abitur mit der Zensur „sehr gut“ ab. Die Deutschnote mit der Maximalpunktzahl. Meine deutsche Staatsbürgerschaft bekam ich erst später. Dass diese Aktionen direkt mit meinem Migrationshintergrund zusammenhängen, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Folgen hieraus waren, dass ich lange Zeit kein großes Selbstbewusstsein hatte, weil mir das Gefühl gegeben wurde, nicht dazuzugehören. So verhielt ich mich reserviert und engagierte mich zum Beispiel wenig schulpolitisch.

Die Hürde, sich beweisen zu müssen

Ein anderes Problem war das des sozialen Aufstiegs. Mein Vater, der 1975 im Alter von 15 Jahren mit seiner Familie nach Deutschland kam und insgesamt nur ein Jahr auf die Gesamtschule ging, gab mir wehrend meiner gesamten Schulzeit zu verstehen, dass man sich bei den Deutschen beliebt machen müsst. Ihm zufolge sollte ich nicht negativ auffallen. Um es zu etwas zu bringen, würde das jedoch nicht ausreichen. Deshalb gab er mir vor dem Hintergrund seiner eigenen Erlebnisse mit auf den Weg: Wenn etwas aus mir werden solle, müsse ich ständig daran arbeiten, besser zu sein als die Deutschen. Ein Verhalten wie in einer Ellbogengesellschaft entspricht nicht meinen eigenen Vorstellungen vom gemeinsamen gesellschaftlichen Leben. Ebenso wenig ständig „der Beste“ sein zu müssen – schließlich würde dies ja bedeuten, dass alle anderen „schlechter“ sind als man selbst. Aber ganz unrecht hatte mein Vater mit seinem Ratschlag nicht. Ständig musste ich mich doppelt beweisen, wo andere Mitschüler es einfacher hatten. Denn bei ihnen nahm man an, dass sie die Antwort auf die Frage wussten. Ich hingegen hatte das Gefühl, ich müsste gegen das Bild des „dummen“ Schülers mit Migrationshintergrund in den Köpfen der Lehrer ankämpfen. Dies setze mich unter enormen Leistungsdruck, den ich mir selbst auferlegte.

Der Türkischunterricht war zu Beginn meine Nische

Ich wurde 1993 in einem kleinen südhessischen Ort mit circa 10.000 Einwohnern eingeschult. Beim wöchentlichen Gebet in meiner Grundschule wurde meinen Mitschülern beispielsweise nie erklärt, weswegen ich beim Beten nicht – wie alle anderen – die Hände faltete. Dies förderte das Gefühl der Andersartigkeit bei mir und bei meinen Mitschülern zugleich. Trotz allem ging ich gerne in die Schule! Die Besonderheit meiner Grundschule war, dass ich seit der 1. Klasse Türkischunterricht hatte, wenn meine Klassenkameraden im Religionsunterricht saßen. Neben türkischer Grammatik, Geschichte und Geographie besprachen wir hier auch Probleme genereller Natur – also Probleme, die nicht unmittelbar mit dem Türkischunterricht zu tun hatten. Rückblickend denke ich, dass hier der Ort war, an dem die Integration maßgeblich stattfand. Denn unsere Türkischlehrerin konnte sich viel besser durchsetzen als ihre deutschen Kollegen. Wenn ich türkische Lehrer mit ihren deutschen Kollegen vergleiche, so fällt auf, dass erstere gegenüber der türkischen Schülerschaft eine höhere Durchsetzungskraft haben. Ich meine, dass dies daran liegt, dass türkische Lehrer über eine gewisse Autorität gegenüber Schülern verfügen und auch Respekt bekommen. Dies kommt durch die Identifikation zwischen der Schülerschaft mit der Lehrkraft zustande. Da meine Mutter erst 1980, nach der Hochzeit meiner Eltern, aus der Türkei nach Deutschland kam und mir die türkische Kultur vertrauter war, war der Türkischunterricht vorerst die Nische, in der ich mich verstanden und wohl fühlte. Gut erinnere ich mich daran, dass unsere Türkischlehrerin auch zu Elternabenden eingeladen wurde und dort die Rolle der eingebetteten Mittlerin zwischen den Lehrern und den Eltern übernahm. Zudem stand sie ohnehin im ständigen Kontakt zu den Eltern der türkischen Schüler. Probleme wurden auf diese Weise frühzeitig erkannt und schnell angegangen. Es war außerdem hier, im Türkischunterricht, wo ich bis zur 10. Klasse lernte, mein Selbstbewusstsein zu steigern. Dies geschah vornehmlich dadurch, dass ich ein Selbstverständnis für meinen Ursprung entwickelte. Einblicke in das gesellschaftliche Leben in der Türkei und die damit verbundenen kulturellen Praktiken, die religiösen Feiertage des Islam oder das säkulare Verständnis der Türkei lehrten mich, dass meine Herkunft mit meinem Leben in Deutschland vereinbar war. Auf diese Weise konnte ich der sein, der ich tatsächlich war und bin.

Ich wollte dazugehören

Ich bin heute der Meinung, dass Integrationsprobleme erstrangig dann entstehen, wenn man als Kind seinen Platz in der Gesellschaft nicht findet. Wenn die ethnische, konfessionelle oder wirtschaftliche Andersartigkeit in den Vordergrund tritt und diese zusammen den Bildungsweg sowie den Bildungserfolg bestimmen. Erfolgreiche Integration beginnt im frühen Kindesalter und ist ein komplexer Prozess, zu dem verschiedene Menschen jenseits des Elternhauses tagtäglich beitragen können. In meinem Fall war dies zum Beispiel dringend notwendig, da meine Eltern selbst kaum Deutsch sprachen und deswegen öffentlichen Institutionen diese Aufgabe zukam. Meine Eltern hingegen konnten nicht von solch einem Bildungsangebot profitieren, da es in dem Ort, in dem wir wohnten, keine Angebote gab und sie ohnehin Vollzeit arbeiteten. Und selbst wenn sie die deutsche Sprache gelernt hätten, hätten sie noch lange kein Muttersprachenniveau erreicht, wovon ich als Kind profitiert hätte.

Dass ich bereits in der Grundschule Türkischunterricht hatte, half mir sehr, da sich so mein Türkisch ständig erweiterte. Sicherlich sprach ich mit meinen Eltern Türkisch, doch da ging es nicht um Grammatik oder um Bücher, die ein ganz anderes Sprachniveau haben als die Alltagssprache. Und da meine ganze Familie bis heute in der Türkei wohnt, ist Türkisch für mich sehr wichtig.

Bildungseinrichtungen müssen vorhandene Differenzen zwischen deutschen Schülern und jenen mit Migrationshintergrund wirksam ausgleichen, aber vor allem auch individuelle Begabungen identifizieren und aktiv fördern. Beispielsweise ist es wahrscheinlicher, dass bei einem Kind, das aus einem deutschen bürgerlichen Elternhaus kommt, beim Abendessen über Literatur, klassische Musik oder Politik gesprochen wird. In meinem Elternhaus war das nicht der Fall. Keinesfalls bedeutet dies aber, dass man als Kind aus einem anderen Elternhaus wie dem meinigen dafür nicht empfänglich wäre. Ich meinerseits interessiere mich seit der Mittelstufe sehr stark für Fremdsprachen, für die Literatur und die Kunst, klassische Musik, und entschied mich Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen zu studieren. Es waren meine Lehrer, die meine Interessen für diese Bereiche erkannten und die sie seit der Oberstufe förderten. Meine persönliche Motivation, Politikwissenschaft zu studieren, lag am evangelischen Religionsunterricht, in den ich ab der 11. Klasse aus freiem Willen aus dem Türkischunterricht wechselte. Der ortsansässige Pfarrer vermittelte auf undogmatische Art und Weise Themen, die jeden Menschen – insofern er ein philosophierendes Wesen ist – jenseits seiner Herkunft oder Art betrafen. In einer Klausur über den Arbeitsbegriff im Anschluss an Karl Marx behandelten wir einen Textauszug aus Hannah Arendts Die Vita activa oder Vom tätigen Leben. Dieser Text politisierte mich. Nach der Klausur fragte ich meinen Lehrer, wer die Schriftstellerin sei. Bereits im nächsten Religionsunterricht lieh er mir das Werk Arendts und die dazugehörige Sekundärliteratur aus. Er verschaffte mir Zugang in einen Bereich, auf den ich alleine vielleicht nicht gestoßen wäre.

702,91 ₽
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459 стр. 49 иллюстраций
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9783864081262
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