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V. Dank

Dieser Band geht auf eine Tagung zurück, die als Kooperation der Professur für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt Theaterforschung an der Universität Hamburg, der Hamburger Theaterakademie und dem Internationalen Zentrum für schönere Künste Kampnagel im Januar 2019 auf dem Gelände der Hamburger Kampnagel-Fabrik stattfand. Künstlerische Inputs und Lecture Performances gab es von Antje Pfundtner in Gesellschaft, Monika Gintersdorfer und Franck Edmond Yao, Signa und Arthur Koestler sowie einem Seminar des Hamburger Masterstudiengangs Performance Studies unter Leitung von Noah Holtwiesche.

Herzlich danken wir neben allen Beiträger*innen und Beteiligten Kampnagel (hier vor allem Alina Buchberger, Amelie Deuflhard, André Huppertz-Teja, Nadine Jessen und Uta Lambert), Ergün Yagbasan und dem Peacetanbul sowie Ewelina Benbenek, Franziska Fleischhauer, Noah Holtwiesche, Marvin Müller und Sophia Koutrakos für die Organisation der Tagung. Achim Rizvani danken wir für die Idee für Flyer und Buchcover und für inhaltliche Beratung. Mirjam Groll, Sophia Hussain und Sophia Koutrakos haben die Drucklegung dieses Bandes unterstützt.

Mit allen Genannten und hoffentlich noch vielen mehr soll es weitergehen mit der Forschung zu Texten und Sprechakten in Theater, Performance und weiteren szenischen Künsten der Gegenwart: zu recherchebasierten Texten, assoziativ entstandenen Texten, im szenischen Raum improvisierten Texten. Es soll weiter um TogetherTexte gehen: um in gemeinsamen Probenprozessen im physischen oder digitalen Raum erzeugte Texte oder in fiktiv sozialen Räumen unter Beteiligung des Publikums entstandene, in Stückentwicklungen und beziehungsweise oder in anderen Verfahren hervorgebrachte Texte, die die szenischen Künste auf die brüchige und uneinheitliche Vielstimmigkeit und Vielsprachigkeit der Welt außerhalb ihrer Schutzräume öffnen, ohne dabei diesen Schutz für das künstlerische Experiment, auch das Experiment mit der Sprache, aufzugeben.

1Gemeint sind mit der Öffnung zu nichtprofessionellen Beteiligten solche, die jedenfalls in Bezug aufs Theater Laien sind, aber oftmals Expert*innen (wie etwa bei Rimini Protokoll) einer anderen Profession (etwa Soziologie oder Klimawissenschaft). Sie sollen hier nicht generell amateurisiert werden.

2Wir beziehen uns hier auf die bekannte Metapher von Roland Barthes vom Text als »Gewebe«: »Text heißt Gewebe, aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat […] betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein beständiges Flechten entsteht.« Weniger geht es uns jedoch darum, inwieweit solch ein Text »sich selbst bearbeitet« und die Instanzen seiner Hervorbringung im Gewebe der verwendeten Zitate dabei »[auf]löst« (Barthes, Roland: Die Lust am Text, übersetzt aus dem Franz. von Traugott König, Frankfurt a. M. 1974, S. 94). Vielmehr sind die unterschiedlichen Sprechorte, Sprechinstanzen und Verfahren von Interesse, die diese Texte zusammenbringen, sowie die Spuren, die dies in etwaigen Resultaten hinterlässt.

3Gemeint ist damit zum einen eine »Kollektivität, die ihre Freiheit in einer Sprache oder einem Set von Sprachen ausübt, für die Differenz und Übersetzung irreduzibel sind« (Butler, Judith/Spivak, Gayatri Chakravorty: Sprache, Politik, Zugehörigkeit, übersetzt aus dem Englischen von Michael Heitz und Sabine Schulz, Zürich/Berlin 2007, S. 43). Ebenso gut kann es aber zum anderen um die Verfugung und Ausstellung agonaler Momente gehen. Vgl. Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, übersetzt aus dem Englischen von Richard Barth, Bonn 2015.

4Vgl. z. B. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 268f., S. 444f.; vgl. Wortelkamp, Isa: Sehen mit dem Stift in der Hand. Die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung, Freiburg i. Br./Berlin 2006.

5Vgl. für eine solche Annäherung an ein konstitutives Miteinander, das sich auch, aber nicht privilegiert in Sprache manifestiert, Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, übersetzt aus dem Französischen von Gisela Febel und Jutta Legueil. Stuttgart 1988, S. 151 – 169.

6Vgl. https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/karl-marx-das-kapital-erster-band. Ebenfalls auf der Webseite von Rimini Protokoll wird die Reaktion der FAZ auf die Preisverleihung unter dem Titel »Mülheimer Malaise. Dramatikerpreis für ein Nicht-Drama« wiedergegeben: »An die Biographien der Darsteller gebunden, hat die ganz amüsante Performance, eine Koproduktion von Hebbel am Ufer, Düsseldorfer Schauspielhaus, Schauspiel Frankfurt und Schauspielhaus Zürich, keinen Text zur Grundlage, der nachgespielt werden kann. So schwächen die Mülheimer Theatertage, bis vorgestern das wichtigste Forum für neue deutsche Stücke […] ihren Anspruch. Eine Selbstdemontage.« https://www.rimini-protokoll.de/website/de/text/muelheimer-malaise [beide abgerufen am 24. August 2020].

7Vgl. »Rimini Protokoll: Karl Marx: Das Kapital, erster Band«, in: https://www.berlinerfestspiele.de/de/theatertreffen/programm/2008/gesamtprogramm-2008/termine.html [abgerufen am 24. August 2020].

8Fülle, Henning: Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010), Berlin 2016, S. 263.

9Da der Begriff ›performativ‹ sich inzwischen für jegliche künstlerische Verfahren durchgesetzt hat, die nicht direkt an einer Abbildästhetik orientiert sind, sei er hier im Folgenden auch in einem sehr weiten Sinne verwandt.

10Vgl. Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hrsg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007.

11Vgl. z. B. Schipper, Imanuel (Hrsg.): Rimini Protokoll: Staat 1 – 4. Phänomene der Postdemokratie, Berlin 2018. Eine größere Sammlung von Texten (allesamt aus dem Kontext der frühen Gießener Schule: andcompany&Co., Gob Squad, Rimini Protokoll, She She Pop, Showcase Beat Le Mot) liegt in Übersetzung interessanterweise auf Englisch vor, inklusive Das Kapital: Vgl. Cornish, Matt (Hrsg.): Everything and Other Performance Texts from Germany, London u. a. 2019.

12Häufig geschieht dies in Abgrenzung zur dramatischen Tradition wie z. B. in Simon Straußens Plädoyer für eine größere Aufmerksamkeit für deren Reichtum: »Die Schwäche der derzeitigen Dramaturgie an deutschen Theatern […] zeigt sich durch nichts so deutlich wie durch das nahezu vollständige Ausbleiben literarischer Entdeckungen.« Stattdessen werden – Rimini Protokolls Marx-Bearbeitung scheint nicht so fern – »ohne mit der Wimper zu zucken […] Beziehungsratgeber und Sachbücher auf die Bühne gebracht.« (Strauß, Simon: »Prolog«, in: ders. (Hrsg.): Spielplanänderung! 30 Stücke, die das Theater heute braucht, Stuttgart 2020, S. 11 – 16, hier: S. 12f.)

13Sprenger, Veit: »Was ihr so Drama nennt«, in: Deck, Jan/Umathum, Sandra (Hrsg.): Postdramaturgien, Berlin 2020, S. 358 – 364, hier: S. 358). SCBLM aus der Gießener Schule führen eigentlich einen Sieg des Spektakels über das (dramatische) Wort bereits im Namen.

14Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater; vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; vgl. Bourriaud, Nicolas: Esthétique relationnelle, Dijon 2001.

15Röggla, Kathrin: »Hinter der Wand. Über Sprache und Zeitgenossenschaft«, in: Eilers, Dorte Lena/Nioduschewski, Anja (Hrsg.): Stück-Werk 6. Neue deutschsprachige Dramatik im Gespräch, Berlin 2020, S. 18 – 21, hier: S. 19.

16Vgl. Matzke, Annemarie: »Jenseits des Freien Theaters«, in: https://nachtkritik.de/index.php?view=article&id=7472%3Ahildesheimer-thesen-v-n&option=com_content&Itemid=84 [abgerufen am 24. August 2020].

17Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Stücke und ihre Analyse, Tübingen 1997.

18Bayerdörfer, Hans-Peter: »Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung«, in: Balme, Christopher u. a. (Hrsg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Tübingen 2007, S. 1 – 14, hier: S. 5; vgl. auch Tigges, Stefan (Hrsg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008.

19Vgl. Aristoteles: Poetik, übersetzt aus dem Altgriechischen von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 94 – 97; vgl. Halliwell, Stephen: Aristotle’s Poetics, London 1986, S. 337 – 344.

20Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 145.

21Vgl. Haraway, Donna J.: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, Durham/London 2016, S. 58 – 98; Vgl. neben Haraway auch Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, übersetzt aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2010, S. 86 – 131; vgl. Aggermann, Lorenz u. a. (Hrsg.): Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, Frankfurt a. M. 2017.

22Das heißt nicht, dass diese Texte nicht immer wieder in der breit angelegten Auseinandersetzung mit den szenischen Künsten des 21. Jahrhunderts angesprochen und verhandelt werden: Die Forschung zu den szenischen Künsten des 21. Jahrhunderts ist ebenso umfangreich wie zu neueren Theatertexten. Das hier als TogetherText gefasste Phänomen scheint uns jedoch in den unterschiedlichen Perspektiven verloren zu gehen.

23Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 261.

24Ebd., S. 264.

25Ebd., S. 266.

26Ebd., S. 269.

27Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 209 – 227; vgl. Schrödl, Jenny: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012.

28Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 321; vgl. Finter, Helga: »Zur Dioptrik von Bühne, Film und Zuschauer«, in: Fischer-Lichte, Erika u. a. (Hrsg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen 1994, S. 183 – 192.

29Birkenhauer, Theresia: Schauplatz der Sprache – Das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Chechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin 2005; vgl. Reinhardt, Michaela: TheaterTexte – Literarische Kunstwerke. Eine Untersuchung zu poetischer Sprache in zeitgenössischen deutschen Theatertexten, Berlin 2014.

30Es lässt sich argumentieren, dass bereits im antiken Drama die Schrift als verbreitete Kulturtechnik einen distanzierten Blick der Figuren auf sich und ihr Schicksal ermöglicht – und sie so als Figur mit individuellen Zügen vom Chor absetzt. (Vgl. Segal, Charles: Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca, NY 1986, S. 77 – 107.) Der Buchdruck ermöglicht die Renaissance der europäischen Theaterkulturen in der Frühen Neuzeit. (Vgl. Peters, Julie Stone: Theatre of the Book 1480 – 1880. Print, Text and Performance in Europe, Oxford 2000.)

31Vgl. Huck, Ella/Reinicke, Dorothea (Hrsg.): Masters of Paradise. Der transnationale Kosmos Hajusom – Theater aus der Zukunft, Berlin 2014.

32Vgl. u. a. Sharifi, Azadeh: Theater für Alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln, Frankfurt a. M. 2011.

33Vgl. Brauneck, Manfred: »Vorwort«, in: ders./ITI Zentrum Deutschland (Hrsg.): Das Freie Theater im Europa der Gegenwart. Struktur – Ästhetik – Kulturpolitik, Bielefeld 2016, S. 13 – 43, hier: S. 24.

34Vgl. z. B. Bicat, Tina/Baldwin, Chris: Devised and Collaborative Theatre. A Practical Guide, Crowood 2002.

35Vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, aus dem Französischen von Michael Tillmann. Konstanz 2003, S. 147 – 210; vgl. Kunst, Bojana: Artist at Work. Proximity of Art and Capitalism, Winchester/Washington 2015, S. 50 – 87.

36Vgl. ebd., S. 87 – 98.

37Es gibt durchaus Inszenierungen der genannten Künstler*innen, in denen auch das Publikum spricht. So etwa bei Gernot Grünewalds Inszenierung ankommen. Unbegleitet in Hamburg, Premiere: 24. Oktober 2015, Thalia Theater Hamburg, Gaußstraße (mit der Dramaturgie von Anne Rietschel). In diesem biografischen Projekt berichten die Flüchtlinge in einzelnen Begegnungen mit dem Publikum über ihre Erlebnisse, die sie in Deutschland gemacht haben, und kommen dabei mit dem Publikum in ein direktes Gespräch.

38Theoretisch ist der Begriff des Autors beziehungsweise der Autor*in schon lange problematisiert; an seiner Gängigkeit in der Praxis hat das wenig geändert. Bei der vorliegenden Fragestellung ist keineswegs sicher, dass alle Beteiligten »konstruktiv« bei der gemeinsamen Texterzeugung kooperieren. Sollte die texterzeugende Interaktion davon geprägt sein, dass partikulare Interessen verfolgt und durchgesetzt werden, spräche man genauer von agonalen anstelle von kooperativen Formen der Texterzeugung. Vom wissenschaftlichen Zugang her sind beide Verhaltensweisen und alle Zwischenformen gleichwertig.

39Vgl. Chance 2000 – Abschied von Deutschland (D 2017) – Regie: Kathrin Krottenthaler und Frieder Schlaich.

40Vgl. Schlingensief, Christoph/Hegemann, Carl: Chance 2000: Wähle Dich selbst, Köln 1998.

41Vgl. Peters, Sibylle: »Das Forschen aller – ein Vorwort«, in: dies. (Hrsg.): Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 7 – 22.

42Vgl. Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012; vgl. McAuley, Gay: Not Magic But Work. An Ethnographic Account of a Rehearsal Process, Manchester 2012.

43Vgl. z. B. aus der My Documents – Share your screen!-Serie Etchells, Tim: OR ALL YOUR CHANGES WILL BE LOST, live übertragen am 6. Juni 2020 (https://www.youtube.com/watch?v=RrDf9ySVmKg [abgerufen am 24. August 2020]).

44Das wäre das Versprechen der literaturwissenschaftlichen critique génétique: Werke beziehungsweise Resultate durch eine genaue Rekonstruktion der Entwicklungsstufen zu kontextualisieren – beziehungsweise, wie einige Kritiker*innen fürchten, zu ersetzen. Vgl. z. B. Grésillon, Almuth: »›Critique génétique‹. Gedanken zu ihrer Entstehung, Methode und Theorie«, in: Bremer, Kai/Wirth, Uwe (Hrsg.): Texte zur modernen Philologie, Stuttgart 2010, S. 287 – 307.

45Vgl. Matzke: Arbeit am Theater, S. 87f.

46Schipper: Rimini Protokoll, S. 10.

47»Neues und gebrauchtes Theater – René Pollesch im Gespräch mit Carl Hegemann.«, in: Wangemann, Jutta/Höppner, Michael (Hrsg.): Gnade – Überschreitung und Zurechtweisung, Berlin 2005. Programmbuch zur Inszenierung Schuld und Sühne von Frank Castorf.

48She She Pop: Sich fremd werden. Beiträge zu einer Poetik der Performance, Berlin 2019, S. 75.

49Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 241 – 251. Zur Problematisierung vgl. Butler/Spivak: Sprache, Politik, Zugehörigkeit, S. 28 – 47.

50Vgl. Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensform. Mit einem Anhang: Der Engel und der General Intellect. Individuation bei Duns Scotus und Gilbert Simondon, Berlin 2019, S. 61 – 99.

I. Institutionelle Einflüsse und theatergeschichtliche Perspektiven auf Prozesse der Texterzeugung

Christina Zintl

Die Erweiterung des Autor*innenbegriffs beim Stückemarkt des Theatertreffens

Der Stückemarkt des Theatertreffens hat 2012 damit begonnen, den Autor*innenbegriff neu zu betrachten und dabei auch kollektive Prozesse der Texterzeugung miteinzubeziehen. Als ich 2012 die Leitung des Stückemarkts übernommen habe, hatte ich vorher als Dramaturgin an Staatstheatern etwa zwei Drittel zeitgenössische Texte betreut, von denen etwa die Hälfte Stück- oder Projektentwicklungen waren. Diese Situation wurde in dem, was der Stückemarkt bis dato präsentiert hatte, nicht abgebildet. Yvonne Büdenhölzer, die bis 2011 den Stückemarkt geleitet und ab 2012 die Leitung des Theatertreffens übernommen hatte, hatte die Idee, mit einer großen Umstrukturierung des Stückemarkts einen Weg zu finden, auch kollektive Projekte repräsentieren zu können. Bei der Überarbeitung des Festivals haben wir uns insbesondere die Aufgabe gestellt, dafür entsprechende neue Modalitäten im Auswahlprozess zu finden. Abgesehen von dem quantitativen Bild, das ich gerade beschrieben habe, fand ich persönlich, dass spannende Impulse gleichermaßen von literarisch beziehungsweise klassisch schreibenden Autor*innen und von Kollektiven, Gruppen und Projekten ausgingen, und auch die Felder, in denen diese Arbeiten entstanden sind, also Stadt- und Staatstheater sowie die Freie Szene, sich immer mehr überschnitten und gegenseitig inspiriert hatten. Ehrlicherweise muss man wahrscheinlich sagen, dass vor allem die Staats- und Stadttheater wichtige innovative Impulse aus der Freien Szene bekommen haben. Zeitgleich hat sich auch in der Theatertreffen-Auswahl diese Entwicklung widergespiegelt: Gruppen wie Rimini Protokoll, Milo Rau (International Institute of Political Murder), She She Pop und Gob Squad wurden eingeladen, und so war dieser Umstrukturierungsprozess des Stückemarkts letztendlich einfach ein Mitgehen mit der Zeit.

Auch wenn diese Überlegungen vielleicht zunächst nachvollziehbar klingen, war es in der konkreten Arbeit gar nicht so leicht, eine Vergleichbarkeit in der Beurteilung herzustellen. Diese Entwicklung war ein Prozess über mehrere Jahre, in denen wir immer wieder neue Kriterien und neue Modalitäten in dem Bewerbungsverfahren ausprobiert und verbessert haben. Im ersten Jahr wurde beispielsweise nur ein Konzept für eine Projektarbeit ausgewählt und in einem Projektlabor mit René Pollesch als Mentor entwickelt. In diesem ersten Jahr ging es erst einmal darum, herauszufinden, was und wie viel eingesendet wird und wie eine Jury diese Einsendungen diskutieren kann. Das hat sofort zu Diskussionen in der Jury geführt, und der Wunsch wurde formuliert, dass man keinen Unterschied zwischen klassischen Texten und Projekten in der Auswahl machen sollte, sodass alle Arbeiten gemeinsam diskutiert werden könnten. Ausgehend von diesem starken Bedürfnis haben wir uns darauf konzentriert, die Kriterien für die Einsendungen und die Auswahl neu zu definieren, sodass es möglich wurde, eine bessere Vergleichbarkeit im Auswahlprozess herzustellen. Es mussten neue Kriterien entwickelt werden, die prozesshaften, kollektiven Textentwicklungen gerecht werden. Beispielhaft kann man sagen, dass eine hohe literarische Qualität oder eine gute Nachspielbarkeit vielleicht gar nicht die wichtigste Qualität solcher Texte darstellen. Gerade mit dem Kriterium der »Nachspielbarkeit« haben wir uns intensiv auseinandergesetzt – dies wäre ja ein naheliegendes Kriterium, wenn man die Distributionsstruktur des klassischen Stückemarktes anschaut. Dass neue Autor*innen den Zugang in eine Theater- und Verlagslandschaft finden, war ein zentraler Aspekt in den vorherigen Jahren des Stückemarkts. Dabei kreiste eine wichtige Diskussion um den Uraufführungshype und um die Forderung nach häufigerem Nachspielen. Aber wir haben schnell gemerkt, dass man bei der Erweiterung des Autor*innenbegriffs vielen spannenden Arbeiten, die sehr an die Performer*innen und an den Live-Charakter der jeweiligen Arbeit gebunden sind, mit dem Kriterium »nachspielbar« nicht gerecht wird. Beispielsweise hatten bisher wenige die Idee, Stücke von She She Pop nachzuspielen, und auch die Arbeiten der ersten zum Stückemarkt eingeladenen Gruppe Markus & Markus, die sehr stark von der Energie der beiden Performer lebte, waren nicht in erster Linie auf Nachspielbarkeit angelegt. Nachdem im folgenden Jahr der Autor*innenbegriff sehr stark erweitert und auch Arbeiten aus dem Bereich des Physical Theatre und der Narrative Spaces eingeladen wurden, hatten wir wiederum den Eindruck, dass der Stückemarkt kein ausreichend scharfes Profil mehr aufwies. Wir sind dann in einem nächsten Schritt dahin gekommen, den Textbegriff beim Stückemarkt wieder weiter einzugrenzen und haben als neues Kriterium den Begriff der Sprache gefunden, d. h., damit ein Stück für den Stückemarkt zugelassen wird und vergleichbar diskutiert werden kann, sollte Sprache ein Hauptaspekt der Arbeit sein oder im Zentrum der Arbeit stehen – egal, ob die Sprache vor oder während des Probenprozesses von ein oder mehreren Menschen aufgeschrieben wird, ob sie erst in jeder Aufführung entsteht, es vielleicht sogar gar keine Sprache gibt, dabei aber stark um die Abwesenheit von Sprache geht. Zentral musste nur ein definierbarer, klarer Umgang mit oder eine Reflexion über Sprache sein. Das hat sich als sehr brauchbares Kriterium herausgestellt; es konnten Fragen entwickelt werden, die auf alle Arbeiten beziehbar waren, z. B.: Welche Aufgabe übernimmt die Sprache in einer Arbeit? Wie wird über die Möglichkeiten von Sprache nachgedacht? Was macht die Qualität der Sprache aus? Wir haben dann allerdings auch relativ schnell gemerkt, dass es trotzdem schwierig bleibt, wirkliche Vergleichbarkeit herzustellen.

Überraschend war in diesem Prozess für uns, dass wir wenig wissenschaftliches Handwerkszeug für die Analyse und Beschreibung eines Sprachbegriffs finden konnten, das für neue Stücke, ob kollektiv-prozesshaft oder klassisch entwickelt, anwendbar wäre. Ein wichtiger Grund für das Fehlen der wissenschaftlichen Literatur ist, vermute ich, dass die Veröffentlichung und Analyse der Transkription beziehungsweise Fixierung der Sprache in eher performativen Entwicklungsbereichen bisher nicht so eine große Rolle gespielt hat.

Ich denke, die Schwierigkeit der vergleichenden Besprechung der unterschiedlichen Entwicklungspraxen hat nicht nur mit dem überschaubaren analytischen Handwerkszeug zu tun, sondern auch mit der klassischen Distribution von Theaterstücken. Dass sich z. B. die meisten Verlage bis heute an den Bedürfnissen literarischer, individueller Formen von Autor*innenschaft ausrichten, ist dabei ein zentraler Punkt. Bei den meisten Verlagen werden Stücke in ein Programm aufgenommen, es werden Werkaufträge verhandelt, Nachspielmöglichkeiten gesucht etc. (Es gibt einige wenige Verlage, die verschiedene Künstler*innen vertreten und sich stärker als Agentur aufgestellt haben.) Theaterverlage arbeiten in erster Linie mit dieser Form der Distribution mit Staats- und Stadttheater zusammen und tragen so auch deren Repertoirebetrieb und Abonnent*innenstrukturen Rechnung. Auf der anderen Seite gibt es die Freien Spielstätten, die mit diesem literaturbasierten Theaterbegriff kaum mehr umgehen, in denen klassische neue Dramatik also kaum noch vorkommt. Viele Autor*innen hingegen bewegen sich selbstverständlich in beiden Bereichen, schreiben individuell und im Rahmen von kollektiven Entwicklungen, wie z. B. Olivia Wenzel, Laura Naumann, Leif Randt.

Ich persönlich finde das sehr spannend, diesen sprachlichen beziehungsweise literarischen Aspekt von kollektiver, prozesshafter Sprachentwicklung zu untersuchen und diese damit als Form von Texterzeugung und Autor*innenschaft stärker sichtbar zu machen. Unser Autor*innenbegriff hat sich stark gewandelt. Das bedeutet für mich aber nicht nur, dass ich alle Elemente einer Aufführung als Text betrachte, also alles Text beziehungsweise Autor*innenschaft darstellt, sondern gerade auch: Das, was ich klassischerweise als Text bezeichne, findet sich auch in Arbeiten mit mehreren Autor*innen, die nicht vor Probenbeginn den kompletten Text notiert haben. Die Kollektivierung der Arbeitsprozesse im Theater betrifft eben auch das Schreiben. Die Vorstellung, dass jede*r seinen beziehungsweise ihren eigenen, unantastbaren Geniebereich im Theater hat, empfinden viele, auch ich, als nicht mehr zeitgemäß.

Was wäre nun also das utopische Moment, wenn sich diese Textgenerierungen gegenseitig anregen? Wenn sie also in einer wissenschaftlichen Beschreibung besser in eine Verständigung miteinander kämen?

Ich glaube, dass sich vor allem diese Frage stellt: Was soll Theater sein und leisten? Was ist die neue Aufgabe in einer sich stark verändernden Gesellschaft? Das ist eine große Frage, an der man gemeinsam arbeiten muss, und nicht jede Berufsgruppe im Theater für sich. Gerade von den Autor*innen wird oft erwartet, dass sie diese Relevanzfrage lösen, dass sie mit ihren Stoffen und neuen Formen die Antwort darauf liefern sollen: Womit sollen wir uns beschäftigen? Warum ist Theater noch wichtig? Und das können die Autor*innen meines Erachtens nicht alleine leisten, weil Theater einfach kein ausschließlich literaturbasiertes Medium mehr ist (oder jemals war). Ich glaube, für die neue Standortbestimmung von Theater ist wichtig, dass dies wahrscheinlich besser unter den Bedingungen kollektiver künstlerischer Prozesse beantwortet werden kann. Und dabei muss eine Vielfalt von Stimmen abgebildet werden. Interessant ist bei allen Diversifizierungsprozessen im Theater für mich die Frage nach dem Kanon. Damit Neues in unsere Vorstellung vom Kanon hineinkommen kann, müssen wir neue Kriterien entwickeln und neue Möglichkeiten der Beschreibung haben. Das bedeutet nicht, dass ein Text, der individuell zu Hause geschrieben wurde, weniger spannend ist, sondern einzig, dass starre Vorstellungen davon, wie künstlerische Arbeiten entstehen, sehr viel Innovatives ausschließen und dass der Dialog zwischen allen Beteiligten genauso zum künstlerischen Prozess dazugehören kann und vielleicht vermehrt dazugehören sollte.

Letztendlich sind wir beim Stückemarkt wieder bei einer tendenziellen internen Quotierung gelandet und haben festgelegt, dass von den fünf ausgewählten Stücken immer mindestens zwei aus jedem Bereich (individuelle Autor*innenschaft beziehungsweise Projektentwicklung) kommen sollen, weil das den Juror*innen die Arbeit erleichterte. Unser Ausgangspunkt war dabei, dass wir eine Vielfalt an Formen und Schreibweisen gesucht haben: das Nebeneinanderstellen von künstlerischen Praxen, die sonst nicht gleichberechtigt als Stücke im Bereich der Autor*innenschaft in Dialog treten. Auch aus diesem Gedanken kam die Entscheidung, die Benennung Stückemarkt beizubehalten, also zu behaupten: Das alles sind gleichermaßen neue Stücke.

1 670 ₽
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483 стр. 23 иллюстрации
ISBN:
9783957493248
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