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Die Schriftstellerin Kathrin Röggla spricht in ihrem Essay „Reden in Zeiten der VerrohungVerrohung“ (Le Monde diplomatique, Mai 2016) von der ubiquitären Zerstörung der „Würde der Rede“ (Frühwald), der überall erlebbaren „Aufkündigung des Gesprächs“ und den zahlreichen „VerrohungVerrohungskampagnen“ (eines ihrer Beispiele: Innenminister de Maizières Satz, „man dürfe sich nicht von Kinderaugen erpressen lassen und müsse diese Bilder eben aushalten“), und sie erzählt folgendes: „Meine Irritation setzte im letzten Jahr auch oft genug beim bürgerlichen Kulturpublikum an. Was ist mit dem Publikum los? fragte ich mich da. Denn plötzlich pöbeln sie, und auch wenn man mir zum Beispiel in der Akademie der Künste sagte, sie haben da immer schon etwas gepöbelt, pöbeln sie jetzt anders, irgendwie lauter. Sie, die kulturinteressierten Bürger, unterbrechen die Leute, die zu hören sie ja gekommen waren. Sie sagen nicht immer zu einem iranischen Pianisten: ‚Reden Sie gefälligst deutsch, wenn Sie in Deutschland spielen!‘ – wie im März in der Kölner Philharmonie, als dieser sich in englischen Worten ans Publikum wandte –, aber oft muß man sie daran erinnern, daß eine Podiumsdiskussion erst mal etwas ist, wo Statements auf dem Podium ausgeführt werden, die dann in einem zweiten Schritt diskutiert werden. […] Für mich stellt gerade die vermeintliche Harmlosigkeit dieser zunehmenden Pöbeleien einen Indikator dar, einen Indikator für eine gewaltige Schieflage in der öffentlichen Kommunikation. Warum kündigen diese Leute die Veranstaltungskonventionen auf? Geht es ihnen um verstärkte Sichtbarkeit, wollen sie mehr gesehen und nicht übersehen werden?“
In der Cafeteria des geisteswissenschaftlichen Zweiges der Universität Frankfurt ist mir folgende Unterhaltung zu Ohren gekommen (die drei Frauen waren nicht zu überhören): „Diese Hartz-IV-Penner sollen das Maul halten.“ – „Es ist unglaublich, wie die sich aufführen.“ – „Die gehören in Zwangsarbeit gesteckt.“ Am nächsten Tag auf der Terrasse einer Speisegaststätte; zwei höhere Bahnangestellte, beide ungefähr Mitte dreißig; des einen Freundin ruft an; er: „Wieso bist du immer noch nicht da?! Dich mach’ ich rund, du Schlampe!“; und so weiter; nach dem Telephonat beginnt er gegenüber seinem Arbeitskollegen zu prahlen: „Wie ich die Alte heute fertiggemacht hab’, als es um den Posten 23 ging! Hat die losgeheult! Mann, war das geil!“
Folgenden Tags treffe ich einen Freund, der ebenfalls bei der Bahn beschäftigt ist. „So sind sie“, sagt er. „Heute kann sich jeder aufführen wie offene Hose.“ Das Niedermachen anderer sei üblich, sogenannte „Führungskurse“ brächten nichts. „Lustgewinn aus Demütigung, verstehst? Und nachher scheißfreundlich. Die Heuchelei ist Grundprinzip. Wie heißt’s? Anstand ist eine Zier, aber weiter kommt man ohne ihr.“
Die Folgen des vom Soziologen Wilhelm Heitmeyer in zahllosen empirischen Details beschriebenen „rabiaten Klassenkampfes von oben“, der vor Jahren angezettelt worden ist, sind allenthalben zu gewahren – bei den Auftritten der, mit Karl Kraus zu reden, „elektrisch beleuchteten Barbaren“ in Scripted-Reality-Shows und in den Schlangen im Supermarkt und auf der Post und in den Chefetagen und sonstwo.
Es scheine „mit der Angst vor dem Abstieg auch die Bereitschaft zu wachsen, sich im Verteilungskampf mit härteren Bandagen Vorteile zu verschaffen“, liest man auf der Website des WDR. Die Deregulierung des Sozialen ist weit vorangeschritten. Große Teile der Gesellschaft befinden sich im oder fürchten den „ständigen Abstiegskampf“ (ein winziger Teil organisiert ihn), sagt Oliver Nachtwey vom Frankfurter Institut für Sozialforschung (Spiegel Online, 14. August 2016). Der „gesteigerte Wettbewerb“ sei, erläutert er, „heute so schwer als solcher erkennbar, gerade weil er im Namen der Selbstentfaltung stattfindet“. Man denke etwa „an die sogenannten Helikoptereltern. Die sagen häufig, sie schicken ihr Kind schon mit vier Jahren zum Mandarinlernen, damit es gebildet ist. In Wirklichkeit wollen sie aber auch, daß es in Zukunft, wenn es noch viel härter wird da draußen, der Konkurrenz standhalten kann. Gerade in linken, liberalen Milieus findet sich diese Lebenslüge: Man ist ja immer für soziale Integration auf allen Ebenen – aber nicht mehr, wenn es um den eigenen Nachwuchs geht.“
Man ist geneigt, den „allgemeinen Kompetitionslärm“ (Joseph Vogl) soziolinguistisch auf den Begriff zu bringen. Bei Valentin Volosinov (Marxismus und Sprachwissenschaft – Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, 1929) gilt das Wort (oder Wortzeichen), das „empfindsam die feinsten Veränderungen des gesellschaftlichen Seins“ wiedergibt, als multidimensionales, mehrfach gebrochenes „ideologisches Zeichen“. In ihm kollidieren die heterogenen Ziele und Weltansichten, es artikuliert „die Überschneidung unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher Interessen innerhalb einer Zeichengemeinschaft“. Das Wort, eine Art Akzentuierungsagent der Konfrontation, der Text, die Rede, die „ideologische Kommunikation“ werden somit „zur Arena des Klassenkampfes“.
Für Brecht war Freundlichkeit eine politische Kategorie, eine erlernbare Haltung, und „wo Freundlichkeit nicht geübt werden kann, wegen der Härte der Klassenauseinandersetzungen, leben wir in finsteren Zeiten“ (Christian Semler).
Adorno notierte in den Minima Moralia, „daß in der repressiven Gesellschaft Freiheit und Unverschämtheit aufs gleiche hinauslaufen“ (§ 72). Und Richard Sennett hielt in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität (Frankfurt/Main 1983) fest, Zivilisiertheit bedeute, daß man „nicht das eigene Selbst zu einer Last für andere macht“. – „Zivilisiertheit ist ein Verhalten, das die Menschen voreinander schützt und es ihnen zugleich ermöglicht, an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden.“
Mir scheint, davon sind wir weiter denn je entfernt.
Kulturhistorische Dimensionen
Höflichkeitsdissonanzen. Zum Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsformen in historischen Texten und Gesprächen
Dieter Cherubim
Politeness may be reconstructed as a means of controlling social distance, depending on the evaluation of situations and cultural factors. In managing politeness the communicative behaviour need not be symmetrical but can be complementary or even dissonant. Two examples from 19th century literary texts (Karl May, Thomas Mann) are used to illustrate how this was achieved and also commented in poetic contexts. Some examples from an Austrian guide for polite behaviour (so-called Complimentirbuch) of the early 19th century (Rittler 1834) are quoted to illustrate ways of resolving social conflicts without losing composure.
1. Höflichkeitskonstruktionen und kultureller Kontext
Höflichkeit ist ein soziales Konstrukt zur Steuerung von menschlichen Interaktionen, das im Kern auf Variationen von Distanz oder Respekt beruht und sich in unterschiedlichen, u.a. auch sprachlichen Formen äußern kann (Cherubim 2011, 4ff.). Dabei stellt das Höflichkeitsverhalten, das sich notwendig kommunikativen Akten und deren Wahrnehmung und Interpretation bei den Beteiligten verdankt, eine „mittlere“ Stufe von Beziehungssteuerung zwischen den Interaktanten dar: zwischen Formen eines „kalten“, feindseligen oder aggressiven Verhaltens auf der einen Seite und Formen eines „warmen“, freundschaftlichen oder sogar liebevollen Verhaltens auf der anderen Seite, und es ist janusartig beiden Extremen zugewandt (vgl. Schema 1). Denn feindseliges Verhalten kann aus pragmatischen Gründen auf ein distanziertes Verhalten reduziert werden und aus Respekt kann sich mit der Zeit und bei entsprechenden Bedingungen ein freundschaftliches Verhältnis entwickeln, seltener auch wieder umgekehrt.
Schema 1
Was Höflichkeit ist oder als höfliches Verhalten verstanden wird, ist so nicht nur variabel und instabil, sondern auch sprach- und kulturabhängigkulturabhängig, wie man es sich schon am klassischen Beispiel der Anredepronomina verdeutlichen kann: In engen, relativ geschlossenen Gemeinschaften braucht man im allgemeinen keine unnötigen Komplikationen mit mehreren situationsspezifischen Alternativen oder setzt sie, falls doch vorhanden, gerne durch Zusatzregeln („Ab 2000 m Höhe / unter Wasser wird geduzt!“) außer Kraft. Entwickelte Gesellschaften mit ihren Differenzierungen und komplizierten Übergängen zwischen einzelnen Bereichen oder Sphären tendieren dagegen zur Ausprägung mehrerer Möglichkeiten, die in der Sozialisation von Kindern oder bei der Integration von Fremden erst mühsam erlernt werden müssen; und dies gilt vor allem, wenn sie mit anderen Möglichkeiten wie z.B. dem Gebrauch von Eigennamen gekoppelt sind. Im Deutschen ist etwa die Anrede mit dem VornamenVornamen meist mit dem Duzen verbunden, während das Siezen die Anrede mit dem Familiennamen (plus vorangestellten Titeln) verlangt; Ausnahmen davon sind aber in bestimmten Berufsfeldern (Kaufhaus) oder engeren Arbeitsgemeinschaften (auch in der Wissenschaft) möglich (Heringer 2009). Im Standardchinesischen gibt es hingegen nur eine Anredeform, die aber nicht mit dem Gebrauch des Vornamens verbunden werden darf; eine dem Siezen vergleichbare Form der Anrede ist (wie auch im Schwedischen) nur für wenige honorative Anreden reserviert (Liang 2009). Auch für das Englische gibt es bekanntlich nur die eine Möglichkeit des you, und selbst das in älteren Texten oder in religiösen Zusammenhängen noch verwendete thou fällt nicht aus diesem Rahmen, sodass soziale oder situative Differenzierungen auf andere formelle Techniken zurückgreifen müssen. Höflichkeitskonzepte sind also stets Antworten auf zivilisatorische Prozesse, die dann ihre eigene, durchaus ambivalente Kraft (z.B. Differenzierung, Identifikation und soziale Kontrolle) entfalten können. Selbst der deutsche Ausdruck Höflichkeit zeigt noch diese historische Relativität, insofern die Kultivierung des guten Geschmacks bzw. der „feinen“ Unterschiede durchaus mit der Institution der Höfe bzw. der höfischen Gesellschafthöfischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit zu tun hatte.1
Der konstruktive Charakter von Höflichkeit ergibt sich daraus, dass entsprechende Verhaltensweisen eben nicht absolut, sondern erst im Zusammenhang oder als Ergebnis interaktiver Akte als mehr oder weniger höflich, nicht-höflich oder sogar als unhöflich bestimmt werden können und dass sie eine Verarbeitung unterschiedlicher Faktoren voraussetzen: vor allem von Intentionen, die dabei verfolgt werden, von Höflichkeitsregeln, die in verschiedener Form (z.B. durch kommunikative Praxis oder Regelbücher) vermittelt werden, und von Situationseinschätzungen, die selbst wieder komplexer Natur sind (Bayer 1977). Dabei wird oft davon ausgegangen, dass der Gebrauch von höflichen Verhaltensweisen eine Art SymmetrieSymmetrie, d.h. den Bezug auf gleiche oder wenigstens vergleichbare Höflichkeitskonzepte beinhalte, sodass Höflichkeit und Unhöflichkeit den gleichen Maßstäben unterliegen. Dies ist aber eine kontrafaktische Annahme, die nicht der vielseitigen Realität des Höflichkeitsmanagements in kommunikativen Zusammenhängen und damit auch nicht unseren Erfahrungen damit entspricht.
2. Höflichkeitsentwicklung am Beispiel. Vom Kompliment zur Aggression
Wie Höflichkeitskonstruktionen in kommunikativen Akten entstehen, kann man sich modellhaft (und das heißt: vereinfachend) wie folgt vorstellen:
Schema 2
Eine Aktion eines Kommunikanten A verfolgt hinsichtlich eines Kommunikanten B eine bestimmte (bewusste oder unbewusste) Intention (z.B. jd. geneigt zu machen / jd. zu etwas veranlassen) und versucht diese Intention höflich, d.h. mit Distanz oder Respekt an B zu vermitteln. Dabei orientiert sich A an geltenden Normen oder erfahrungsgestützten Regeln der Höflichkeit (z.B. jdm. nicht zu nahe treten) und wählt nach Einschätzung der aktuellen Kommunikationssituation (z.B. soziales Gefälle, formell vs. informell) diejenigen Ausdrucksmittel sprachlicher und / oder nichtsprachlicher Qualität aus, von denen er glaubt, dass er damit erfolgreich ist, ohne damit die vorausgesetzte Beziehung zwischen A und B (hier: Distanz / Respekt) in Frage zu stellen. Das Verhalten von A erzeugt dann, wenn adäquat wahrgenommen und verstanden, bei B einen Eindruck nicht nur von dem, was A von ihm will, sondern auch von dessen Höflichkeitskompetenz, Situationseinschätzung und dem vorausgesetzten Beziehungsverhältnis, das nicht in Frage gestellt werden soll. Die daraus abgeleitete Reaktion von B kann dann die gesamte Konstellation bestätigen, aber auch partiell oder im Ganzen korrigieren, was wiederum von A zu verarbeiten ist und so in folgenden kommunikativen Schritten zu weiteren Aktionen und Reaktionen bzw. entsprechenden, eventuell modifizierten Interpretationen auf beiden Seiten Anlass geben kann. Vieles von diesen rekursiv anwendbaren Prozessen wird dabei nicht sichtbar gemacht, sondern nur aus bestimmten Anzeichen (z.B. Tonfall, Gebrauch von Modalpartikeln) erschlossen; aber es ist natürlich auch möglich und keineswegs selten, dass Divergenzen durch metakommunikative Thematisierung sichtbar gemacht und verhandelt werden.
Ich wähle ein literarisches Beispiel des späten 19. Jahrhunderts, das ich in anderen Zusammenhängen schon ausführlicher diskutiert habe: den Beginn des Romans „Am Rio de la Plata“ von Karl May (1894).1 Die dort in Form einer Ich-Erzählung dargestellte, relativ abgeschlossene Szene umfasst drei Schritte:
1 Besuch eines Unbekannten im Hotel des Erzählers mit auffällig übertriebener („überhöflicher“) Begrüßung und Unterbreitung eines noch unbestimmten Angebots, das sich letztlich als delikat (Waffenhandel, Bestechung) erweisen sollte:
Eben setzte ich den Hut auf, als es an meine Tür klopfte. Ich rief herein, und zu meinem großen Erstaunen trat ein fein nach französischer Mode gekleideter Herr ein. Er trug eine schwarze Hose, eben solchen Frack, weiße Weste, weißes Halstuch, Lackstiefel und hielt einen schwarzen Zylinderhut in der Hand, um welchen ein weißseidenes Band geschlungen war. Dieses Band, von welchem zwei breite Schleifen herabhingen, brachte mich unerfahrenen Menschen auf die famose Idee, einen Kindstauf- oder Hochzeitsbitter vor mir zu haben. Er machte mir eine tiefe, ja ehrerbietige Verneigung und grüßte:
„Ich bringe Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst!“
Er wiederholte seinen tiefen Bückling noch zweimal in demonstrativ hochachtungsvoller Weise. Wozu dieser militärische Titel? Hatte man hier in Uruquay vielleicht dieselbe Gepflogenheit wie im lieben Österreich, wo die Kellner jeden dicken Gast ‚Herr Baron‘, jeden Brillentragenden ‚Herr Professor‘ und jeden Inhaber eines kräftigen Schnurrbartes ‚Herr Major‘ nennen? Der Mann hatte so ein eigenartiges Gesicht. Er gefiel mir nicht. Darum antwortete ich kurz:
„Danke! Was wollen Sie?“
Er schwenkte zweimal den Hut hin und her und erklärte:
„Ich komme, mich Ihnen mit allem, was ich bin und habe, zur geneigten Verfügung zu stellen.“
1 Prüfung des Angebots durch den von Beginn an misstrauischen Erzähler und Versuch einer Klärung der Situation:
Dabei richtete sich sein Auge von seitwärts mit einem scharf forschenden Blick auf mich. Er hatte keine ehrlichen Augen.
Darum fragte ich: „Mit allem, was Sie sind und haben? So sagen Sie mir zunächst gefälligst, wer und was Sie sind.“
„Ich bin Señor Esquilo Anibal Andaro, Besitzer einer bedeutenden Estanzia bei San Fructuoso. Euer Gnaden werden von mir gehört haben.“
Es kommt zuweilen vor, daß der Name eines Menschen bezeichnend für den Charakter desselben ist. Ins Deutsche übersetzt, lautete derjenige meines Besuches Äschylus Hannibal Schleicher. Das war gar nicht empfehlend.
„Ich muß gestehen, daß ich noch nie von Ihnen gehört habe“, bemerkte ich. „Da Sie mir gesagt haben, wer und was Sie sind, darf ich wohl auch erfahren, was Sie haben, das heißt natürlich, was Sie besitzen?“
„Ich besitze erstens Geld und zweitens Einfluß.“
Er machte vor den beiden Worten, um sie besser ins Gehör zu bringen, eine Pause und sprach sie mit scharfer Betonung aus. Dann sah er mich mit einem pfiffigen, erwartungsvollen Augenblinzeln von der Seite an. Sein Gesicht war jetzt ganz dasjenige eines dummlistigen, dreisten Menschen.
1 Die Klärung der Situation (Verwechslung) führt dann zu einer tendenziell aggressiven Haltung (Erregung) beim Besucher, der wiederum der Erzähler mit „kalter“ Höflichkeit begegnet:
Da rief er zornig: „So hole Sie der Teufel! Warum sagten Sie das nicht sogleich?“
„Weil Sie nicht fragten. Ihr Auftreten ließ mit Sicherheit schließen, daß Sie mich kennen. Erst als Sie von den Gewehren sprachen, erkannte ich, wie die Sache stand. Dann habe ich Sie sofort auf Ihren Irrtum aufmerksam gemacht, was Sie mir hoffentlich bestätigen werden.“
„Nichts bestätige ich, gar nichts! Sie hatten mir nach meinem Eintritt bei Ihnen sofort und augenblicklich zu sagen, wer Sie sind!“
Er wurde grob. Darum antwortete ich in sehr gemessenem Ton:
Ich ersuche Sie um diejenige Höflichkeit, welche jedermann von jedermann verlangen kann! Ich bin nicht gewöhnt, mir in das Gesicht sagen zu lassen, daß mich der Teufel holen sollte […].
Die so entwickelte AggressivitätAggressivität auf beiden Seiten führt dann zur Artikulation verdeckter und offener Vorwürfe (Unterstellung von Heuchelei) und zum Abgang des Besuchers nach Austausch von intentional gesichtswahrenden Drohungen und Gegendrohungen.
Die literarische Form des Textes macht es hierbei möglich, die sich wandelnde Situationseinschätzung wenigstens des Erzählers fortlaufend miteinzuarbeiten. Interessant ist auch, wie stark dabei nonverbale und paraverbale Höflichkeitstechniken (Kleidung, Gestik, Mimik, Betonung) neben klassischen sprachlichen Mitteln (Titulaturen, performative Formeln wie geneigt u.ä.) eingesetzt werden2 und wie dann die schrittweise Veränderung der sozialen Beziehungen, die vor allem vom Erzähler und von dessen durch Skepsis bestimmten, wenig entgegenkommenden (eher unhöflichen) Reaktionen ausgeht, durch entsprechende Interpretationen (ehrerbietig, eigenartig, [nicht] ehrlich, dummlistig, dreist / vertraulich, erstaunt, ernst, verlegen, zornig, grob) signalisiert und gesteuert wird. Höflichkeit und UnhöflichkeitUnhöflichkeit bzw. GrobheitGrobheit als gemeinsam konstruierte Beziehungskonzepte werden zudem in ihrer Ambivalenz sichtbar gemacht: Höflichkeit kann darauf abzielen, einen persönlichen Zugang zu öffnen, aber auch (so im Beschluss der Szene durch den Erzähler), jemand kalt „abfahren“ zu lassen; Unhöflichkeit kann zunächst noch positiv als List der Verstellung verstanden werden, dient aber letztlich dazu, die Illusion einer freundlichen Beziehung zu zerstören und AggressivitätAggressivität zu entfalten.
3. Regional und sozial bedingte Differenzen von Höflichkeitsstilen
Höflichkeitskonzepte und ihre Umsetzung im kommunikativen Alltag dienen also primär der Beziehungssteuerung zwischen den Beteiligten auf einem bestimmten Niveau und orientieren sich dabei an anthropologischen und kulturhistorischen Voraussetzungen, die durch praktische Erfahrungen bestätigt und sekundär durch fixierte Regeln kontrolliert werden können. Nicht immer wird jedoch Höflichkeit im sozialen Handeln benötigt. So kann Höflichkeit z.B. bei der Abwehr von drohenden Gefahren, wenn schnelles Handeln nötig ist, eher hinderlich sein und ist deswegen auch in manchen institutionellen Kontexten (z.B. beim Militär) explizit ausgeschlossen oder wird durch hochgradig rituelles Verhaltenrituelles Verhalten ersetzt. Ebenso fehl am Platz erscheint sie auch in ganz persönlichen Situationen (z.B. bei Liebeserklärungen); hier kann sie sogar kontraproduktiv wirken.1
Wie Höflichkeit aktuell konstruiert bzw. fortlaufend rekonstruiert wird, ist so ein Akt der BalanceBalance, bei dem Intentionen und Situationseinschätzungen der Beteiligten miteinander verarbeitet und die dabei mehr oder weniger bewusst unterstellten Höflichkeitsregeln auf ihre Anwendbarkeit und Geltung hin überprüft werden müssen. Dabei erwecken Anstandsbücher bei ihren Demonstrationen von gesellschaftlich relevantem Höflichkeitsverhalten (der „feinen Art“, wie es früher gern hieß) oft den Eindruck, als gäbe es nur die Alternative zwischen regelkonformem („höflichen“) und regelabweichendem („unhöflichen“) Verhalten, während in der Realität, z.B. bei unterschiedlichen sozialen Konstellationen eine größere Bandbreite von Möglichkeiten des Einsatzes von Höflichkeitstechniken oder Höflichkeitsverstößen beobachtbar ist. Darüber hinaus wird leicht der Eindruck vermittelt, gute Höflichkeit erfordere eine gewisse Kooperativität zwischen den Beteiligten, die sich u.a. in Symmetrien oder der Reziprozität des Verhaltens zeige. Tatsächlich dürften sich aber den beobachtbaren Konsonanzen ebenso häufig Dissonanzen, z.T. als bloß fakultative Varianzen, z.T. als Konfliktmarkierungen an die Seite stellen lassen. Nehmen wir wieder ein Beispiel aus dem Alltag.
Der in so vielen Sprachen und Kulturen beliebte Tageszeitgruß (Guten Tag!), der meist nur noch als reduzierte Wunschformel verstanden wird oder sogar bloß noch ein semantisch leerer HöflichkeitsmarkerHöflichkeitsmarker ist, wird im Normalfall mit einem symmetrischen Respons (_guten Tag!) verbunden. Abweichungen von dieser Praxis z.B. in der Umgangssprache sind aber sehr häufig und aus verschiedenen Gründen beliebt: So werden als Reaktionen gerne verkürzte Varianten (’n Tag! bzw. Tach!) eingesetzt, die je nach Tonfall positive (Kollegialität, Vertrautheit) oder negative Bedeutungen (Desinteresse, Abwehr) signalisieren können. Durch Aufwertung mit Diminutiv (Tachchen!) kann dabei eine negative Funktion der Verkürzung wieder aufgefangen werden. Die Neutralität des Standards (Guten Tag!) kann durch Nutzung regionaler Varianten (z.B. Moin in Norddeutschland, Grüß Gott! im Süden) oder ein Hallo als Lockerungsübung), weiterhin durch fremdsprachige Alternativen (Hey! Salus!) korrigiert und mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen werden, wobei das bei unterschiedlichen Situationseinschätzungen aber auch falsch (z.B. als Aufdringlichkeit oder Affektiertheit) verstanden werden kann. Eine pointierende, silbenbetonende Aussprache wird eher als Anzeichen größerer Formalität, eventuell sogar konfliktindizierend gedeutet; das gilt auch für Erweiterungen der Grußformel durch Titel und Namen. Nur die Grußformel zu benutzen kann darauf hinweisen, dass kein Gesprächskontakt möglich (Eile) oder erwünscht ist (Vermeidung); wird er jedoch gewünscht, folgen häufig Fragen nach dem Wohlbefinden, bei der wiederum eine minimale (lakonische) Replikation (gut!) wiederum kontraproduktiv wäre. Wie dies alles aber im konkreten Fall im Sinne einer Höflichkeitsgestaltung interpretiert und eingesetzt wird, muss jeweils Schritt für Schritt von den Beteiligten unter Nutzung verschiedener Informationen rekonstruiert und im Fortgang der Interaktion überprüft werden.
Während dissonante Höflichkeitsgestaltung dieser Art sich nur auf einzelne sprachliche Mittel bezieht und Fehlinterpretationen dabei leichter durch Korrekturen, notfalls auch durch metakommunikative Vergewisserungen repariert werden können, macht der Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsstile erheblich mehr Schwierigkeiten. Das kann z.B. generational (Jugendliche vs. Erwachsene), sozial (Unterschicht vs. Mittelschicht) oder regional (Dialekt vs. Standardsprache) bedingt sein, kann aber auch mehrdimensional (z.B. Dialekt- vs. Schicht- vs. Generationenkontraste) fungieren. Ein besonders schönes Beispiel dafür hat Thomas Mann mit einer Szene in den „Buddenbrooks“ (1894) geliefert, wo der Münchner Permaneder nach Lübeck kommt, um bei der Familie des Senators um die Hand der Schwester Toni anzuhalten. Da ich auch diese literarische Szene ebenfalls schon an anderer Stelle in ihrem Ablauf genauer behandelt habe (vgl. Cherubim 2009, 106ff.), kann ich mich hier auf die Verdeutlichung einiger DissonanzenDissonanzen und ihrer Folgen für die Höflichkeitsgestaltung im ersten Gespräch beschränken.
Die Szene (Teil VI, Kap. 4), die ja ebenso durch charakterisierende Hinweise des Erzählers oder der Figuren interpretativ abgesichert wird, lebt vor allem vom Gegensatz zwischen zwei Welten, was primär am Sprachverhalten verdeutlicht, aber ebenso auf anderen damit verbundenen Ebenen sichtbar gemacht wird. Dabei wird der Unterschied zwischen süddeutschem (bair.) Dialekt und norddeutscher Umgangssprache2 gerade auch als soziale Differenz zwischen einer groben, direkten Sprechweise des Besuchers, die weniger Rücksicht auf die Adressaten nimmt als darauf abgestellt ist, die eigene Befindlichkeit zu artikulieren, und einer „feineren“, beherrschten Sprechweise der alten Konsulin, die Verbindlichkeit intendiert, notfalls aber auch ins Unverbindliche ausweicht, dargestellt. Für das Dienstmädchen mit seiner einfacheren Weltsicht ist es sogar eine Differenz zwischen „deutsch“ (dütsch) und „nichtdeutsch“. Die Grobheit der Sprechweise des Besuchers wird paraverbal durch Merkmale wie „laut“, „(starke) Betonung“, „knorrig“ gekennzeichnet; ihrer als unkultiviert3 und aufdringlich empfundenen Wirkung entsprechen Erscheinung und Bekleidung des Gastes ebenso wie seine Mimik und Gestik (vertrauliches Blinzeln, unruhige Handbewegungen). Vor allem aber sind es die durchgängige Neigung zu direkten Gefühlsausbrüchen (Äußerungen des Unbehagens, der Freude) und vereinnahmende dialogische Formeln wie gelten’s, die das Selbstbild der um Beherrschung ringenden Konsulin mehrfach in Frage stellen:
Die Konsulin hatte sich nun völlig erhoben und trat mit seitwärts geneigtem Kopf und ausgestreckten Händen auf ihn zu …
„Herr Permaneder! Sie sind es? Gewiß hat meine Tochter uns von Ihnen erzählt. Ich weiß, wie sehr Sie dazu beigetragen haben, ihr den Aufenthalt in München angenehm und unterhaltend zu machen … Und Sie sind in unsere Stadt verschlagen worden?“
„Geltn’s, da schaun’s!“ sagte Herr Permaneder, indem er sich bei der Konsulin in einen Lehnsessel niederließ, auf den sie mit vornehmer Bewegung gedeutet hatte, und begann, mit beiden Händen behaglich seine kurzen und runden Oberschenkel zu reiben …
„Wie beliebt?“ fragte die Konsulin …
„Geltn’s, da spitzen’s!“ antwortete Herr Permaneder, indem er aufhörte, seine Knie zu reiben.
„Nett!“ sagte die Konsulin verständnislos und lehnte sich vor, die Hände im Schoß, mit erheuchelter Befriedigung zurück. Aber Herr Permaneder merkte das; er beugte sich vor, beschrieb, Gott weiß, warum, mit der Hand Kreise in der Luft und sagte mit großer Kraftanstrengung:
„Da tun sich die gnädige Frau halt … wundern!“
„Ja, ja, mein lieber Herr Permaneder, das ist wahr!“ erwiderte die Konsulin freudig, und nachdem dies erledigt war, trat eine Pause ein. Um aber diese Pause auszufüllen, sagte Herr Permaneder mit einem ächzenden Seufzer:
„Es is halt a Kreiz!“
„Hm … wie beliebt?“ fragte die Konsulin, indem sie ihre hellen Augen ein wenig beiseite gleiten ließ …
„A Kreiz is!“ wiederholte Herr Permaneder außerordentlich laut und grob.
„Nett“, sagte die Konsulin begütigend, und somit war auch dieser Punkt abgetan.
Auch andere Seiten dialektal geprägter Direktheit, z.B. eine brüske Reaktion auf ein höflich gemeintes Kompliment der Konsulin („Is scho recht. Davon is koa Red“), später noch die anbiedernde Anrede (Herr Nachbohr) und die unverstellte Demonstration bäuerlicher Schläue („ungewöhnlich hurtiger Blick“) gegenüber dem jungen Konsul kommen hier zum Zuge. Kein Wunder also, dass dies von der Familie beim späteren „Nachverbrennen“ als Stilwidrigkeit und fehlende Weltläufigkeit (Provinzialität) eingeschätzt wird, mit der man im Höflichkeitsmanagement schwer zu Recht kommt, sich bisweilen auf Unverbindlichkeiten zurückziehen muss wie die alte Konsulin („ein angenehmer Mann“) oder über die man sich (hinterher) arrogant „moquieren“ kann.