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3 Kinderliteratur als spezifischer Input für den Erwerb pragmatischer Phänomene

Im Unterschied zu den oben genannten Studien interessiert sich Meibauer (2011, 2017) viel stärker für die Frage, wie kinderliterarische Texte an sich sprachlich zu charakterisieren sind und welche Rolle sie für den Spracherwerb spielen. Er stellt die These auf, dass Kinderliteratur einen spezifischen Input für den Spracherwerb darstellt. Insbesondere sei Kinderliteratur „eine Literatur (…), die systematisch auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt“ (Meibauer 2011: 11).

In der Spracherwerbsforschung geht man normalerweise davon aus, dass es beim Menschen einerseits eine genetisch und biologisch kodierte Fähigkeit zum Spracherwerb gibt, dass aber anderseits ein Input erforderlich ist, damit eine Sprache gelernt werden kann. Wenn von einem spezifischen Input die Rede ist, ist damit ein Input gemeint, der nicht notwendig vorkommt und deshalb besondere Lernchancen bietet. Ein solcher spezifischer Input ist die Kinderliteratur.

Auch wenn das Kind schon selbst lesen kann, hat Kinderliteratur einen Einfluss auf die Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten. Funktional für diesen Zusammenhang ist, dass Kinderliteratur grundsätzlich an den kindlichen Entwicklungsstand angepasst ist. Dies gilt für Frühe-Konzepte-Bücher genauso wie für Jugendliteratur mit ihren oft komplexen narrativen Verfahren, die denen der Erwachsenenliteratur in nichts nachstehen.

In der Spracherwerbsforschung ist eine gängige Annahme, dass Einfaches vor Komplexem erworben wird. Genauso kann man annehmen, dass einfache Kinderbücher vor komplexen Büchern rezipiert werden. Oder umgekehrt, dass einfache Bücher an kleine Kinder adressiert sind und komplexe Bücher an größere Kinder. Dass Einfachheit eine wichtige Kategorie von Kinderliteratur ist, hat Lypp (2002) früh gesehen. Aus linguistischer Sicht fehlt aber eine genaue Operationalisierung dieser Einsicht (vgl. Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2017, Meibauer 2014).

In der Spracherwerbsforschung gilt als ein wichtiges Komplexitätsmaß die MLU (‚mean length of utterance‘). Hier wird in Bezug auf 100 vom Kind gemachten Äußerungen die durchschnittliche Anzahl der Morpheme pro Äußerung gezählt (Kauschke 2012: 85). In der Zweiwortphase ergibt sich ein durchschnittlicher Wert von zwei Wörtern pro Satz. Die Erwartung ist, dass im Verlaufe des Spracherwerbs die vom Kind gemachten Äußerungen/Sätze länger werden.

Auch in allen anderen Hinsichten ergibt sich eine Komplexitätszunahme hinsichtlich der sprachlichen Äußerungen der Kinder: Die Komplexität von Wörtern nimmt zu; die Komplexität von Sätzen nimmt zu (einfacher Satz vs. komplexer Satz); die Länge von Gesprächsbeiträgen/Texten steigt; es werden mehr komplexe Konstruktionen verwendet, zum Beispiel Passiv, Negation, Modalverbkonstruktionen, usw. (siehe dazu die chronologische Übersicht über Meilensteine des Spracherwerbs bei Kauschke 2012: 173ff.). Im Prinzip müsste man zu jedem kinderliterarischen Text feststellen können, wie er zu den sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes passt. Verstehensschwierigkeiten entstehen bei einer mangelnden Passung. Wird diese überwunden, hat das Kind etwas gelernt.

Pragmatisches Lernen findet natürlich auch gänzlich ohne Kinderliteraturinput statt. Oder umgekehrt: Unter den pragmatischen Angeboten des Inputs werden einige sein, die auch im lektüreunabhängigen Input vorkommen. Einige werden aber auch spezifisch in dem Sinne sein, (i) dass sie entweder ausschließlich durch die Fiktionalität konstituiert werden oder aber (ii) in besonders verdichteter, exemplarischer und deshalb besonders salienter Form vorkommen. In Bezug auf (i) kann man zunächst an den Reim denken, der in gesprochener Sprache nicht vorkommt. Man kann hier auch an gewisse Konstruktionen wie die inquit-Formel „Es war einmal …“ denken, die typisch für Märchen ist. Auch gewisse Formen der indirekten Redewiedergabe, zum Beispiel die erlebte Rede, dürften spezifisch für die Narration sein. In Bezug auf (ii) kann man viele pragmatische Phänomene nennen, die auch im normalen alltäglichen Input vorkommen, aber innerhalb der Kinderliteratur in solchen Kontexten, die ein besonderes Lernangebot bereithalten. Dies betrifft praktisch alle Bereiche der Pragmatik, die hier kurz angerissen werden sollen.

Der Erwerb von Sprechakttypen dürfte am besten empirisch erforscht sein.1 Vermutlich sind im kinderliterarischen Input spezielle Sprechakttypen vorhanden, wie zum Beispiel die Beschwerde oder die Prophezeiung, die im Alltagsinput nicht so häufig sind. Im Kontext der Literatur sind solche Sprechakte mit Konsequenzen verbunden, die über Glückensbedingungen für die entsprechenden Sprechakte Aufschluss geben können (vgl. Gressnich 2018). Kleinere Kinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten beim Verstehen der Aufrichtigkeits- und der Vorbereitungsbedingung für Versprechen (Bernicot/Laval 2004). Es könnte sein, dass sie aus dem Kontext einer Narration Aufschluss darüber gewinnen, wie diese Bedingungen normalerweise funktionieren. Genauso können sie Aufschlüsse über die sprachlichen Aktivitäten des Lügens und Täuschens aus der Lektüre entsprechender Erzählungen gewinnen (Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2011). Im Buch Ich Tarzan – du Nickless! (Murail/Gay 2011), welches vom Verlag für Kinder ab einem Alter von 7 Jahren empfohlen wird, gibt es z. B. folgende Szene.

Ich fragte: „Wofür ist das gut, ,in einer Sprache zu baden’?“ Papa regte sich auf. „Jean-Charles, ich bitte dich! Am Ende der Ferien wirst du Deutsch können. Das ist sehr wichtig für später. Erfolg im Leben hat man nur, wenn man eine Fremdsprache beherrscht.“

„Kannst du denn Deutsch?“ Mein Vater musste husten, bevor er antwortete. „Ein bisschen“, sagte er. Was eine glatte Lüge war.

Während für einen älteren Leser das Husten des Vaters ein Hinweis sein kann, dass die folgende Äußerung des Vaters mit Vorsicht zu genießen ist, mag das für die anvisierte Leserschaft unter Umständen noch kein ausreichender Hinweis darauf sein, dass die Antwort des Vaters nicht der Wahrheit entspricht. Hier hilft jedoch der Erzähler nach, indem er dem Leser eine direkte Interpretation der Äußerung des Vaters bietet. Insgesamt bietet dieses Buch sehr viele Möglichkeiten, etwas über die Aktivitäten des Täuschens zu lernen. Der Protagonist Jean-Charles gibt seinen Eltern gegenüber vor, von einem Jungen (Nickless) auf dem Urlaubscampingplatz Holländisch zu lernen. Tatsächlich macht er sich einen Spaß und bringt dem Jungen, welcher wiederum denkt, er würde von Jean-Charles Französisch lernen, eine „Quatschsprache“ bei. Damit er dabei selbst nicht durcheinanderkommt, schreibt er sich die Wörter, die er sich hat einfallen lassen, in sein eigenes Vokabelheft. Seinen Eltern gegenüber verkauft er die aufgeschriebenen Wörter wiederum als Vokabeln des Holländischen.

In kinderliterarischen Texten spielen auch verschiedene Arten von konversationellen Implikaturen eine Rolle. Sei es, weil die Figuren in ihren Gesprächen Äußerungen tätigen, die Implikaturen auslösen, sei es, weil der Erzähler durch die von ihm gewählte Darstellung der Ereignisse bestimmte Implikaturen nahelegt. Insbesondere Bilderbücher bieten die Möglichkeit, im Text nicht explizit Verbalisiertes, aber doch Nahegelegtes (u.a. auch Implikaturen) auf der Bildebene explizit aufzugreifen. Damit „zeigen“ sie dem kindlichen Betrachter/Zuhörer/Leser die entsprechende Interpretationsmöglichkeit des verbal Ausgedrückten. Insgesamt ist davon auszugehen, dass kinderliterarische Texte den kindlichen Leser beim Verstehen von Implikaturen dadurch unterstützen, dass diese in den jeweiligen Kontext der beim (Vor-)Lesen durch das Kind aufgebauten mentalen Textwelt eingebettet auftreten.

Um Implikaturen und andere nicht explizit „gesagte“ Bedeutungsaspekte von Äußerungen verstehen zu können, bedarf es einer Theory of Mind, also der grundsätzlichen Fähigkeit, auf die mentalen Zustände Anderer schließen zu können. Dafür muss dem Kind zunächst einmal bewusst werden, dass Andere einen vom eigenen abweichenden Wissensstand in Bezug auf einen Sachverhalt haben können und dass ihr konkretes Handeln auf ihren jeweiligen Wissensstand zurückzuführen ist. Dieser Wissensstand kann natürlich auch von den realen Gegebenheiten abweichen, d.h., Menschen können falsche Überzeugungen haben, auf deren Basis sie handeln. Umgekehrt lassen sich auch Handlungen von Menschen, die in einem bestimmten Kontext vielleicht zunächst unangemessen erscheinen, dadurch erklären, dass man der handelnden Person einen bestimmten Wissensstand „unterstellt“.

Beim Verstehen von Implikaturen schließt man vom sprachlichen Handeln einer Person auf deren zugrundeliegende Intentionen, die das entsprechende sprachliche Handeln erklären könnten, man nimmt also eine andere Perspektive ein. Kinderliterarische Texte bieten eine Fülle an Möglichkeiten, die Fähigkeit der Perspektivenübernahme auszubilden bzw. zu erweitern. So mag sich der kindliche Leser/Zuhörer beim ersten Betrachten des Bilderbuchs Das Buch über uns (Willems 2015) z. B. fragen, warum einer der beiden Protagonisten (ein Schwein) auf der ersten Seite dieses Buches, dem Leser zugewandt, „Vielen Dank!“ sagt. Ist man dann auf der letzten Doppelseite des Buches angelangt, auf der die beiden Protagonisten den Leser bitten „Würdest du uns bitte noch mal lesen?“ und ihre Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass „das klappt“, und kommt dem Wunsch der beiden nach, versteht man das „Vielen Dank!“ auf der ersten Buchseite plötzlich ganz anders, nämlich vor dem Hintergrund des durch das Schwein zum Ausdruck gebrachten Wunsches. Nun kann man auch die beim ersten Lesen auftretende Frage, warum das Schwein gleich auf der ersten Seite des Buches „Vielen Dank!“ sagt, beantworten. Es tut dies, weil es davon ausgeht, dass der (kindliche) Leser seinem Wunsch nachgekommen ist, das entsprechende Buch erneut zu lesen.

Schon Cassidy et al. (1998) haben argumentiert, dass kinderliterarische Texte Kindern möglicherweise Erfahrungen bieten, welche die Entwicklung der Theory of Mind fördern, da sie einen Kontext bieten, in dem mentale Zustände diskutiert werden (ebd.: 464). Sie zeigen mit ihrer Studie, dass Theory-of-Mind-Konzepte in kinderliterarischen Texten recht weit verbreitet sind. Dabei konzentrierten sie sich auf Texte, die 3- bis 6-Jährigen vorgelesen wurden. Insbesondere die Fähigkeit, Anderen eine falsche Überzeugung zuzuschreiben, entwickelt sich erst im Laufe des vierten Lebensjahres. Aber auch die Bücher für die unter 4-Jährigen enthielten schon nennenswerte Mengen an Instanzen falscher Überzeugungen, so dass man sagen kann, dass sie die Entwicklung der Fähigkeit, falsche Überzeugungen bei anderen als solche wahrzunehmen, unterstützen können.

Auch verschiedene Formen figurativer Sprache treten in Kinderbüchern auf. Colston/Kuiper (2002) haben z. B. eine Reihe von Kinderbüchern hinsichtlich des Vorkommens konzeptueller und nominaler Metaphern sowie von Vergleichen untersucht. Dabei stellten sie fest, dass in ihrem Korpus durchschnittlich pro 1000 Wörter Text knapp 54 solcher Metaphern/Vergleiche auftraten. Die Autoren vergleichen diese Zahl mit der durchschnittlichen Anzahl an Metaphern in einem Korpus aus schriftlichen und mündlichen Texten Erwachsener (Graesser/Mio/Millis 1989), die 40 Metaphern pro 1000 Wörter Text beträgt. Auch wenn dieser Vergleich mit Vorsicht zu genießen ist, da die zugrundliegenden Korpora (einmal kinderliterarische Texte, einmal schriftlich vorbereitete Reden und mündlicher Diskurs) sich stark voneinander unterscheiden, ziehen Colston/Kuiper daraus den Schluss, dass die Häufigkeit des Vorkommens von Metaphern in kinderliterarischen Texten zumindest nicht unterschätzt werden sollte. Das zeigt sich auch im Beitrag von Ash (2012), in dem sie eine ganze Reihe von Kinderbüchern auflistet, in denen Metaphern und Vergleiche eine prominente Rolle spielen, nicht zuletzt, weil sie dort in verdichteter, exemplarischer und deshalb besonders salienter Form vorkommen. In dem Buch Die Werkstatt der Schmetterlinge (Belli/Erlbruch 2001) kommen zum Beispiel sehr viele Vergleiche und auch einige Metaphern vor. Dabei wird das Verstehen der Metaphern dadurch erleichtert bzw. angebahnt, dass den Metaphern entsprechende Vergleiche vorangehen. Im Buch wird erzählt, wie der Protagonist Rodolfo die Schmetterlinge erfand. Zu Beginn denkt er darüber nach, ein Wesen zu schaffen, das „wie ein Vogel und gleichzeitig wie eine Blume sein sollte.“ (ebd.: 6–7). Da es sich hier um einen Vergleich handelt, ist dieser für die anvisierte Leser-/Zuhörerschaft – das Buch wird vom Verlag für 5- bis 7-Jährige empfohlen – vermutlich gut nachvollziehbar. Später, nachdem es Rodolfo gelungen ist, ein solches Tier zu „erfinden“, zeigt er es seinen Freunden, die die Erfindung mit „,Eine fliegende Blume!‘ rief Paganini. ,Ein winzig kleiner Vogel …’ staunte Kalle“ kommentieren (ebd.: 26). Auch Purcell (2016) argumentiert dafür, dass Bilderbücher durch den Einsatz von Metaphern auf visueller Ebene zur Entwicklung der Fähigkeit, Metaphern zu verstehen, beitragen können.

Die Fähigkeit, die nicht-kompositionale, aber häufig dominantere Bedeutung von Phrasemen zu verstehen, entwickelt sich ab dem 6./7. Lebensjahr und dauert teils noch bis ins 13. Lebensjahr an (vgl. Cacciari/Levorato 1989). Wie Richter-Vapaatalo (2007) und Finkbeiner (2011) mit ihren Analysen gezeigt haben, können kinderliterarische Texte beachtliche Mengen an Phrasemen aufweisen und somit prinzipiell die Entwicklung der Fähigkeit, deren nicht-kompositionale Bedeutung zu verstehen, unterstützen, wie auch den Erwerb dieser sprachlichen Einheiten als solchen.

Auch die Untersuchungen zur Fähigkeit, Ironie zu verstehen, weisen auf einen längeren Erwerbszeitraum hin (im Alter von 4 bis 10 Jahren laut Hoicka 2014, 6 bis 12 Jahren bei Hodske et al. 2007 und Filippova 2014). Obwohl in der Literaturwissenschaft (z. B. Walsh 2003, 2016) und der Pädagogik (z. B. Aßmann 2008, Aßmann/Krüger 2011, Krüger 2011) die Angemessenheit von Ironie als sprachlichem Mittel in Literatur für Kinder bzw. in den verbalen Interaktionen pädagogischer Fachkräfte mit Kindern auch weiterhin diskutiert wird, ist nicht von der Hand zu weisen, dass viele kinderliterarische Texte Ironie enthalten.2 Das gilt auch für Bilderbücher (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999), bei denen sich häufig – ähnlich wie bei Metaphern – die Ironie aus der spezifischen Diskrepanz zwischen den Narrationen auf verbaler und bildlicher Ebene ergibt. Aber auch in Büchern für jüngere Selbstleser findet sich schon Ironie rein auf der verbalen Ebene. In Spackos in Space (Till 2013), welches vom Verlag für Leser ab 10 Jahren empfohlen wird, bedankt sich z. B. der autodiegetische Erzähler für die umständliche und umfangreiche Wegbeschreibung eines Roboters mit den Worten „,Vielen Dank für die unkomplizierte Wegbeschreibung!‘“ (ebd. 29). In Frerk, du Zwerg! (Heinrich/Flygenring 2011, vom Verlag ab 8 Jahren empfohlen) kommentiert der Erzähler die Bemerkung, die Frerks Mutter macht, als sie ihm sein Frühstück hinstellt („‚Damit du groß und stark wirst.‘“) gedanklich mit „Na, hat ja prima geklappt bisher. Er ist der Drittschwächste und der Zweitkleinste in seiner Klasse.“ (ebd.: 17).

Zwar ist das Erzählen von Witzen grundsätzlich eine orale Textsorte (vgl. Hauser 2005), aber Witze sind oft vorgefertigt und spielen in der Kinderliteratur eine nicht zu unterschätzende Rolle. Man kann annehmen, dass Kinder Witzformate und Witze unter anderem auch durch Kinderliteratur lernen. Ähnliches gilt auch für andere Formen von Humor. Je jünger die anvisierten Leser, desto höher ist der Anteil an „lustigen“ Büchern in der Kinderliteratur. Schon (Bilder)bücher für die jüngsten (Selbst-)Leser stellen eine mögliche Erwerbsquelle für Humor dar. Auch hier ergibt sich dieser häufig nicht ausschließlich auf der Textebene, sondern im Zusammenspiel mit der Bildebene. In Büchern für ältere Leser spielt dann vor allem konversationeller Humor eine größere Rolle. Hier erhalten Leser Modelle für gelingende (oder eben auch misslingende) humorvolle Kommunikation. So witzelt der autodiegetische Erzähler in Ohrensausen (Till 2004) mit seiner Klassenkameradin wie folgt herum, als diese das erste Mal zu ihm kommt, um mit ihm Mathe zu üben.

„Okay, womit sollen wir anfangen? Wo speziell hängt’s denn jetzt bei dir mit den Funktionsgleichungen?“

„Hm, gute Frage. Bei den Funktionen, auf jeden Fall. Und dann wären da noch diese Gleichungen.“

„Och, wenn’s nur das ist, das kriegen wir schon hin. Dann fangen wir also am besten ganz von vorne an. Zwei mal zwei ist?“

„Hey, das ist nicht fair! Du wolltest doch ganz von vorne anfangen! Was ist eine Zwei?“

„Wenn du alle Pamela-Anderson-Brüste in Vinnies Bude zusammenzählst und die dann durch zwei teilst, weißt du, wie viele Poster er von ihr hat.“

„Ach so, diese Zwei, okay, alles klar. Und was ist mit der anderen Zwei?“

„Ich seh schon, das wird länger dauern.“

„Soll ich dir ein Snickers holen?“

„Ein Snickers?“

„Na, du weißt doch: wenn’s denn mal wieder länger dauert.“ (ebd.: 24)

Für verbalen Humor wurde in der Entwicklungspsychologie gezeigt, dass die Fähigkeit, diesen zu verstehen, erst ca. ab dem 7. Lebensjahr vorhanden ist, wenn Kinder anfangen, Mehrdeutigkeit in der Sprache wahrzunehmen (vgl. McGhee 1979, 1989). Wie sich diese Fähigkeit im Einzelnen auch nach dem 7. Lebensjahr noch weiterentwickelt und ob es hier auch Unterschiede bzgl. unterschiedlicher Arten von Humor gibt, ist bisher kaum erforscht. Das gilt umso mehr für literarischen Humor (siehe aber Shannon 1999). Da das Humorverständnis eng mit der Fähigkeit zusammenhängt, andere Formen der „Unaufrichtigkeit“ (zum Beispiel beim Lügen) zu verstehen, kann man von ersterem nur sagen, dass es vollständig erworben ist, wenn ein Sprecher-Hörer in der Lage ist, zwischen den verschiedenen Formen der Unaufrichtigkeit angemessen zu unterscheiden. Kinderliterarische Texte bieten auch für die Schulung der Wahrnehmung derartiger Unterschiede vielfältige Situationen.

Auch die (Un-)Höflichkeit ist ein pragmatisches System, das in den letzten Jahren intensiv erforscht wurde. Im Deutschen gibt es Besonderheiten durch das System des Duzens und Siezens. Es ist bekannt, dass die entsprechenden Regeln von Kindern erst nach und nach erlernt werden. Kinderliteratur kann Hinweise darüber geben, in welchen Situationen Sprecher(innen) mit bestimmten sozialen Rollen höflich oder auch unhöflich agieren (vgl. z. B. Pleyer 2019). So spricht der Löwe in Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte (Baltscheit 2002) die anderen Tiere im Dschungel mit „Du“ an und fordert sie nach einander auf, einen Brief an die unbekannte Löwin zu schreiben. Die Tiere kommen dieser Aufforderung nach und sprechen die fremde Löwin in ihren Briefen mehrheitlich mit „Sie“ an. Im Buch Die Heuboden-Bande. Ein Huhn in geheimer Mission (Heger/Rupp 2020) wird einer der Protagonisten – Herr Schulz, der Hund – als „Profischnüffler mit feinen Manieren und superguten Ohren“ eingeführt (rechte Seite des Vorsatzpapiers). Neben einem sehr ausgewählten Ausdruck, den er zeigt, spricht er die anderen Protagonisten auch mit „Sie“ an, während diese „Du“ zu ihm sagen.

Nicht alle Jugendlichen sprechen sog. Jugendsprache. Diese wird aber gerne benutzt, um Jugendliche zu charakterisieren. Auch wenn dies nicht authentisch gelingt, können solche Jugendliche, die über keine entsprechenden Register verfügen, jugendsprachliche Redeweisen zur Kenntnis nehmen oder sich sogar aneignen.

Schließlich bietet Kinderliteratur auch einen Zugang zu bestimmten Dialogtypen, zum Beispiel der Vorwurf/Rechtfertigungs-Interaktion oder einem Gespräch zwischen Liebenden. Man kann vermuten, dass entsprechende Dialoge so modelliert werden, dass sie typische Eigenschaften solcher Dialogtypen enthalten.

Zu nennen sind auch die verschiedenen Verfahren der Redewiedergabe, zum Beispiel die der direkten, der indirekten und der gemischten Redewiedergabe. Die Kinderliteratur enthält hier ein reichhaltiges Input-Angebot (siehe Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2015).

Mit dieser Skizze sind natürlich nicht alle pragmatischen Phänomene erfasst. Man muss hier insbesondere auch an die lexikalische Pragmatik denken, zum Beispiel an die Pragmatik von Modalpartikeln, Interjektionen, Ausdrücke der Emotion und der Einstellung und vieles mehr. Aber auch für den Erwerb kohäsiver Mittel und die Entwicklung des Verständnisses von Diskurstrukturen im Allgemeinen kann angenommen werden, dass Kinderliteratur eine Rolle spielt. Einschlägig sind hier auch Verfahren der Einführung von Diskursreferenten (Gressnich 2011).

Was den Zusammenhang von sprachlichen Eigenschaften der Kinderliteratur im Allgemeinen und dem Erwerb sprachlicher Phänomene und Kompetenzen angeht, liegen bisher nur wenige empirische Untersuchungen vor. Das gilt umso mehr für die oben genannten pragmatischen Phänomene und Kompetenzen.

In den oben schon erwähnten Studien von Stark (2016) und Lehmden et al. (2013) ließ sich ein Zusammenhang zwischen den sprachlichen Eigenschaften der beim Vorlesen eingesetzten Kinderliteratur auf den Erwerb bestimmter sprachlicher Phänomene (in diesem Fall Präteritum bzw. Passivkonstruktionen) feststellen. Müller/Stark (2015) haben die sprachliche Beschaffenheit ausgewählter kinderliterarischer Bücher genauer unter die Lupe genommen, um für den Zweitspracherwerbskontext passende Literatur für verschiedene Sprachlernbereiche zu identifizieren. Dabei berücksichtigen sie die Bereiche Wortschatz, Phonologie, Morphologie, Syntax, Erzählen und Schriftsprache und Frühes Schreiben. Gawlitzek (2013) analysiert eine Reihe von deutschen und englischen Kinderbüchern (der Altersgruppen ab 2 bis ab 6 Jahren) hinsichtlich ihrer Komplexität (gemessen in Wörter pro Satz), der vorkommenden Satzfunktionen sowie der verwendeten syntaktischen Strukturen. Ziel ist es, herauszufinden, ob Kinderliteratur zum Erwerb der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit (CALP) beitragen kann.

Eine weitere Ausnahme bildet die schon erwähnte Untersuchung von Finkbeiner (2011), die mit ihrer Analyse zweier Bücher von Otfried Preußler zur Beantwortung der oben gestellten Frage, welche Eigenschaften es sind, die kinderliterarische Texte als spezifischen Input für den weiterführenden Spracherwerb kennzeichnen bezüglich des Phrasems beigetragen hat. Sie analysierte Die kleine Hexe (ein Kinderbuch) und Krabat (ein Buch für Jugendliche) hinsichtlich des Vorkommens von Phrasemen sowie potenzieller Verständnishilfen für diese. Insbesondere überprüfte Finkbeiner unter anderem folgende Thesen: Erstens sind die Phrasemarten, die sich in Büchern für (junge) Kinder finden, semantisch und pragmatisch „leichter“ zu verstehen als solche in Jugendbüchern. Zweitens werden mehr Phraseme in Kinderbüchern als in Jugendbüchern von einer Art „Prozedur der Verständlichmachung“ begleitet (vgl. Finkbeiner 2011: 70). Ihre Ergebnisse bestätigen diese beiden Hypothesen.

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9783823303183
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