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Читать книгу: «Was bildet ihr uns ein?», страница 3

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Im Trend doch fern vom Ziel

Ein Vorteil, der durch die hohe Professionalität des Fachpersonals entsteht, ist die Möglichkeit, neue pädagogische Konzepte umzusetzen, bei denen beispielsweise die Einzigartigkeit der kindlichen Entwicklung im Mittelpunkt steht. In den vergangenen Jahren wurden pädagogische Konzepte entwickelt und in der Praxis erprobt, die auf die neuen Erkenntnisse der Forschung und die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens reagieren. Deutschland ist eine Wissensgesellschaft geworden und um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, sind ein guter Schulabschluss oder gar ein Universitätsabschluss enorm wichtig. Das wirkt sich auch auf die frühkindliche Bildung aus, denn die Qualität dieser beeinflusst den Schulerfolg eines Kindes maßgeblich. Hier darf aber nicht der Schluss gezogen werden, die kindliche Erziehung nur an die Anforderungen der Schule anzupassen. Entscheidend ist nur, dass jedes Kind den Raum und die Unterstützung bekommt, den es für seine Entwicklung braucht. Beispielhaft dafür sind die vom Deutschen Jugendinstitut entwickelten Bildungs- und Lerngeschichten17 und das infans-Konzept18 der Frühpädagogik. Hier werden Spiel- oder Alltagssituationen, und somit indirekt Lern- und Bildungsprozesse, durch die pädagogischen Fachkräfte in einem ersten Schritt meist in schriftlicher Form beschrieben und anschließend reflektiert. Dadurch können Handlungs- und Unterstützungsangebote für das einzelne Kind entwickelt werden. In beiden Konzepten werden die einzelnen Schritte fortwährend dokumentiert. Durch diesen sich wiederholenden Prozess ist es möglich, das Kind mit seinem Zugang zur Welt besser zu verstehen und es entsprechend der individuellen Interessen und Stärken zu unterstützen. Auf dieser Grundlage sollen auch die Lernfelder betrachtet werden, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Blickwinkel des Kindes lagen. Dadurch können ihm neue Bildungsmöglichkeiten eröffnet werden. Die Konzepte Bildungs- und Lerngeschichten und infans machen sich stark für einen positiven und stärkenorientierten Blick auf jedes einzelne Kind und distanzieren sich von einer Defizitorientierung.


Mittlerweile setzen immer mehr Kitas in Deutschland diese Ansetze um. Doch profitieren Kinder tatsächlich von solch einer Haltung, wie sie in den beispielhaft aufgeführten Konzepten verlangt wird?

An dieser Stelle kann es nur ein klares Ja geben. Nicht nur unsere eigenen Erfahrungen aus der Kindheit zeigen, dass vor allem Dinge, die einen interessieren oder faszinieren, zum Erforschen angestiftet haben. Auch aktuelle Studien belegen, dass sich individuelle Lernförderung positiv auf Kinder auswirkt.

Folglich muss man Kindern den Raum geben, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und sie bei ihrem Lernprozess mit Material und Hilfestellungen unterstützen. Dies mag simpel klingen, doch scheint es Erwachsenen immer wieder schwerzufallen, ihre eigenen Interessen in den Hintergrund zu stellen und sich am Entwicklungsrhythmus der Kinder zu orientieren. Dadurch kann es zu solch unzähligen Förderprogrammen kommen, die ein Kind schnell überfordern können. Anstatt jeden Tag einen weiteren Kurs zu besuchen, braucht es Zeit.

Es gibt aber auch kritische Stimmen, die den individuellen Konzepten vorwerfen, die Kinder dadurch nicht ausreichend zu unterstützen, zu spät einzugreifen oder gar zu ignorieren, wenn Entwicklungsverzögerungen auftreten. Die Kritik ist berechtigt, doch muss auch klargestellt werden, dass dies nicht passiert, wenn die Konzepte korrekt umgesetzt werden. Wenn man die Konzepte ernst nimmt, so wird durch die Beobachtung und Dokumentation ein genaues Bild jedes einzelnen Kindes in einer Kita vorliegen und kein Kind unbeobachtet bleiben. Somit kann viel schneller und gezielter in kritischen Situationen gehandelt werden, wovon vor allem benachteiligte Kinder profitieren. Es ist also wichtig, dass mehr Kitas diese Konzepte umsetzen, wobei es wichtig ist, dass Fachkräfte einer Tageseinrichtung gezielt zusammenarbeiten. Eine Herausforderung, die es anzunehmen gilt. Den immer mehr Kitas, die inzwischen mit solchen Konzepten arbeiten, gebührt große Hochachtung, denn sie stellen mit aller Konsequenz die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder in den Fokus pädagogischer Arbeit. Diese Bemühungen sollten auch Akzeptanz und Einfluss außerhalb der Kitas finden, so beispielsweise in der Schule.

Viele Köche verderben den Brei

Da die Qualität der Kindergerten so entscheidend für den Bildungserfolg ist, hat jedes Bundesland sogenannte Orientierungspläne erstellt. Darin wird festgelegt, wie der Kindergartenalltag gestaltet sein soll, sprich: Es wird versucht, eine einheitliche Qualität in Kindergerten zu garantieren.21 Da jedes Bundesland einen eigenen Orientierungsplan entwickelt hat, in manchen Ländern heißt er auch Bildungsplan, unterscheiden sie sich allein schon im Umfang. Wehrend beispielsweise der Orientierungsplan von Niedersachsen22 insgesamt 60 Seiten umfasst, ist der bayerische23 Plan 253 Seiten stark. Sicherlich kann aufgrund der Seitenzahl keine Aussage darüber getroffen werden, wie sinnvoll und hilfreich diese sind. Dennoch zeigt sich daran die unterschiedliche Herangehensweise – denn diese liegen sehr wohl auch inhaltlich vor. So gibt es z. B. unterschiedliche Vorgaben in Bezug auf die pädagogische Orientierung sowie die Verbindlichkeit für die einzelnen Einrichtungen. Wehrend der bayerische Bildungsplan ausführlich die Lernwege und -ziele für die Kinder vorschreibt, wird dies im nordrheinwestfälischen24 Bericht eher offengehalten. Im Berliner Bildungsprogramm25 wird den Fachkräften wiederum vermittelt, wie sie die einzelnen Bildungsaspekte mit dem Alltag der Kinder verknüpfen können, ohne dass es sich gleich um „Unterrichtseinheiten“ handelt.

Wie sich die unterschiedlichen Bildungs- beziehungsweise Orientierungspläne auf die Bildung der Kinder auswirken, ist bislang nicht erforscht. Klar ist jedoch, dass durch die unterschiedliche Ausrichtung der Pläne bereits innerhalb Deutschlands ungleiche Voraussetzungen für frühkindliches Lernen entstehen. Hier werden Probleme, die im schulischen Kontext bereits altbekannt sind, wie unterschiedliche Lehrpläne oder Lehrbücher, bereits in die frühe Kindheit vorgezogen, so dass Kinder mit verschiedene Voraussetzungen eingeschult werden. Wenn nun auch noch Aspekte von sozialer Benachteiligung hinzukommen, mag man sich die Auswirkungen kaum vorstellen. Es ist demnach fragwürdig, inwieweit diese Pläne tatsächlich eine Verbesserung für Kinder darstellen, wenn jedes Bundesland seinen eigenen Masterplan verfolgt.

Ein Gütesiegel allein sichert keine Qualität

Mit der gesetzlichen Verankerung26 der Pflicht, mehr Kindergarten- bzw. Krippenplätzen in Deutschland zu schaffen, rückte auch zunehmend die Frage nach der Qualität der Kitas27 in den Fokus der Öffentlichkeit. Da die mangelnde Qualität eines Kindergartens zu einer Hürde für das Kind werden kann28, ist die Frage nun, wie diese garantiert werden kann.

Die sogenannte Nationale Qualitätsinitiative im System der Tageseinrichtungen29, an der sich seit 1999 zehn Bundesländer beteiligen, ist exemplarisch für die aktuellen Qualitätsbestrebungen in Kindertageseinrichtungen der Länder. In diesem Zusammenhang entstand der Nationale Kriterienkatalog, anhand dessen nun die Qualität von Kindertageseinrichtungen überprüft werden kann. Zudem wurde mit der Veröffentlichung „pädagogische Qualität entwickeln“30 Hilfestellung zur internen Evaluation in Tageseinrichtungen für Kinder gegeben. Mit dem deutschen Kindergarten-Gütesiegel31 wurde im gleichen Zuge eine Möglichkeit der externen Evaluation bzw. Qualitätserhebung geschaffen.

Durch diese Verfahren können bestehende Strukturen und Prozesse stetig überdacht werden. Zudem ist es so möglich, die pädagogische Arbeit weiterzuentwickeln und auf neue Herausforderungen zu reagieren. Dadurch beeinflussen sie also indirekt die Entwicklung der einzelnen Kinder.

Aus Kindersicht kann dies nur gutgeheißen werden, da angestrebt wird, die pädagogische Arbeit ständig zu optimieren. Solche Verfahren können aber nur dann für Kinder von Nutzen sein, wenn Kitas verpflichtet werden, diese Vorgaben auch umzusetzen. Ist dies nicht garantiert, wie zurzeit in Deutschland der Fall, ist die Qualität der Kindertageseinrichtungen sehr unterschiedlich. Inwieweit Kinder adäquat betreut und gefördert werden, ist dann mehr oder minder dem Zufall überlassen. Ob dies nun in Form eines Gütesiegels oder durch anderer Maßnahmen umgesetzt wird, ist dabei dann nicht maßgeblich. Entscheidend ist vielmehr ein verpflichtendes, verlässliches und nachvollziehbares System, das es möglich macht, bundesweit die Umsetzung von Qualitätsstandards zu überwachen. Deshalb muss es sich die Bundesregierung zur Aufgabe machen, die Qualitätsstandards in den Kitas zu überprüfen und verstärkt einzufordern.

Nutzt die Gunst der Stunde

In jedem Fall muss die Aufmerksamkeit, die der frühkindlichen Bildung derzeit zuteil wird, genutzt werden. Vor allem weil viel in diesem Bereich investiert wird. Somit kann wirklich etwas bewegt werden, da sich die Qualität der Kindertageseinrichtung direkt auf den Schulerfolg von Kindern auswirkt. Dennoch sollte vorschulische Bildung nicht als Zulieferbetrieb des Schulsystems betrachtet werden. Ein Kindergarten sollte vielmehr als ein geschützter Ort für individuelle Entwicklung und Bildung von Kindern betrachtet werden. Diese Orte müssen für alle Kinder zugänglich sein – eine Aufgabe, die es noch stärker anzugehen gilt.

Derzeit werden viele Gelder zur Verfügung gestellt, um mehr Kindergartenplätze zu schaffen, so dass man dem Rechtsanspruch jedes Kindes auf einen Betreuungsplatz nachkommen kann. Andererseits werden die Gelder aber auch in die Forschung und Ausbildung investiert. Entscheidend wird jedoch sein, welche Projekte, Studien und Programme unterstützt werden und ob diese positive Entwicklungen im Bereich frühkindlicher Bildung anstoßen. Wir können es uns nicht leisten, die freigesetzte Energie verpuffen zu lassen.

Dennoch reichen die Bemühungen in den aufgeführten Bereichen wie der Professionalisierung, der Qualitätsentwicklung und der Entwicklung pädagogischer Konzepte noch nicht aus. Die Frage ist, wie sich die erworbenen Kompetenzen wehrend der Kindergartenzeit in Bezug auf die Bildungsverläufe von Kindern auswirken. Dies kann aber nur im Kontext der Familie und des Schulsystems diskutiert werden. Nur wenn die Anschlussfähigkeit der Systeme gegeben ist, können Bildungsverläufe nachhaltig unterstützt werden. Hierfür müssen die Übergänge aktiv mitgestaltet werden. Ein Kind ist nicht von einem Tag auf den anderen ein Schulkind, bloß weil es im passenden Alter ist. Die Verantwortung hierfür trägt aber nicht allein die Kindertageseinrichtung. Auch die Grundschule als folgende Bildungseinrichtung hat bereits vor, wehrend und nach dem Schuleintritt seinen Anteil daran. Folglich ist es eine gemeinsame Aufgabe von Kindergarten und Schule, das Kind und seine Eltern in der Übergangszeit zu begleiten. Die vorgestellten pädagogischen Konzepte können hierfür eine gutes Hilfsmittel sein. Sie sind wesentlich mehr am Kind orientiert als irgendwelche Schulvorbereitungskurse, die dem Kind bereits vor dem Schuleintritt die Freude am Lernen zunichte machen.

Es bleibt also wichtig, was wir schon in unserer Kindheit hatten: Kinder brauchen Zeit und Vertrauen, um sich zu entwickeln. Dann tun sie es auch.

Von der Förderschule behindert – Ein Plädoyer für die Vielfalt
Laura Hoffmann


Wird über das deutsche Schulsystem diskutiert, spricht man allgemein von einem dreigliedrigen Modell, womit die Hauptschule, die Realschule und das Gymnasium gemeint sind. Bei dieser Aufzählung wird allerdings vergessen, dass viele Schüler diese Schulen nicht besuchen dürfen und auf eine weitere Schulform gehen: die Förderschulen. Dort lernen Schüler mit sogenannten Beeinträchtigungen wie einer Lernschwäche oder einer Seh- oder Körperbehinderung. Diese Schulen sind seit langem fester Bestandteil des deutschen Schulsystems und so muss man korrekterweise von einem viergliedrigen Schulsystem in Deutschland sprechen. In der öffentlichen Debatte jedoch werden diese Schulen oft unterschlagen und gelten als „Ausnahmeschulen“, die als solche nicht Teil des allgemeinen Schulsystems sind.

Die Trennung, die zwischen dem allgemeinen Schulsystem und den Förderschulen vollzogen wird, spiegelt sich auch in der Gesellschaft wider: Die Aufteilung von Kindern und Jugendlichen auf Förderschulen ist nämlich einer der Gründe dafür, dass Menschen mit geistigen, körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen in Deutschland nicht selbstverständlich zu unserem Alltag gehören. Die Frage ist also, wie wir als Gesellschaft mit Unterschiedlichkeit und den daraus resultierenden verschiedenen Bedürfnissen umgehen wollen.

Die Trennung von Schülern verdeutlicht auch, wie Bildung in Deutschland derzeit verstanden wird. Allein die Existenz dieser Schulen zeigt, dass eine Trennung zwischen beeinträchtigten Menschen und den vermeintlich „Normalen“ für sinnvoll gehalten wird. Dabei wird oft argumentiert, dass Schüler mit Beeinträchtigungen auf separaten Schulen besser gefördert werden können. Doch ist das wirklich der Fall?

Gut gemeint ist schlecht gemacht

Schon vor oder wehrend der Grundschulzeit erfolgt die Trennung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Dann wird bei den betroffenen Kindern aufgrund ihrer geistigen, körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen ein sogenannter „sonderpädagogischer Förderbedarf “ diagnostiziert. Mit dieser Diagnose verschwinden sie aus dem Alltag der meisten Menschen.

Derzeit besuchen in Deutschland etwa 400.000 Jungen und Mädchen32 Förderschulen. Sie werden auf die verschiedenen Schultypen wie Förderschulen für Lernbehinderte oder Förderschulen für Körperbehinderte aufgeteilt. Die Lehrer und Sonderpädagogen an diesen Schulen leisten sicherlich gute Arbeit – das steht außer Frage. Dennoch muss hinterfragt werden, ob diese Trennung wirklich im Sinne des Kindes ist und ob die individuelle Förderung nicht an einer gemeinsamen Schule für alle besser erfolgen kann. Denn es sollte nicht das Ziel sein, so vielen Schülern die Möglichkeit zu nehmen, mit allen anderen gemeinsam zu lernen.

Gerade für Kinder ist es nämlich wichtig, die individuellen Bedürfnisse von Menschen als etwas Normales und Alltägliches kennenzulernen und die Unterschiedlichkeit ihrer Mitmenschen als etwas Bereicherndes zu begreifen. Kinder gehen damit viel selbstverständlicher um als Erwachsene, da sie keine Vorstellung davon haben, was „normal“ ist. Die frühe Trennung aber führt dazu, dass Kinder den selbstverständlichen Umgang mit Beeinträchtigungen verlernen. Die Aufteilung auf verschiedene Schulen verdeutlicht ihnen die Unterschiedlichkeit zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Für die Kinder mit Beeinträchtigung wiederum spiegelt der Besuch einer Förderschule nicht nur eine Bewertung ihrer vermeintlichen Leistung wider, sondern vielmehr gerade die Tatsache, dass sie im Vergleich zu den übrigen Kindern „anders“ sind.

Die Diagnose der sogenannten Lernbehinderung ist dabei besonders problematisch. Sie ist mit Abstand der häufigste Grund, weswegen Kinder auf eine entsprechende Förderschule gehen – etwa 160.000 Schüler besuchen in Deutschland eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernbehinderung. Wer genau als lernbehindert gilt, ist schwierig zu definieren. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass Lernbehinderte von ihrem „Lern- und Leistungsvermögen […] von der Altersnorm abweichen und zusätzliche sonderpädagogische Förderung benötigen“33. Allerdings gibt es in der Praxis enorme Abgrenzungsprobleme sowohl zu den „normal“ Lernenden als auch zu anderen Gruppen von Beeinträchtigten wie den sogenannten geistig Behinderten. So trifft das Zitat des Erziehungswissenschaftlers Ulrich Bleidick den Kern des Problems: „Lernbehindert ist, wer eine Schule für Lernbehinderte besucht.“34 Schülern wird eine Lernbehinderung folglich von Außen zugeschrieben. Ohne Förderschulen würde es eine solche Kategorie nicht geben. Diese Kinder sind also ausschließlich am Ort des Lernens, also in der Schule, beeinträchtigt, und das wirkt sich auch auf das Befinden der Kinder aus.

Doch nicht nur das: Die Diagnose des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist eine Weichenstellung für das ganze Leben. Das Kind wird auf eine separate Schule gehen, an der es hauptsächlich Menschen treffen wird, die die gleichen Beeinträchtigungen haben. Es wird die Schule nur in seltenen Fellen mit dem Hauptschulabschluss, in der Regel aber ohne Schulabschluss verlassen. Etwa 80 Prozent der Schulabgänger verließen im Jahr 2011 die Förderschule ohne Hauptschulabschluss.35 Nach der Schule arbeiten die meisten in speziellen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, verrichten Hilfsarbeiten oder werden arbeitslos. Insbesondere für sogenannte „geistig Behinderte“ gibt es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum Alternativen zur „Werkstatt für Behinderte“.36 Dies führt dazu, dass sich auch nach dem Schulbesuch nur selten Begegnungen zwischen den beiden Gruppen ergeben. Viele Menschen mit Beeinträchtigungen haben kaum die Möglichkeit Kontakte mit Menschen ohne Beeinträchtigungen zu knüpfen. Das heißt auf der anderen Seite aber auch, dass der Umgang mit Beeinträchtigten im Alltag ungewohnt ist. Viele wissen nicht, wie sie sich bei Begegnungen verhalten sollen.

Mit dem Stempel des sonderpädagogischen Förderbedarfs sind diese Menschen also voraussichtlich für ihr ganzes Leben von vielen Bereichen wie dem allgemeinen Bildungs- und Weiterbildungsweg sowie dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Die Institution der Förderschule behindert also die Menschen in ihren Lebenschancen.

Zum Berufserfolg von Schülern mit einer sogenannten Lernbehinderung forscht Urs Haeberlin, emeritierter Professor der Universität Freiburg in der Schweiz. Über die biografischen Folgen des Sonderunterrichts veröffentlichte er 2011 eine Langzeitstudie. 37 Diese ging der Frage nach, ob die spätere berufliche und soziale Situation von Kindern mit einer sogenannten Lernbehinderung durch schulische Integration oder durch separaten Unterricht besser gefördert werden. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Ausbildungs- und Berufschancen für diejenigen, die in separaten Sonderklassen38 unterrichtet wurden, sind schlechter. So sind Ausbildungsabbrüche und Langzeitarbeitslosigkeit für diese Gruppe charakteristisch. Hinzu kommt, dass das Selbstwertgefühl dieser Jungen und Mädchen viel niedriger ist als bei Schülern in einer integrativen Klasse.

Überhaupt leiden Jugendliche, die eine Förderschule besuchen, oft stark unter dem Stempel des Förderschülers. So zeigt beispielsweise Brigitte Schumann, ehemalige Lehrerin und Politikerin, in ihrer empirischen Studie, dass die Förderschule die Schüler sozial isoliert. 39 Oft empfinden sie den Besuch der Förderschule als so ablehnendes Erlebnis, dass sie gar verschweigen, auf welche Schulform sie gehen, um nicht noch weiter ausgegrenzt zu werden. Somit ist es diesen Schülern häufig nicht möglich, ein positives Selbstbild aufzubauen, da das durch die negativen Stigmatisierungen gehemmt wird oder sie diese gar übernehmen. Die eigentlichen Probleme der Lernbehinderung bleiben dabei verschleiert. Denn die große Mehrheit aller Förderschüler kommt aus sozial schwachen Familien und so scheint die Beeinträchtigung mit der sozialen Herkunft einherzugehen. Die Herkunft dieser Kinder beeinträchtigt also ihre Bildungschancen.40

Kinder mit „sonderpädagogischem Förderbedarf “ werden aber auf Förderschulen geschickt mit dem Hinweis: Man könne sie dort besser fördern und besser auf sie eingehen. Doch dies ist nicht mehr als eine Wunschvorstellung, wie das Ergebnis einer Studie des Lernbehindertenpädagogen Hans Wocken zeigt: Schüler erreichen auf einer Förderschule nicht wie erwartet bessere Leistungen, sondern verharren auf dem gleichen Niveau.41 Der geplante Schutzraum ist also nicht mehr als eine Bremszone, die zudem noch in die soziale Isolation führt. Laut Ute Erdsiek-Rave, Kultusministerin von Schleswig-Holstein a.D., führt die Situation der sogenannten Lernbehinderten in Deutschland auf internationaler Ebene zu Kopfschütteln und Unverständnis. Der Tenor auf der Weltbildungskonferenz der UNESCO in Genf 2008 sei gewesen, dass Heterogenität nicht leistungsfeindlich sei und Kinder mit Lernschwierigkeiten Unterstützung, aber keine eigenen Schulen bräuchten. Ihrer Meinung nach ist die Existenz der Förderschulen für Lernbehinderte „in geradezu fahrlässigem Umfang diskriminierend“42. Sie hätten sich zudem zu einem Sammelbecken für sozial Benachteiligte und Migranten entwickelt.43 All diese Ergebnisse sprechen eine Sprache: Förderschulen für Lernbehinderte stehen der Chancengleichheit entgegen und behindern Menschen auf ihrem Lebensweg.

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459 стр. 49 иллюстраций
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9783864081262
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