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3.1. Ernst Lange: Evangelische Erwachsenenbildung als Sprachschule für die Freiheit 46

Die grundlegenden Veränderungen in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft der späten 1960er und frühen 1970er Jahre unter den Leitbegriffen von Emanzipation und Mündigkeit, die einher gingen mit einem quantitativen und qualitativen Ausbau der Erwachsenenbildung, fanden auch ihren Niederschlag in Reformbestrebungen innerhalb der Evangelischen Kirche. Zu den profiliertesten Vertretern dieser kirchlichen Erneuerungsbewegung zählte zweifelsohne der ökumenische |30| Theologe Ernst Lange47, dessen Programm einer Sprachschule für die Freiheit die Theoriediskussion der Evangelischen Erwachsenenbildung aus emanzipatorischer Perspektive in dieser Phase bestimmte. Grundlegend für Langes Verständnis von Erwachsenenbildung ist sein Anspruch, Erwachsenenbildung nicht theologisch-deduktiv oder kirchlich-strukturell zu instrumentalisieren, sondern auf die wirkliche und unverfälschte Situation des Menschen einzugehen. Der Erwachsenenbildung mass Lange die Aufgabe zu, die Situation der Menschen, die er unterdrückt sah durch subtile, gesellschaftliche Zwänge im Westen oder durch massive wirtschaftliche und politische Zwänge in der Dritten Welt, zu erhellen im Lichte der biblischen Verheissungen.48 In diesen Argumentationsfiguren zeigen sich die beiden Pole von Langes Ansatz. Ausgehend von der Analyse der politischen, sozialen und psychischen Wirklichkeit der jeweiligen Gesellschaft hat die Evangelische Erwachsenenbildung die Aufgabe, bestehende Unterdrückungen aufzudecken und Lernprozesse zu initiieren, in denen als Zielhorizont die Verheissungen des Alten und Neuen Testamentes erscheinen.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit sieht Ernst Lange charakterisiert durch die Begriffe Freizeitgesellschaft und Bildungs- oder Lerngesellschaft. Freizeitgesellschaft trägt der Tatsache Rechnung, dass in den fünfziger und sechziger Jahren die arbeitsfreie Lebenszeit durch Arbeitszeitverkürzungen, verlängerten Jahresurlaub und frühere Verrentung erheblich gestiegen war. Zudem hatten sich die Erwartungen an die arbeitsfreie Zeit grundlegend verändert. «Sie soll die Verheissungen des eigentlichen Lebens, des eigenen freien, erfüllten, humanen Lebens enthalten – im Gegensatz zur Arbeit, zum entfremdeten Leben.»49 Nicht mehr der Beruf, sondern die Freizeit wird der Ort persönlicher Identitätsfindung. In der Freizeit soll man entschädigt werden für die durch Arbeit verlorene, entfremdete und sinnleere Lebenszeit. «Die Freizeit wird zur vita activa, nicht zur vita contemplativa.»50 Allerdings können zwei Drittel der Menschheit51 an den zweifellos vorhandenen Segnungen der Freizeit nicht teilhaben, und auch das verbleibende Drittel zeigt sich häufig als unfähig, mit der gewonnenen freien Zeit sinnvoll umzugehen, denn es verharrt in einer rezeptiven, konsumierenden Fremdbestimmung. «Der Freizeitmensch ist ein Mensch auf dem Rückzug, auf der Flucht.»52 |31| Er flieht aus dem öffentlichen Leben in das private, d. h. entpolitisierte Umfeld, und sucht Liebe und Glück in Familie, Freundeskreis, Vereinen. Aus der Überforderung dieser unmittelbaren Beziehungen entstehen Enttäuschungen, die kompensiert werden durch Ablenkungen und Zerstreuung, allen voran durch Fernsehkonsum. Die ursprüngliche Intention einer selbstbestimmten, wirklich freien und privaten Zeit wird in ihr Gegenteil verkehrt: das Erleben wird determiniert durch die öffentlich angebotenen Programme des Zeitvertreibs.

Ernst Lange wendet sich nicht moralisierend gegen grundlegende Bedürfnisse des Menschen in seiner Freizeit, aber er sieht ihre Ambivalenzen. Freizeit kann zu Rückzug in die Privatsphäre und Fremdbestimmung führen, aber Freizeit eröffnet auch Chancen zur Freiheit und diese gelte es zu nutzen. Denn Glück, Autonomie und Kreativität – die Bedürfnisse des Freizeitmenschen – bilden einen pädagogischen Zielhorizont, der mit den biblischen Verheissungen des Sabbats und des Kreuzes korrespondiert. «Sabbat und Kreuz heissen: der Mensch wird entlastet, er ist entlastet von Anfang an. Der Sabbat ist im Schöpfungsbericht der erste Lebenstag des Menschen. Der Ostertag ist der erste Tag jenes Befreiungs- und Erneuerungsprozesses, den das Neue Testament Gottesherrschaft nennt.»53 «Denn das Kreuz ist Gottes Einsatz für das Glück des Menschen. Und die Liebe, die am Glück des anderen interessiert ist, macht glücklich.»54 Der Sabbat und das Kreuz, das auf die Freude der Auferstehung verweist, werden zu Verheissungen eines gelingenden Lebens.

Aus der Dialektik zwischen Langes Analyse der bestehenden Gesellschaft und den skizzierten Verheissungen ergeben sich zahlreiche Lernimpulse, die gerade für eine Evangelische Erwachsenenbildung von besonderer Bedeutung sind. «Es ist der Beruf der Kirche, Menschen zu einem volleren Menschsein zu helfen, zu einem Leben im Licht ihrer Bestimmung zur ‹Freiheit der Kinder Gottes› und zwar durch die Bezeugung der Christusverheissung in Wort, Tat und Kirchengestalt.»55 Ernst Lange wendet sich dezidiert dagegen, aus den Lernimpulsen der Verheissung vorschnell eine pädagogische Konzeption abzuleiten. Wohl aber betont er, die Dynamik, die den Verheissungen innewohnt. «Von ihrem Ursprung her ist die biblische Verheissungstradition der ständig sich erneuernde ‹Ruf nach vorwärts›, heraus aus den dogmatisierten, ritualisierten und institutionalisierten Erfahrungen von gestern in die Erfahrungen, Leiden und Herausforderungen von heute und morgen.»56

Es ist die zentrale Aufgabe der Evangelischen Erwachsenenbildung, den Lernimpulsen der Verheissung zur ‹Freiheit der Kinder Gottes› zum Durchbruch zu |32| verhelfen. Doch es gibt auch gegenläufige Tendenzen und Strömungen, die zu einer stagnierenden Lernfähigkeit Erwachsener führen. Bestehende gesellschaftliche Konflikte werden durch offene oder subtile Gewaltverhältnisse unterdrückt und hindern dadurch Menschen – gegen ihre eigenen Interessen – dem Impuls einer verheissenen Freiheit zu folgen. «Einschüchterung und Angst und ihre seelischen und sozialen Folgen machen lernunfähig. Wo Menschen im Konflikt lernunfähig geworden sind, gelingt die Wiederherstellung ihrer intellektuellen, affektiven und sozialen Kräfte, ihrer Chancen menschlichen Wachstums nur so, dass der unterdrückte Konflikt und seine Folgen thematisiert und zum eigentlichen Lernfeld gemacht werden. Eingeschüchterte Menschen lernen nur im Konflikt und am Konflikt.»57 Mit diesen Worten beschreibt Ernst Lange die Grundzüge seines Programms einer konfliktorientierten Erwachsenenbildung, einer Partei ergreifenden Erwachsenenbildung für die lernunfähig gewordenen bzw. gemachten Menschen.58 Evangelische Erwachsenenbildung habe in diesem Kontext die besondere Aufgabe, `Sprachschule für die Freiheit´ zu sein.

Ernst Lange hat keine eigenständige Theorie oder gar eine geschlossene Konzeption kirchlicher bzw. Evangelischer Erwachsenenbildung entfaltet. Seine wenigen Veröffentlichungen zur Erwachsenenbildung zwischen 1969 und 1974 waren als Vorträge für einen bestimmten Adressatenkreis konzipiert. Dennoch wurde sein Ansatz zum wichtigen Impuls für künftige Theoriemodelle und auch für die Praxis der Evangelischen Erwachsenenbildung.59 Sein Verdienst sehe ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – im Wahr- und Ernstnehmen der psychosozialen Wirklichkeit der Adressaten, in seinem grundlegenden Modell der Verbindung von Tradition mit Situation. Dabei betont er die Freizeit als den spezifischen Ort der religiösen Erwachsenenbildung, der er eine eigene Dignität zuspricht. Er entwickelt in den biblischen Verheissungen einen Zielhorizont, der nicht vorschnell in Lernziele überführt wird. In Zeiten permanenter Transformationen muss sein ‹Ruf nach vorwärts› allerdings durch ein reflexives Programm des Innehaltens und Entschleunigens ergänzt werden. |33|

3.2. Gottfried Orth: Evangelische Erwachsenenbildung als Option für die Armen 60

Mit seiner Habilitationsschrift «Erwachsenenbildung zwischen Parteilichkeit und Verständigung»61 legte der evangelische Theologe Gottfried Orth ein Theoriemodell zur theologischen Erwachsenenbildung62 vor, das eine grosse Nähe zur Konzeption Ernst Langes und zu dem befreiungstheologischen Ansatz Paulo Freires aufweist. Gottfried Orth, lange Jahre theologischer Referent der Deutschen Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (DEAE), versucht dabei explizit, sein Modell einer theologischen Bildungsarbeit im Kontext Evangelischer Erwachsenenbildung «als Bildungsarbeit der evangelischen Kirche im Rahmen des Vierten Bildungsbereichs und seiner staatlichen Rahmenbedingungen theoretisch zu begründen und konzeptionell zu entwerfen».63

Bereits in der Einleitung seiner Habilitationsschrift geht er von der Prämisse aus, es gebe keine universal gültige Theologie, denn «die konkrete Wirklichkeit als ein Ort göttlicher Offenbarung [sei] sozialwissenschaftlich zu analysieren, damit Theologie auch analytisch beschreiben kann, wovon sie spricht, wenn sie von Wirklichkeit redet».64 Nach seiner Meinung sind Gesellschaft und Kirche in Westeuropa Teil und Profiteure eines Herrschaftssystems, das fortwährend Armut, Not und Unterdrückung in Lateinamerika, Asien und Afrika produziert.

Unter diesem Vorzeichen einer schuldhaften Verstrickung hat die Theologie bzw. theologische Erwachsenenbildung die Aufgabe, «zur Befreiung aller Menschen, zuerst der Armen und Unterdrückten beizutragen. Gott selber als Befreier wird zentrales Thema solcher Theologie sein.»65 Die unbedingte Solidarität mit den Armen wird zum konstitutiven Kriterium für glaubhafte christliche Existenz. Das bedeutet für seine evangelische Bildungsarbeit im pluralen staatlichen Weiterbildungssystem, dass «Bildungsbenachteiligte und Bildungsungewohnte – Arme, Arbeitslose, Behinderte, Frauen – erste Adressaten sowie Subjekte»66 seiner Konzeption theologischer Erwachsenenbildung sind. Es gilt daher, deren Erfahrungen von Unterdrückung und Armut sowohl biografisch aufzuarbeiten als auch die |34| gesamtgesellschaftlichen Macht- und Unterdrückungsmechanismen, die Armut und Unterdrückung produzieren, mit dem Ziel der Veränderung aufzudecken.

Den theologischen Zielhorizont für die anzustrebenden Veränderungen entwickelt Orth aus den biblischen Verheissungen. Es geht der theologischen Erwachsenenbildung «um eine Veränderung der gegenwärtigen Wirklichkeit aus der Zukunft des den Menschen vorausseienden Gottes her; dies zu denken ist freilich nur möglich, weil die Vergangenheit dieser Zukunft uns in Gottes Wort der Verheißung gegenwärtig ist».67 Die konkrete, gegenwärtige Wirklichkeit wird nicht in ihrer Faktizität, sondern von ihren zukünftigen Möglichkeiten her, für die Gott in Jesus Christus einsteht, zum Thema der Erwachsenenbildung. Er verweist auf die alttestamentlichen Propheten als Vorbilder dieser Konzeption einer theologischen Erwachsenenbildung, da sie «die alten Verheißungen und die neu ergangenen Worte Jahwes von der Gegenwart her und auf diese hin verstanden und zu konkretisieren wußten und auslegten».68 Ihre besondere Qualität habe in der Fähigkeit bestanden, die geschichtlichen Bewegungen und die Veränderungen ihrer Gegenwart wachsam wahrzunehmen und auf diese Wahrnehmungen mit ihren Verheissungen zu reagieren.

In der Bildungspraxis werden Menschen aus dem Umfeld des konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung faktisch zu den primären Adressaten von Orths Konzeption. Andere inhaltliche Zielsetzungen und Arbeitsschwerpunkte beurteilt er recht ungnädig, denn diese bewegten sich bezüglich der gesellschaftlichen oder politischen Organisiertheit der Teilnehmenden in einem «luftleeren Raum», die Teilnehmenden seien vor und nach den Veranstaltungen «individualisiert», die Angebote seien «folgenreich oder ebensogut folgenlos»69; solche Ansätze wollten überall sein und seien daher nirgends, da sie ihren gesellschaftlichen Ort verloren hätten.

Orths Theoriemodell besticht durch sein klares theologisches Profil und seine immanente Stringenz. Doch sein Modell ist eindimensional, es wird bestimmt durch seinen Zielhorizont und hat als Zielgruppe nur die Menschen im Blick, die seinen gesellschaftspolitischen Anspruch teilen. Die plurale soziokulturelle und psychosoziale Wirklichkeit der Adressaten wird ebenso ausser Acht geslassen wie die institutionellen Rahmenbedingungen von Institutionen der religiösen Erwachsenenbildung. |35|

3.3. Rudolf Englert: Religiöse Erwachsenenbildung als perspektivenverschränkende Bildung70

Das Christentum, vor allem aber die katholische Kirche, befindet sich durch massive gesellschaftliche und christentumsgeschichtliche Veränderungen in einer Zwischen-Zeit, in einer Jahrzehnte andauernden Zeit des Übergangs von einer volkskirchlich geprägten Sozialform des Christentums zu einer neuen, noch wenig konturierten Form kirchlich gebundenen Christseins. Mit dieser Formel charakterisiert Rudolf Englert in seiner breit angelegten Habilitationsschrift71 die religiöse Gegenwartssituation. Auch wenn Englert bereits am Beginn seines Eingangskapitels zu Recht betont, dass eine zeitgemässe Bildungstheorie eine Zeitdiagnose voraussetzt72, bezieht er sich in der Folge explizit und ausschliesslich auf die religiöse Gegenwartssituation, die er aus einer überwiegend katholisch akzentuierten Perspektive betrachtet. Denn es geht Englert um religiöse Erwachsenenbildung, die er als jenen Teilbereich kirchlicher Erwachsenenbildung definiert, «in dem es um die Bearbeitung grundlegender Lebens- und Sinnfragen im Horizont religiöser Traditionen geht».73 Erwachsenenbildung als Teil des staatlichen Weiterbildungssystems tritt ebenso zurück wie eine Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur. Ungeachtet dieser Einschränkungen beeindruckt Englerts Ansatz einer höchst differenzierten erwachsenendidaktischen Reflexion der Herausforderungen einer religiösen Erwachsenenbildung durch die Moderne, die sowohl in theoretischer Hinsicht durch die entfalteten Konvergenzen zwischen theologischen und pädagogischen Topoi als auch durch ihre bildungspraktischen Implikationen zu überzeugen weiss.

Die religiöse Gegenwartssituation stellt sich nach Englert höchst ambivalent dar. Einerseits lässt sich ein Bedeutungsverlust von Kirche und Religion an vielen Parametern aufzeigen – es kann von einer Tradierungskrise des christlichen Glaubens, einer fortschreitenden Entwicklung eines religiösen Indifferentismus gesprochen werden –, andererseits lassen sich auch eine erstaunliche Stabilität volkskirchlicher Verbundenheit, eine Renaissance von Religion(en), fundamentalistische Tendenzen und charismatische Aufbrüche inner- wie ausserhalb der Kirchen feststellen. Es bildet sich eine Pluralität von Deutungssystemen heraus, deren Wahrheitsanspruch mit dem des christlichen Glaubens konkurriert. Dieser religiöse Pluralismus führt zu einer fortschreitenden Privatisierung religiöser Auffassungen, während die einstmals geschlossenen konfessionellen Milieus immer mehr verschwinden. Englert resümiert: «Es gibt somit eine Tendenz zu immer ‹mehr› |36| (möglicher) Religion mit immer ‹weniger› (tatsächlicher) Relevanz.»74 Aus diesem christentumsgeschichtlichen Befund, der mit der gesellschaftsgeschichtlichen Zeitdiagnose Postmoderne korrespondiert, ergibt sich künftig eine deutlich grössere Bedeutung, eine kairologische Dringlichkeit, für religiöse Erwachsenenbildung als in Zeiten einer relativ stabilen Volkskirche. In dieser Phase der Transformation des religiösen Bewusstseins «leistet religiöse Bildung nicht nur einen Beitrag zur individuellen Orientierung, sondern hilft auch zukünftige Realisierungsformen von Christ-Sein und Christ-Werden zu modellieren».75

Auf der skizzierten Analyse der religiösen Gegenwartssituation gründet Englerts Konzeption von religiöser Erwachsenenbildung. Für eine von Pluralismus und Individualismus geprägte Zwischen-Zeit kann religiöse Erwachsenenbildung nicht auf eine einzige Zielsetzung beschränkt werden, sondern ein differenzielles Konzept, eine «polyperspektivische Bildungsstrategie»,76 ist gefordert. «Den Kern einer solchen Theorie stellt das Konzept einer perspektivenverschränkenden Bildung dar, das – Bildung als Transformationsprozess begreifend – bei den lebensweltlichen Deutungs- und Orientierungsmustern der Lernenden ansetzt, um diese unter Bezugnahme auf das […] Sinnangebot des Glaubens differenzieren und transzendieren zu helfen.»77 Doch zuvor muss religiöse Bildungsarbeit einen Bezug zum Alltagsleben der Teilnehmenden und den sie bestimmenden Sinnorientierungen finden. Neben dem bekannten religionsdidaktischen Korrelationsprinzip bezieht sich Englert hier vor allem auf den Begriff des Deutungsmusters. Im Anschluss an Rolf Arnold definiert er Deutungsmuster als «durch signifikante Bezugsgruppen vermittelte, gedanklich meist eher einfach strukturierte, relativ dauerhafte Sichtweisen, die es dem einzelnen ermöglichen, eine Vielzahl von Orientierungsproblemen unaufwendig, ‹plausibel› und im Einklang mit seiner lebensgeschichtlich ausgebildeten Identität zu ‹bewältigen›.»78 Der Deutungsmusteransatz konvergiert mit dem Korrelationskonzept, denn in beiden Fällen geht es darum, Lerninhalte auf die individuelle Lebensgeschichte zu beziehen bzw. beim Deutungsmusteransatz Lerngegenstände aus der Lebensgeschichte zu ermitteln. Es gilt, die (jüdisch-christliche) Tradition und individuelle (Lebens-)Situation in der Weise aufeinander zu beziehen, dass sich beide Perspektiven wechselseitig kritisch erschliessen.79 Die individuellen Sinnkonstruktionen und Orientierungsmuster der Teilnehmenden sollen dabei wahr- und aufgenommen werden, um durch die Begegnung mit und durch Impulse aus der jüdisch-christlichen Tradition weitergeführt zu werden. |37| Lernen bedeutet dann das Verändern bisheriger bzw. das Entwickeln neuer Deutungsmuster anstelle altvertrauter Sichtweisen.

Diese eher formale Begriffsklärung muss durch eine materiale Differenzierung ergänzt werden, bei der die Erwartungen an den Sinn von religiöser Bildung sichtbar werden. Englerts zentrale These lautet, dass die «Bedeutung, die jemand religiöser Bildung heute zutraut, wesentlich damit zusammenhängt, wie er sein eigenes bzw. wie er des Christentums Verhältnis zur Moderne beurteilt».80 In der unterschiedlichen Einschätzung des Verhältnisses von Christentum und Moderne, deren Kern im Programm der Aufklärung gesehen wird, liegt demnach das wesentliche materiale «Unterscheidungskriterium heute vorfindlicher Erwartungen an religiöse Bildung bzw. der ihnen zugrundeliegenden Deutungsmuster».81 Es werden drei Idealtypen unterschieden:

1 die antimodernistische Tiefenstruktur der den Vorstellungen von religiöser Bildung zugrunde liegenden Deutungsmuster (abgekürzt: antimodernistisches Deutungsmuster)

2 die moderne Tiefenstruktur der den Vorstellungen von religiöser Bildung zugrunde liegenden Deutungsmuster (abgekürzt: modernes Deutungsmuster)

3 die transmoderne Tiefenstruktur der den Vorstellungen von religiöser Bildung zugrunde liegenden Deutungsmuster (abgekürzt: transmodernes Deutungsmuster)

Diese verschiedenen Deutungsmuster werden als gleichrangig und gleichberechtigt angesehen. Mit dieser methodischen Vorgehensweise will Englert exemplarisch zeigen, worin die Aufgabe einer religiösen Bildung in der Zwischen-Zeit besteht: in der Einübung einer angemessenen Umgangsweise mit der «Ungleichzeitigkeit von Glaubensstilen und Bewusstseinsformen, die auf Diskriminierung verzichtet, ohne unkritisch zu sein, die Pluriformität begünstigt, ohne in die Beliebigkeit abzudriften».82

Es gilt daher, ein Gesamtkonzept religiöser Erwachsenenbildung zu entwickeln, das offen ist für das ganze Spektrum christlich-religiöser Milieus und Zielgruppen (Prinzip der Gleichrangigkeit) und zugleich über ein klares theologisches, pädagogisches und gesellschaftspolitisches Profil (Prinzip der Unterscheidung) verfügt. Damit ist zugleich der Anspruch beschrieben für das Konzept einer polyperspektivischen Bildungsstrategie. Diese basiert auf der These einer «inneren Entwicklungsfähigkeit aller vorfindlicher Glaubensgestalten – und zwar selbst der anscheinend nur beschränkt zukunftsfähigen».83 Das heisst: Es geht nicht darum, |38| einen Konsens zu entwickeln, denn dazu sind die Deutungsmuster und die mit ihnen korrelierenden Konzepte zu verschieden, oder unter Preisgabe des Prinzips der Gleichrangigkeit einem Modell eine höhere Wertigkeit zuzubilligen, sondern «religiöse Bildungsprozesse sollten die Teilnehmer für eine Transzendierung des eigenen Standpunktes und für Impulse in Richtung perspektivischer Verschränkung öffnen können».84 Die jeweils eigene Perspektive, die letztlich in den Deutungsmustern gründet, benötigt immer wieder «differenzierende und transzendierende Bildungsimpulse»85, um nicht durch Fixierungen das eigene Lernen und Leben zu behindern. Diese öffnende Weiterentwicklung geschieht auf der konzeptionellen Ebene durch das Entwickeln des in jeder Perspektive enthaltenen positiven Gestaltsinns. Dadurch sollen die jeweiligen religiösen Deutungsmuster ihre Enge verlieren und zu einer die jeweilige Perspektivik transzendierende Offenheit weiterentwickelt werden.

Der positive Gestaltsinn des antimodernistischen Deutungsmusters liegt in der betonten Kirchlichkeit, der Communio-Struktur des Glaubens. Die Überzeugung, dass der Glaube bezogen ist auf tradierte Überlieferungen und eine grössere Glaubensgemeinschaft, eröffnet die Perspektive auf die Fülle und Weite des Glaubens in seiner ganzen Differenziertheit. «So würde der Gedanke der Einheit im Glauben für das kontrapunktische Motiv eines polyphonen Glaubens geöffnet.»86 Dabei muss man sich nicht vom bestehenden Welt- und Kirchenverständnis verabschieden. Wenn es in einem offenen Dialog mit anderen Sichtweisen dialogisch erweitert wird, kann der Gefahr der Verschlossenheit gegenüber Andersdenkenden begegnet werden.

Der positive Gestaltsinn des modernen Deutungsmusters liegt in der Subjekthaftigkeit des Glaubens. Dies bedeutet weit mehr als eine bloss milieu- oder sozialisationstheoretisch zu erklärende Einstellung oder ein Für-Wahr-Halten definierter Glaubenssätze: Der Mensch bringt seine lebensgeschichtlich geprägte Identität in die Glaubensauslegung hinein bzw. er sieht die Zeugnisse des Glaubens im Lichte seiner eigenen Lebenserfahrungen. Allerdings realisiert sich Christ-Sein nicht in der Vereinzelung des Subjektes, sondern in der herausfordernden Beziehung einer Gemeinschaft der Glaubenden. Hierin liegt der Weg für das moderne Deutungsmuster: von der Subjekthaftigkeit des Glaubens zur «symphonischen Katholizität»87.

Der positive Gestaltsinn des transmodernen Deutungsmusters liegt in der lebenswirksamen Praxisrelevanz des Glaubens. Dieser unterliegt zugleich der Gefahr einer Gesetzlichkeit, nach der Nachfolge nur für Christen mit einem spezifischen |39| Bewusstsein, die sich in sozialen Bewegungen engagieren, reserviert ist. Hier wäre zu zeigen, dass christliche Praxis im Sinne einer Option für die Armen sich nicht im konkreten Handeln erschöpfen darf, sondern darüber hinaus auch kommunikabel bleiben muss mit anderen Formen der Nachfolge. Gegen die Gefährdungen des Dünkels empfiehlt Englert den «Virus der Selbstkritik»88 zu infiltrieren.

Mit dem nur skizzierten Modell einer polyperspektivischen, religiösen Erwachsenenbildung entwickelt Englert eine auch aus evangelischer Sicht überzeugende religionspädagogische Antwort auf die Herausforderungen der Moderne. Die bestehende religiöse Gegenwartssituation wird kategorisiert und idealtypisch verkürzt. Sie bildet – kondensiert als Deutungsmuster – die Basis für eine überaus komplexe, eher kreisende als lineare, z. T. auch redundante Theoriereflexion, die empirisch existierende Divergenzen innerhalb des katholischen Spektrums zu einem integrativen, vor allem didaktisch interessanten Modell verbindet. Das nicht bewertende Wahr- und Ernstnehmen realiter bestehender Positionen zur Verhältnisbestimmung von Christentum und Moderne, die sowohl bei Teilnehmenden an Veranstaltungen als auch bei Verantwortlichen innerhalb der (katholischen wie evangelischen) Kirche anzutreffen sind, belegen dennoch eine hohe Praxisrelevanz des Ansatzes von Englerts. Sein Theoriemodell bietet eine Fülle von Anregungen für die konkrete Makro- und Mikrodidaktik von kirchlichen Bildungsträgern.89 Die Differenziertheit und Tiefe der Reflexion lassen das Werk Englerts zu einem vorläufigen Höhepunkt der Theoriediskussion werden, angesichts dessen bestehende Vorwürfe eines generellen Theoriedefizits der kirchlichen Erwachsenenbildung zumindest relativiert werden sollten. Es ist zu wünschen, dass die Impulse Englerts auch von Bildungspraktikern wahr- und aufgenommen werden.

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