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Das Problem der ungarischen Literatur zwischen 1947 und 1989 und auch seither, falls man nämlich diese Periode aufarbeitet, ist ihr Umgang mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Musste es so sein, wie es war? Viel zu viele waren im Trüben fischende Trittbettfahrer des Staatssozialismus, sie dünkten sich kritisch, waren aber mit ihm verwachsen. War das nun Determination? Wenn man die kleinen Dinge, die einzelnen Determinationsreihen betrachtet: unbedingt. Wenn man sich aber nicht den Geschichten, sondern der Geschichte stellt, dann: nein. Die Grundprinzipien des Systems waren jedem bekannt, dafür hat dieses ohne Mühen und Mittel zu scheuen gesorgt. Je stärker man im System als Schriftsteller im Kulturbetrieb integriert war, desto genauer wusste man, was vor sich geht. Die entscheidende Frage ist aber natürlich, wie man damit als Literat umgehen soll. Ausweichen kann man ihr nicht, ist sie doch die zentrale Frage. Beantworten kann man sie auch nicht, weil man dann auch vor 1989 die Antwort hätte geben können.

Péter Nádas kommt das große Verdienst zu, diese Problematik, die eine der zentralen unserer Region und unserer Gegenwart ist, angenommen und daraus einen großen Roman gemacht zu haben.

Ein gescheitertes Schiff?

Geschichtliche Kontexte der bürgerlichen Kultur in den Parallelgeschichten

Gábor Schein

Péter Nádas nannte sich in einem Interview, das er nach dem Erscheinen seines Memoirenromans Aufleuchtende Details gegeben hatte, die „bürgerliche Version der ungarischen Literatur“.1 Bürger und Bürgertum sind vieldiskutierte Begriffe des ungarischen historischen Bewusstseins und des erinnerungspolitischen Diskurses. Das Wort „polgár“ stammt im Ungarischen vom deutschen „Bürger“ und seine Bedeutung blieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch sehr nah an der Bedeutung des deutschen Wortes. Der „Bürger“ ist keine Klassenkategorie.2 Bürgerliche Berufsgruppen, wie Unternehmer, Intellektuelle und Beamte, lassen sich zwar klar unterscheiden, doch eine quantitative Beschreibung des gesellschaftlichen Phänomens „Bürger“ wäre dennoch nicht ausreichend. Die Definierbarkeit des „Bürgers“ bezieht sich in den deutschen und in den ost-mittel­europäischen Gesellschaften vor dem Zweiten Weltkrieg nicht auf die gesellschaftliche Aktivität der Einzelfiguren, die in den verschiedenen Bereichen der politischen und kulturellen Öffentlichkeit ihre Wirkung ausübt. Sie bezieht sich vielmehr – und vor allem – auf Wohlstand, auf Privateigentum, auf eine bestimmte materielle Qualität des städtischen Lebens, die dem äußeren Rahmen der Individuation und des familiären Gefüges ziemlich große Standhaftigkeit verleiht, und sie bezieht sich nicht zuletzt auch auf eine Mentalität, in der auch die Loyalität gegenüber dem Staat und der Nation ganz wichtige Merkmale sind. Quantitative Charakteristika gehen also in qualitativen Bestimmtheiten der Mentalität auf.

Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts trat in der ungarischen Geschichts­wissenschaft die Erforschung der Vergangenheit von einzelnen Städten und ihres Bürgertums mehr und mehr in den Vordergrund. Die marxistische Theorie widmete der Geschichte der Städte früher nur wenig Aufmerksamkeit. Deshalb konnte sich eine soziologisch, später auch eine anthropologisch gefärbte Geschichtsschreibung zu diesen Themen relativ frei entwickeln.3 Es sind in den letzten 40 Jahren viele Städtebibliografien und mikrogeschichtliche Erzählungen entstanden. Es fehlen aber sowohl grundsätzliche analytische Forschungen, die die Ergebnisse dieser Fallstudien kontextualisieren, als auch Beschreibungen bürgerlicher Institutionen und deren konkreter Handlungsfelder in den größeren und kleineren Städten. Wir wissen auch sehr wenig über bestimmte bürgerliche Großgruppen bzw. über deren unterschiedliche Strategien zur Bewältigung von Krisen und über die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Lebens-Milieus.

Im Vergleich zu den deutschen und den tschechischen Regionen Mitteleuropas war das ungarische Bürgertum zahlenmäßig viel kleiner. Es lebte im Land eher innerhalb von inselhaft verstreuten, sehr engen städtischen Räumen und die Repräsentanz von deutschen und jüdischen Familien, die sich zwischen 1867 und 1930 weitgehend magyarisiert hatten, war in ihnen sehr groß. Nach 1948 vollzog sich im Sinne der Ziele der Kommunistischen Partei eine weitgehende Angleichung der Wohnsituationen und eine Egalisierung und Verwischung von Schichtenstrukturen. Bürgerliche Ideale, die Sehnsucht nach Komfort, privater Häuslichkeit und Konsummöglichkeiten waren plötzlich Erscheinungsformen einer reaktionären Haltung. Haben wir aber eine längere Zeitphase vor Augen und verlängerte man die Problematik der bürgerlichen Ideale bis ins Heute, könnten wir nicht nur mit ihrer geschichtlichen Auflösung, sondern auch mit einer Standhaftigkeit und Kontinuität in der Dimension der familiären Modelle rechnen.

Die großen Romane von Péter Nádas, sowohl das Buch der Erinnerungen und die Parallelgeschichten als auch Aufleuchtende Details, spielen in Großstädten – in Budapest und Berlin. Ihre Handlung und die Figuren sind nur im großstädtischen Milieu denkbar. Wenn Autoren Aspekte von real existierenden Städten in ihre Romane implementieren, wenn sie die Karte mit Straßennamen und mit in der Wirklichkeit auffindbaren Gebäuden beleben, gehen sie davon aus, dass die gebauten Elemente der Stadt „ein ganzes Repertoire von Bedeutungen für den Leser innerhalb einer bestimmten Kultur“ signalisieren.4 Eine Großstadt ist für ihre Bewohner und auch für ihre Besucher immer nur als eine gegenseitige, in räumlichen Formen erfahrbare Wirkungsgeschichte von lokal- und welthistorischen Bedeutungen, als Interaktion von Texten und Gebäuden, von alltäglicher Raumbenutzung und Politik wahrnehmbar, die sich nie als ein Ganzes äußert.

Die Komplexität der räumlichen Konfigurationen in den Parallelgeschichten ist also von den historischen Vergesellschaftungsformen des städtischen Raumes, die durch die Projektion sozialgeschichtlicher Prozesse entstehen, nicht unabhängig. Beim Konzept der Raumgebilde geht es Simmel, dessen Ansätze nicht nur für die Raumsoziologie, sondern auch bei der Untersuchung literarischer Raumformen unentbehrlich sind, nicht um die „Wirksamkeit einer besonderen Raumkonfiguration“, sondern umgekehrt, um die „Einwirkung, die die räumlichen Bestimmtheiten einer Gruppe durch ihre eigentlich soziologischen Gestaltungen und Energien erfahren“.5 In das Konzept des gesellschaftlichen Raumes müssen die gesellschaftlichen „Kräfte“ einbezogen werden, die das materiell-physische Substrat dieses Raumes und damit auch die Raumstrukturen „formen“ und „gestalten“.6 Dieses gesellschaftlich „produzierte“ Substrat besteht aus menschlichen, vielfach ortsgebundenen Artefakten, den materiellen Nutzungsstrukturen der gesellschaftlich angeeigneten und kulturell überformten Natur sowie den Menschen in ihrer körperlich-räumlichen Leiblichkeit.7 Die gesellschaftliche Praxis und die materielle Struktur der Raumbenutzung können aber nur unter dem Aspekt der klassenmäßigen, gender- und altersbezogenen Differenzierung und mit der Analyse der jeweiligen Machtverhältnisse betrachtet werden, die vielfach durch lokale Traditionen, geschichtliche Erfahrungen und Identitäten geprägt werden. Zwischen dem materiellen Substrat des gesellschaftlichen Raumes und der gesellschaftlichen Praxis seiner Produktion, Aneignung und Nutzung fungiert nach Dieter Läpple ein Regulationssystem, das „aus Eigentumsformen, Macht- und Kontrollbeziehungen, rechtlichen Regelungen, Planungsrichtlinien und Planungsfestlegungen, sozialen und ästhetischen Normen besteht“. Im Wesentlichen ist dieses System für die Kodifizierung und Regelung des Umgangs mit den raumstrukturierenden Artefakten (z. B. Arbeitsstätten, Behausungen, Verkehrswege, Kommunikationssysteme etc.) verantwortlich.8 Es muss aber auch berücksichtigt werden, dass die einzelnen Figuren immer schon zuvor strukturierte, oft auch mit einem symbolischen Wert ausgestattete Räume betreten.

Die Budapester Szenen der Parallelgeschichten umfassen den Zeitraum zwischen 1938 und 1961. Die Hauptfiguren dieser Szenen leben in ganz bestimmten Teilen der Pester Innenstadt. Aufgrund der raumbezogenen Passagen könnte man leicht die Karte des Romans entwerfen, wie man es im Fall der Dubliner Texte von Joyce gemacht hat. Die Szenen spielen auf der Margareteninsel, in Neu-Leopoldstadt, in der benachbarten Theresienstadt und in der etwas ferner liegenden Aréna-Straße, wo ganz viele Villen stehen.

Die beiden benachbarten Bezirke innerhalb der Ringstraße wurden erst in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufgebaut. Charakteristische Bauformen sind die das Baugrundstück von drei Seiten umgebenden vierstöckigen Mietshäuser mit Laubengang, in denen zur Mittelklasse und zu den reicheren Schichten der Gesellschaft gehörende Familien lebten. Die Neu-Leopoldstadt ist dabei ein typischer Wohnort des jüdischen Bürgertums. Diese Mietshäuser haben in ihrem Äußeren vieles von der Repräsentativität der prunkvollen Fassaden der früheren, in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts erbauten städtischen Mietspaläste beibehalten. Sie verliehen den inneren Bezirken der Stadt einen einheitlichen historistischen und eklektischen Stil. Die Qualität des Baumaterials wurde während der 20er- und 30er-Jahre schlechter9, aber die Lebensbedingungen auch in den mittelbürgerlichen Wohnungen verbesserten sich durch den Einbau von Badezimmer und Wasser-Toilette.10

In beiden Bezirken lebten überwiegend Händler, Unternehmer und Intellektuelle, unter ihnen viele assimilierte, mehr oder weniger wohlhabende jüdische Familien. Die Beschäftigung einer Bediensteten gehörte zu den gesellschaftlichen Erwartungen an einen bürgerlichen Haushalt. Solche Dienstmädchen lebten in ganz kleinen Zimmern, hinter der Küche. Sie blieben räumlich abgesondert. Sie durften im Haus nur die Hintertreppe und einen kleineren Eingang benutzen, der zur Küche führte. Ihre billige Arbeit sicherte den bürgerlichen Familien ein langfristiges und steuerfreies Einkommen.

So sah etwa die Wohnung der Familie Lehr an der Grenze der Neu-Leopoldstadt und der Theresienstadt folgendermaßen aus: „Aus vier Zimmern der in der zweiten Stock gelegenen Wohnung sah man auf den bleifarben aufleuchtenden und sich wieder verdunkelnden Oktogonplatz hinaus, zwei weitere Zimmer sowie das nur aus der Küche zugängliche Dienstbotenzimmer gingen auf den zu jeder Jahreszeit dämmerigen Innenhof.“11

Obwohl diese Wohnungen viel zugunsten der äußeren Repräsentativität opferten, widmen die territorialisierten Beschreibungen von Péter Nádas den sogenannten „hinteren Regionen“12 besondere Aufmerksamkeit. Dieses Interesse entspricht seiner tiefen Überzeugung, dass das eigentliche Drama eines menschlichen Lebens viel mehr an dem verborgenen Umgang mit den Genitalien und an den Gewohnheiten beim Geschlechtsverkehr ablesbar ist, als an der zur Schau gestellten Soziabilität.13

Der Wohlstand der Pester Bürgerfamilien gab in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre immer mehr nach. Das Vermieten eines Zimmers an einen Untermieter wurde gängige Praxis. Das Zusammenleben der Generationen wurde in den 4-, 5- und 6-Zimmer-Wohnungen immer komplizierter. Die Regelung der Raumbenutzung, die Fremdheitserfahrungen mit der physischen Existenz, die Sicherung der eigenen Grenzen und die Irritationen der inneren Machtverhältnisse übten eine grundlegende Wirkung auf die Prozesse der Individuation aus. C. E. Clark hat anhand von Grundrissen in New York gebauter Häuser gezeigt, dass die Familie, die früher als eine organische Einheit funktionierte, sich zwischen 1840 und 1870 zu einem Zusammenleben von isolierten Figuren wandelte, d.h. zu einer Gemeinschaft, die die Individuation ihrer Mitglieder antrieb.14 Die bürgerlichen Familien in Pest erlangten im Laufe der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Gestalt.

Der Roman von Péter Nádas reflektiert in zwei Figuren auf die Probleme der bürgerlichen Architektur in Budapest. Obwohl die beiden Architekten Samu Demén und Alajos Madzar in verschiedenen Zeiten, unter unterschiedlichen sozialgeschichtlichen Umständen lebten, war ihre Einstellung in gleicher Weise kritisch gegenüber Geschmack und Repräsentationsbedürfnis der Baunehmer. Samu Deméns massives und großzügig gebautes Haus an der Einmündung der Großen Ringstraße war mit seiner puritanischen Fassade weniger auffällig als alle anderen Mietshäuser in der Umgebung. Trotz seiner Unausgewogenheit und seinem Eigensinn, mit dem er doch nicht entscheiden konnte, „ob er kämpfen, abseits stehen oder sich im Gegenteil jeder gewöhnlichen, dummen Norm anpassen sollte“, trugen die Gebäude von Samu Demén, der mit allen Schwierigkeiten der ersten Generation der jüdischen Assimilation in einem letzten Endes hoffnungsvollen liberalen Zeitalter tätig war, keine Spur der Radikalität. Er entwickelte andere Ideen davon, wie man in der scheinbar bürgerlichen Umgebung der Stadt bauen sollte, als das damals üblich war. Er nahm die Relationen der inneren und äußeren Bedürfnisse der Bewohner anders wahr als die konkurrierenden Architekten. Die Bequemlichkeit und großzügige Ausgestaltung der hinteren Bereiche15 und der von anderen Architekten für unwichtig gehaltenen Räume, etwa das Vor- und Badezimmer oder die Küche, lagen ihm am Herzen und nur daraus ergibt sich bei ihm die Proportion von Fassade und repräsentativen Räumen.16 Seine architektonischen Ideen enthielten im Sinne von Nádas ein Angebot zur Korrektur der bürgerlichen Entwicklung in Budapest, die nicht imstande war, die Strukturen der Ständegesellschaft und deren Verfestigung im Rahmen des Nationalstaates zu durchbrechen. Sie gab sich mit der äußerlichen Nachahmung der städtischen Prachtbauten der Aristokratie und der Übernahme ihrer gesellschaftlichen Normen zufrieden. Die aus dem Gemeinadel stammende liberale Reformintelligenz, deren Anstrengungen die assimilierten, ungarisch-national eingestellten jüdischen und deutschen Stadtbewohner mit allen Mitteln unterstützten, erwies sich als unfähig, den Kern eines für die Modernisierung des Landes eintretenden und für die Emanzipation der armen und völlig machtlosen Schichten engagierten Bürgertums zu bilden. Im Sinne von István Bibó war das der Grund für die Enge und letztendlich für das Versagen der bürgerlichen Entwicklung in Ungarn im 19. Jahrhundert. Es ist kein Zufall, dass Ágost Lippay-Lehr, der spätere Nachfahre des Architekten auch noch in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit der fixen Idee leben konnte, „dass in diesem Land ausschließlich Bedienstete und Gentry lebten, dazwischen niemand.“17

Mit dem unauffälligen Haus an der Ringstraße, in dessen zweitem Stock der Architekt selbst eine Wohnung hatte, zog Samu Demén keine weiteren Bauaufträge an Land. Seine Ideen erwiesen sich als unvereinbar mit dem Zeitgeist.18 Der andere Architekt in den Parallelgeschichten ist Alajos Madzar, ein Schüler von Ludwig Mies van der Rohe, welcher im August 1930 die Leitung des Bauhauses in Dessau übernahm. Der von vielen Lehrlingen wie auch Kollegen mit ziemlicher Ablehnung empfangene neue Direktor wurde für einen Formalisten und Elitären gehalten, weil er schon damals angeblich keine billigen Volkshäuser plante, sondern eher Familienhäuser und Villen für reiche Kunden baute.19 Die Lage war tatsächlich viel komplizierter. Mies van der Rohe, der 1926 ein eindrucksvolles Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht errichtet hatte, das dann von den Nazis abgerissen wurde, hatte zwei Jahre später die Aufgabe übernommen, mit einem aus sehr teuren Materialien aufgebauten Objekt an der Internationalen Ausstellung in Barcelona das „Weimarer Deutschland“ zu repräsentieren. Die innere Struktur dieses Gebäudes in Barcelona hat Mies van der Rohe zur selben Zeit auch in Brünn für ein bürgerliches Haus, das sogenannte Tugendhat-Haus, angewandt, wo er von der Strukturierung der inneren Räume bis zu den letzten Details der Möbelstücke eine suggestive Harmonie und Integrität mit höchster Materialqualität entworfen hat. Walter Gropius meinte dazu ironisch, dass das Tugendhat-Haus in Wirklichkeit ein „Sonntagshaus“ sei.20

Obwohl Mies van der Rohe seine Ideen später in Richtung einer umweltfreundlichen Architektur (Gericke-Haus, 1930; Hubbe-Haus, 1935) bzw. einer industriellen Massenarchitektur (Illinois Institute of Technoogy, 1939–1958) weiterbildete, blieb Alajos Madzar, der jüngere Architekt der Parallelgeschichten, bei einer funktionellen Exklusivität. Es fehlte bei ihm an jeglichen emanzipatorischen Ideen. Die innere Architektur, die den bürgerlichen Idealen von Madzar entspricht, muss davon ausgehen, dass diese funktionelle Exklusivität sogar noch in der wohlhabendsten Gegend auf der Pester Seite eine Weltfremdheit vertritt, die während der Therapie sowohl die Patienten als auch die Therapeutin aus den Gefügen der sozialgeschichtlichen Umgebung heraushebt. Auf die Baupläne in der zierlichen Pozsonyi-Straße, in der Frau Szemző der Arbeit in ihrer analytischen Praxis nachgeht, üben die vernünftig-funktionalen Bauhaus-Gesichtspunkte ohnehin schon eine eher formelle Wirkung aus. Es wird im Roman vom Erzähler gründlich erklärt, dass auch für das Gebäude, in dem Frau Szemző in dem sechsten Stock ihre Wohnung hatte, gar nicht „die an sich bescheidenen individuellen Bedürfnisse den Maßstab für die inneren Proporzionen […] geliefert hatten, […] sondern die Gewinnsucht anspruchsloser, kleinlicher Architekten und Ausstatter“.21 Als reichte nicht allein schon diese Erklärung der Weltfremdheit von Madzars Bauplänen aus, kann man auf derselben Seite eine längere theoretische Passage über das sich „unter den schweren Ruinen seines Zusammenbruchs windende, selbsterfüllt feudale Ungarn“ und seine verantwortungslose, gescheiterte Aristokratie lesen.

Alajos Madzar entdeckt in der Wohnung eine Menge von funktionalen Fehlern und sein Anliegen ist es, diese mit kleinen Kunstgriffen möglichst zu korrigieren. Seine bescheidene Auffassung seiner Arbeit stimmt mit den analytischen Idealen von Frau Szemző völlig überein. Ihre Gedanken werden im Roman durch den Wortschatz von Alajos Madzar wiedergegeben und damit entsteht eine Achse nicht nur zwischen den beiden Geistesverwandten22, sondern auch zwischen der Architektur und der Psychoanalyse, die im erzählerischen Duktus maßgebliche Perspektiven zur Therapie der geschichtlich-psychischen Beschaffenheit der menschlichen Natur vertreten:

Frau Szemző hingegen sah ihre Arbeit so, dass sie zwar die historischen Gegebenheiten nicht verändern konnte, aber zuweilen ein Kunstgriff genügte, die inneren Funktionsvoraussetzungen zu ändern, und dass solche Veränderungen dann stark auf die Umgebung zurückwirkten, zumindest im Prinzip.23

Im Hintergrund des architektonischen Selbstverständnisses von Madzar steckt aber auch ein anderes Problem, nämlich der unauflösbare Konflikt zwischen Technik und Handwerkertum, oder anders ausgedrückt, die historisch schwerbeladene Gegenseitigkeit von Psyche und Techne, die auf vielen Ebenen ein theoretisches und praktisches, zu schweren Entscheidungen führendes Kernproblem des Bauhauses war. Das Thema wird auch in der Essayistik von Péter Nádas oft diskutiert. Madzar besteht eindeutig auf dem Handwerklichen, der eigenen Verantwortung und letzten Endes auf der Psyche, die imstande sei, der Technik einen Rahmen vorzugeben:

Die meisten Gebäude in der Neuleopoldstadt hatten etwas Improvisation an sich, wie ein Echo der Baracken des Ersten Weltkriegs. Es fehlte die elementare Freude des individuellen, einfühlsamen Handwerks. Als sagte in einer Symbolsprache fast jedes Gebäudeteil, ja, es ist Friede, hinter uns liegt der verlorene Krieg, aber das Gewerbe hat sich noch nicht erholt, seine Modernisierung ist unterblieben, und so wird eben minderwertige Ware produziert.24

Die Einstellung der Analytikerin und des Architekten, die sogar kleine Korrekturen der historischen Voraussetzungen in Aussicht stellen, geht deutlich darüber hinaus, was Erna Lehr als die eigentliche Aufgabe bürgerlicher Bildung würdigt. Sie denkt an seinen Großvater, den Errichter des Hauses an der Einmündung der Großen Ringstraße und ein grausames Monster, und meint, die gutbürgerliche Erziehung bestünde darin, „alle Umstände und Situationen zu durchschauen, zu verstehen, zu akzeptieren und mit dem Wissen gewappnet dem Chaos zu widerstehen“25. Gemäßigter therapeutischer Optimismus und der Geist der Stoa würden hier durch die beiden Frauenfiguren aufeinander prallen, wenn sie in einer Szene zusammengebracht werden könnten.

Trotz des Unterschieds zwischen den beiden Auffassungen bedeutet „das Bürgerliche“ im Diskurs des Romans keinen sozialen Zustand und es ist auch nicht mit dem mittelständischen vornehmen Lebensstil und Lebensverständnis zu verwechseln. Das Lebensverständnis des vornehmen Mittelstandes zeichnete sich nach Gyula Kornis, einem der führenden ungarischen Soziologen vor dem zweiten Weltkrieg, durch einen bestimmten Grad der Bildung („man muss mindestens vier Klassen in der Mittelstufe absolvieren“) und die Kohärenz der traditionsbewussten, nationalistischen Weltanschauung aus, die das jüdische Element ebenso sehr ausschließt, wie sie auch dem deutschen Einfluss widersteht.26 Diese Auffassung wird im Roman von dem älteren Bellardi verkörpert, der sich in der gesellschaftlichen Komplexität mit Hilfe seiner auf die Ebene der körperlichen Triebe verschobenen Vorurteile zurechtfindet.

In den Szenen, die am Anfang der 60er-Jahre spielen, gehört auch die Last der verdrängten Erinnerungen zu den historischen Gegebenheiten. Die Häuser gewinnen einen unheimlichen, sogar gespenstischen Charakter. „Es gibt solche Nächte“, kommentiert der Erzähler die Szene, in der Gyöngyvér Mózes merkwürdiger Weise die Stimmen vom Einfall der Pfeilkreuzler ins Haus von Frau Szemző in der Nacht des zweiten Weihnachtstags hören kann, „in denen die Wände der Budapester Miethäuser die einmal in ihnen erstarrten Töne ausstrahlen“.27 Das ist die Nacht, in der die von Alajos Madzar entworfenen Möbelstücke, diese vernünftigen Liebesgeschenke, aus dem Fenster geworfen werden.

Diese Episode nennt Viktória Radics mit Recht „Schicksalsgrimasse“.28 Auch zum Haus, in dem die Klavierlehrerin von Kristóf wohnte, stellt der wiederkehrende Junge fest, dass es einmal ein „Sternhaus“ gewesen ist, d.h. dass hier jüdische Staatsbürger zwangsweise einziehen mussten und dann von hier aus verschleppt wurden. Kristóf wagte es als Kind nie, sich bei den Erwachsenen zu erkundigen, was das Wort „Sternhaus“ bedeutete. Er konnte aus ihrem Ton erahnen, dass dieses Wort zu dem nur knapp überlebten Entsetzen gehören mochte. Und nicht nur die Töne und die Wörter vertuschen etwas, das sowohl die Akzeptierbarkeit des Gegebenen als auch die Möglichkeit der kleinen Korrekturen untergräbt. Auch die gestaltenden Entscheidungen der Romanwelt führen den Leser immer wieder zu Schicksalsgrimassen. Ármin Gottlieb verkauft verlässliche, massive Balken für genau jenen Bahnbau, der auch seine eigene Deportation ermöglichen wird. Mária Szapáry muss mit dem Wrack ihrer wunderbaren Geliebten Jahr um Jahr zusammenleben, bis sie ihr und dann sich selbst mit dem Einverständnis von Frau Szemző am 15. März 1961 das Leben nimmt.

Solche Knotenpunkte, „Schickalsgrimassen“, stehen im Roman dem Chaotischen gegenüber. Eine der großen Fragen der Parallelgeschichten ist, wie man als Erzähler, Autor oder Leser mit der unüberschaubaren Struktur und dem gähnenden Abgrund des Chaos umgehen soll. Die aufklärerische Mentalität des Architekten Alajos Madzar ist ein seltsamer Spiegel der Romanstruktur. Er „sucht nach Verbindungspunkten, verknüpft Elemente, Einheiten, Funktionen miteinander, will die Relationen klären“29, d.h. er baut eine neue, geschlossene Ordnung aus den ungeordneten Elementen. Die Tradition des realistischen Romans im 19. Jahrhundert bestimmte sich durch eine Aporie. Obwohl die reale Struktur der Welt und des Lebens der Einzelnen offen und chaotisch ist, musste ein Roman eine geschlossene, durchschaubare Form gewinnen und die Autoren versuchten die aporetische Beschaffenheit des Mimetischen zu verheimlichen. Der große Roman von Péter Nádas bezieht sich auf diese Aporie, er unterstellt aber das Mimetische nicht mehr einer von vornherein gegebenen Geschlossenheit mit Anfang und Ende. Die Geschlossenheit der Form wird radikal aufgelöst und der Roman bleibt prinzipiell unbeendet. Eine Ordnung des Mimetischen, die dem Roman eine formale Struktur verleiht, muss aber entstehen. Dabei ergibt sich die Frage, welches Ausmaß an Chaotischem die Ordnung erträgt, ohne auseinanderzufallen. Die Frage stellt sich sowohl für die Erzähler als auch für den Autor, der für die Reihenfolge der Kapitel verantwortlich ist. Seine Antwort ist offenbar ganz anders als die von Alajos Madzar. Madzar kann sich mit Unerklärtem nicht zufriedengeben, das übrig bleibt, wenn die Relationen des Geschehenen, des Vorgestellten und des Riesenbereichs des Nicht-Geschehenen aus dem Gesichtspunkt der Erzähler nur fragmentarisch zu klären sind. Aus der Perspektive der Romanstruktur erweisen sich die Ideen des Architekten als unhaltbar. Bei ihm konstatiert der Erzähler sogar eine Art von Blindheit, die sich aus der gefühlsmäßigen Identifizierung mit seiner Geburtsstadt Mohács ergibt.

Das Trauma, die Erschütterung verstellten die Sicht auf die Voraussetzung der Katastrophe. Deshalb war die Stadt selbst nach so vielen Jahrhunderten sämtlichen Erschütterungen ausgeliefert. Das war eine Erkenntnis, mit der sich Madzar fast selbst erschreckte. Er spürte, dass er die Eigenschaften seiner Geburtsstadt schon immer in sich getragen hatte, und zwar nicht nur das Gefühl der Zerstörung, sondern auch die unbewussten Voraussetzungen dafür.30

Der Name von Mohács gilt bis heute als Inbegriff der geschichtlichen Katastrophe im ungarischen historischen Bewusstsein.31 Die verstellte Sicht, die geschichtliche Blindheit, die sich aus der Zugehörigkeit zu einem Ort, zum Land, ergibt, gestattet den beiden Geliebten nicht, die erschütternde geschichtliche Niederlage der bürgerlichen Gesinnung wahrzunehmen. Sie arbeiten bis zum letzten Augenblick an einer Korrektur der historischen Gegebenheiten. Madzar verlässt das Land noch rechtzeitig. Frau Szemző wird nach Buchenwald deportiert. Sie bleibt am Leben, ihre Kinder sterben. Nach ihrer Rückkehr nach Budapest wird sie ihre therapeutische Praxis nicht mehr fortsetzen.

Was wäre die bürgerliche Variante der ungarischen Literatur ohne ein geschichtlich tatkräftiges Bürgertum, das sein Fiasko schon vor Jahrzehnten hinnehmen musste? Man denke nur an Sándor Márais Roman Die Bekenntnisse eines Bürgers, in dem er den endgültigen Schiffbruch der bürgerlichen Gesinnung in Ungarn so prägend darstellte. Vielleicht nur so viel. Das vernünftige Diagnostizieren, die Durchleuchtung der grundsätzlichen Triebe und Fehler, ohne die Hoffnung noch etwas Ganzheitliches aufbauen zu können, ohne Hoffnung auf eine Korrektur. Am Buchcover der ungarischen Ausgabe der 2017 erschienenen Autobiographie von Péter Nádas, Aufleuchtende Details, ist ein altes gestrandetes Schiffswrack zu sehen. In einem seiner Interviews sagte Péter Nádas mit einem direkten Verweis auf diese Abbildung: „Ich bin ein gescheitertes Schiff, nicht mehr“.32 So etwas kann natürlich nicht jedermann sagen. Nur einer, der viel, viel mehr ist als nur das.

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