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Das Ende des passiven Widerstandes

Allen führenden Politikern, ebenso wie den Industriellen und Gewerkschaftsführern, war im Sommer 1923 klar, dass der passive Widerstand nicht weiter durchgehalten werden konnte. Dies hinderte die nationalistische Rechte nicht daran, wütend alle jene zu attackieren, die die unvermeidlichen Schritte einleiten wollten. Aus der Sicht der Rechten traf es sich gut, dass in einer Großen Koalition jetzt auch die Sozialdemokraten an der Regierung beteiligt waren. Finanzminister Hilferding eignete sich wegen seiner jüdischen Abstammung und wegen seiner Neigung zu marxistischen Thesen hervorragend als Zielscheibe für hasserfüllte Angriffe von rechts! Wie 1918 der Waffenstillstand konnte jetzt der unvermeidliche Abbruch des passiven Widerstandes am 26. September der Linken als „Verrat“ angelastet werden.290 Gleichzeitig begann im Lager der Rechten die Erhebung des „Ruhrkampfes“ zum nationalen Mythos:

„Das positive Ergebnis des Ruhrkampfes war, und das muss als wichtiger Gewinn gebucht werden: zum ersten Mal nahm in einem restlos entwaffneten Deutschland eine wehrlose Bevölkerung eine Fremdherrschaft nicht willenlos hin, sondern sie bäumte sich gegen sie auf. Es war eine Volkserhebung gewesen! […] An der Ruhr ward es zum ersten Mal aller Welt kund, hier fühlt sich ein Stück deutschen Volkstums und deutscher Wirtschaft vergewaltigt, das sich so lange wehrt, wie es sich mit seinen bescheidenen Kräften in Form eines passiven Widerstandes zu wehren vermag, auch wenn es unterliegen muss.“291

Das Oberhausener „Heimatbuch“, das 1937 zur 75-Jahr-Feier während der Nazizeit erschien, greift aus der Zeit der Weimarer Republik überhaupt nur den Heldenmythos des Ruhrkampfes als erwähnenswert auf.292

GHH-Chef Paul Reusch trat aus Protest gegen die Einstellung des Passiven Widerstandes aus Stresemanns DVP, die diese Entscheidung in der Großen Koalition mit trug, aus und legte gleichzeitig sein Stadtverordnetenmandat in Oberhausen nieder.293 Rückblickend musste aber auch die GHH 1929 zugeben, dass es im Herbst 1923 zum Abbruch des passiven Widerstandes keine vernünftige Alternative gab.294

Für kurze Zeit geisterte das Gespenst der Abspaltung des Rheinlands von Deutschland durch die Zeitungen. Die Separatisten fanden jedoch nirgendwo bei der Mehrheit der Bevölkerung Unterstützung. Wie viele andere Städte gab auch Oberhausen ein „Treuegelöbnis“ ab: „Wir bekennen uns zum ungeteilten Reich und Preußen und sind uns gewiss, dass auch die gesamte Bürgerschaft in dieser Auffassung mit uns übereinstimmt und alle Loslösungsbestrebungen verurteilt.“ Das kurze, von der Stadtverwaltung verfasste „Gelöbnis“ war von allen Parteien – auch von der KPD – und den großen Gewerkschaftsverbänden unterzeichnet.295

Plünderungen in vielen Stadtbezirken

Die Masse der Arbeiter hatte wahrscheinlich andere Sorgen. Sie hungerte weiter. Die galoppierende Inflation hatte ihre Löhne entwertet. Bei den Bergleuten lagen die Reallöhne im September 1923 bei 74,7 Prozent des Standes von 1913, sie stiegen im Oktober leicht an, sanken im November aber wieder auf 55,7 Prozent. Und diese Werte waren noch deutlich besser als bei anderen Berufsgruppen.296 Fast täglich brachen Hungerunruhen und Plünderungen aus.

Am 12. Oktober drangen 70 Ledigenheimbewohner in die GHH-Verwaltung ein und rechneten den Direktoren vor, dass ihr Lohn nach Abzug der Miete nicht einmal mehr für Frühstück und Abendessen ausreichte. „Sie beantragten einen Vorschuss in Gestalt eines Brotes und eines halben Pfundes Speck oder Margarine.“ Die GHH hatte offenbar Brot und Speck auf Lager, denn nach einstündiger Verhandlung wurde ihnen die gewünschte Ration als Vorschuss bewilligt, ein entsprechender Betrag aber an den folgenden Tagen vom Lohn abgezogen. Während des Gesprächs drückten die draußen Wartenden das Hoftor ein, verließen aber nach Aufforderung durch ihre Sprecher den Hof der Hauptverwaltung wieder. „Die Werkspolizei lag in Bereitschaft; die blaue Polizei war ebenfalls verständigt und hatte verstärkten Patrouillendienst. Aus der Mitte der Demonstranten ertönte bei dem Vorbeigehen einer Patrouille der Ruf ‚Schneidet dem Kerl doch den Hals ab.‘“297

Von den Geschäften in der Marktstraße und vom städtischen Kühlhaus wurden die Menschenmassen abgewehrt; Bäckereien und Metzgereien in den Seitenstraßen konnten aber von der Polizei nicht vollständig beschützt werden. In Sterkrade attackierten die hungrigen Massen vor allem den Wochenmarkt. Die Öffentlichkeit zeigte zunächst durchaus Verständnis für die Not der Arbeiter:

„Die Bahnarbeiter bei den Hanielschächten zogen zur Gutehoffnungshütte in der Hüttenstraße. Die Leute konnten mit ihrem Einkommen unmöglich auskommen. Wir hörten von Summen, die den Leuten ausbezahlt worden sein sollten, die so lächerlich gering waren, dass sie noch nicht einmal zum Kauf von einem Pfund Margarine und einem Brot reichten. […] Mit verstörten Gesichtern händigten die Ehemänner ihre Lohnzahlungen den Frauen aus. Die Frauen wanderten zum Händler, wo ihnen erklärt wurde, dass dieselben die Ware vorher einfach verschenkt hätten. Heute müssten die Preise dem erhöhten Kursstande angepasst werden.“298

Zwei Tage später waren plötzlich „Nichtstuer und Eckensteher“ für die Unruhen verantwortlich. In einem verbalen Rundumschlag gegen „junge Burschen“, die sich „in flegelhafter Weise täglich in der Stadtmitte zusammenrotteten“299, anstatt zu arbeiten, ging ein Kommentator souverän über die Tatsache hinweg, dass die meisten kleineren Betriebe seit Wochen stillgelegt waren und dass auch in den großen Werken der GHH pro Woche nur noch 24 Stunden gearbeitet wurde – bevor auch da am 23. Oktober fast alle Arbeiter nach Hause geschickt und auf die städtische Erwerbslosenfürsorge verwiesen wurden.300

Die Lage in vielen Teilen der Stadt war Ende Oktober explosiv; vor allem in den Außenbezirken, wo die Polizei nicht so schnell eingreifen konnte, wurde täglich geplündert:

„Rotten von 2 – 300 Mann ziehen von einem Lebensmittelgeschäft zum andern und bemächtigen sich gewaltsam der dort vorhandenen Lebensmittel. […] Soweit feststeht, sind die Täter nur junge Burschen im Alter von 17 – 20 Jahren. Die Weiber und auch Kinder nahmen die Waren in Empfang.“

An einem einzigen Tag, am 27. Oktober wurden neun Geschäfte in den Außenbezirken Opfer von Plünderungen: Dörrenberg, Falkensteinstraße; Schlingermann, Dieckerstraße; Konsum II der GHH, Knappenstraße; Böger, Essener Straße; Bilarski, Essener Straße; Konsum Selbsthilfe, Mellinghofer Straße; Büschken, Nathlandstraße; Marcziniak, Mellinghofer Straße und ein Kartoffelwagen auf der Mellinghofer Straße. Zur gleichen Zeit war die Polizei in der Innenstadt gebunden, um dort die Geschäfte vor den großen Menschenansammlungen zu schützen. Die Geschäftsinhaber wurden deshalb ganz offiziell aufgefordert, „eine Art Selbstschutz zu bilden“.301

Unruhen in Osterfeld Anfang November, die auch in diesem Stadtteil zu Plünderungen von Lebensmittelgeschäften führten, wurden von der Polizei den Kommunisten angelastet. Eine Übung der „proletarischen Hundertschaften“ auf einer stadtnahen Wiese wurde von einem Trupp belgischer Soldaten überrascht, stob auseinander und sammelte sich dann wieder in der Osterfelder Innenstadt. Angeblich begannen danach die Plünderungen.302 Die „Proletarischen Hundertschaften“ waren seit dem 16. Mai in Preußen verboten. Möglicherweise warteten die Osterfelder Kommunisten in diesen Tagen tatsächlich auf das Signal zum bewaffneten Aufstand, der nach einem Plan der Kommunistischen Internationale im Oktober – dem „Deutschen Oktober“ – von der Arbeiterregierung Sachsens ausgelöst werden sollte. Der Aufstandsplan endete in einem Fiasko für die Kommunisten.303

Unmittelbar nach dem Höhepunkt der Plünderungen Ende Oktober verhängte der kommandierende General ein Versammlungsverbot für die Städte des westlichen Ruhrgebiets.304 Abgesehen davon schien sich die Besatzungsmacht um die in allen Großstädten um sich greifenden Unruhen nicht zu kümmern. Dies hatte natürlich auch zur Folge, dass die Ablenkungsmanöver, die den Zorn auf die Franzosen richten sollten, im Herbst 1923 nicht mehr funktionierten.

Der Masse der Bevölkerung fehlte es an allem; im November wurde der skandalös angestiegene Milchpreis für die wachsende Säuglingssterblichkeit verantwortlich gemacht. Es kam zu einem langen und heftigen Schlagabtausch in der Stadtverordnetenversammlung. Die Kommunisten Stankiewitz und Feldermann machten die „kapitalistische Weltordnung“ für die Not der Kinder verantwortlich, was bei den bürgerlichen Parteien Bedauern darüber auslöste, dass „die Debatte ins politische Fahrwasser gezogen wurde“. Hermann Albertz (SPD) beklagte, „dass eine ganze Menge Säuglinge nach Lirich gebracht werden müssten“; er attackierte „das Zentrum und die Bischöfe, die Hirtenbriefe gegen den Marxismus veröffentlichten, aber keine gegen wuchernde Zentrumsbauern.“ Die Zentrumsfraktion konterte energisch, sie ließ auf ihre Bischöfe nichts kommen.305 Wenige Tage später begann die Stadt ein weiteres Notprogramm: Familien von Arbeitslosen mit Säuglingen erhielten einen halben Liter Milch pro Tag kostenlos.306 Aber selbst diese Menge stand nicht jeden Tag zur Verfügung.307

Der Vorstoß der Arbeitgeber gegen den Acht-Stunden-Tag

Vor dem Hintergrund dieser explosiven Lage musste der Vorstoß der Arbeitgeber gegen den Acht-Stunden-Tag, die wichtigste soziale Errungenschaft der Revolution von 1918, besonders provozierend wirken. Am 30. September beschlossen die Zechenbesitzer des Ruhrgebiets in Unna, ab dem 8. Oktober die tägliche Arbeitszeit unter Tage von sieben wieder auf achteinhalb Stunden zu erhöhen. Da die Arbeitszeit im Montanbereich auch gesetzlich abgesichert war, bedeutete diese Rückkehr zu den Vorkriegsschichtzeiten eine gezielte Provokation von Staat und Gewerkschaften.308

Paul Reusch wartete die Verhandlungen mit den Gewerkschaften im Reichsarbeitsministerium gar nicht erst ab, sondern verordnete den Betrieben der GHH sofort den zehnstündigen Arbeitstag und das Zweischichtensystem (Zwölfstundenschichten mit zweistündiger Pause) und drohte gleichzeitig allen Arbeitern, die nach acht Stunden den Arbeitsplatz verließen, die Entlassung an. Unter dem Druck drohender Aussperrung blieb den Arbeitern in den Oberhausener Betrieben nichts übrig, als sich dem Diktat zu beugen in der Hoffnung, die Arbeitszeitverlängerung nach einer Übergangszeit wieder rückgängig machen zu können. In diesem Sinne wurden die Arbeiter der GHH von Vertretern der Gewerkschaften informiert.309 In den letzten Novembertagen und im Dezember 1923 erhielten die Direktoren der GHH tägliche Berichte über die Zahl der Arbeiter, die die Zwölf-Stunden-Schicht verfahren hatten.310

Eine Delegation von Industriellen, die so genannte „Sechserkommission“ des Bergbaulichen Vereins unter Führung von Hugo Stinnes, führte im Herbst 1923 Gespräche mit dem französischen General Degoutte, deren Ergebnis am 23. November das sogenannte „Micum-Abkommen“ war, das die Wiederaufnahme der Kohleförderung ermöglichte, in dem sich der Bergbau aber rückwirkend zur Zahlung einer Kohlensteuer und zu weiteren Reparationslieferungen von Kohle verpflichten musste. Die Bergbauunternehmer der Ruhr konnten danach alle Kosten des Abkommens auf das Reich bzw. auf ihre Kunden abwälzen. „Eine spezifische Reparationsbelastung der Zechenbesitzer gab es also nicht.“311 Der GHH-Bericht aus den 1920er Jahren erwähnte dagegen nur die Belastungen, nicht, welche Vorteile der Ruhrbergbau aus dem von den Zechenvertretern doch intensiv angestrebten Abkommen zog. Die Auflagen aus diesem Abkommen mussten dann als Begründung für die Notwendigkeit der Verlängerung der Arbeitszeit herhalten. Da die Gewerkschaften in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit an Streik nicht denken konnten, setzten sich die Arbeitgeber im Dezember bei den Verhandlungen im Reichsarbeitsministerium mit ihren Vorstellungen auf der ganzen Linie durch. Die Gewerkschaften hielten zwar „prinzipiell“ am Acht-Stunden-Tag fest, beharrten aber nicht auf „schematischer Anwendung der achtstündigen Arbeitszeit“. Außerdem mussten die Arbeiter auf die tariflichen Zuschläge für Überstunden verzichten. In Urabstimmungen wurde dieses Abkommen zwar mit überwältigenden Mehrheiten abgelehnt. Die Reichsregierung setzte es aber trotzdem qua Verordnung in Kraft.312

Mittelbare Folge der Betriebsschließungen im Herbst war der fast völlige Ruin der städtischen Finanzen: Im November 1923 waren in Oberhausen 27.000 Männer und 800 Frauen als Empfänger von Erwerbslosenhilfe registriert, hinzu kamen über 2.000 Kurzarbeiter. Zählt man die von den Arbeitslosen abhängigen Familienangehörigen hinzu, so waren 75.000 Menschen – das waren fast drei Viertel der gesamten Oberhausener Bevölkerung von damals 108.000 – von der Erwerbslosenfürsorge abhängig. Die vom Reich überwiesenen Beträge reichten für deren Versorgung bei weitem nicht aus. Deshalb drängte die Stadt, um den finanziellen Ruin abzuwenden, auf eine rasche Wiedereröffnung der Betriebe.313

Zur Unterzeichnung des Micum-Vertrages hielt sich Reusch Ende November nach monatelanger Abwesenheit wieder einige Tage in Oberhausen auf.314 Auch zu dieser Zeit bedurfte es anscheinend noch komplizierter Arrangements, um den Besatzungsbehörden aus dem Weg zu gehen: Die leitenden Herren fuhren mit dem Zug von Wesel, dem Sitz der Konzernverwaltungsstelle, bis zum Bahnhof Sterkrade und wurden von dort mit unauffälligen Privatwagen zu ihren Terminen in der Besatzungszone gebracht.315 Eine Fahrt bis zum Bahnhof Oberhausen, wo die Franzosen das Kommando hatten, schien ihnen offenbar zu riskant. Als Reusch im Dezember mit seiner Frau und einem Diener endlich wieder sein Haus in Oberhausen betreten wollte, musste für die Fahrt im Privatwagen von Wesel nach Oberhausen eine „rosa Karte“ für den Grenzübertritt zwischen dem unbesetzten und dem besetzten Gebiet besorgt werden.316


Abb. 15: Notgeld ist nichts mehr wert, Anzeige in der OZ am 29. November und 1. Dezember 1923.

Das Ende der Inflation

Welche absurden Ausmaße die Geldentwertung zu dieser Zeit erreicht hatte, machte die Verlautbarung der Oberhausener Banken und Sparkassen deutlich,

„dass sie vom Montag, 5. November 1923, Geldscheine unter zehn Millionen Mark nicht mehr annehmen könnten, ferner von diesem Tage ab nur noch Notgeldscheine annehmen, welche von der Landesbank in Düsseldorf, im Stadt- und Landkreis Essen und in Mülheim, Oberhausen und Gelsenkirchen ausgegeben sind.“

Notgeldscheine unter 500 Millionen Mark wurden ebenfalls nicht mehr angenommen.317 Unter dem „Notgeldwirrwarr“ hatten die Lohnabhängigen am meisten zu leiden, da die von den Werken und Gebietskörperschaften ausgestellten Scheine nur noch im unmittelbaren Umkreis der jeweiligen Stadt als Zahlungsmittel taugten.

Als es im Sommer immer schwerer geworden war, die ungeheueren Geldmengen von den Druckereien der umliegenden Städte an den Besatzungskontrollen vorbeizuschmuggeln und unter Tage auf der Zeche Oberhausen zu verstecken, bezahlte auch die GHH ihre Arbeiter teilweise mit „Geldgutscheinen“, ging aber ab September dazu über, diese Notgeld-Scheine wieder einzuziehen und dafür Bankschecks in großen Mengen auszustellen. Da sie vom GHH-Vorstandsmitglied Holz unterzeichnet waren, hießen sie im Volksmund „Holzrubel“.318 In der Presse warb die GHH um Vertrauen für diese Schecks. Sie seien ebenso gut wie Reichsgeld. Die GHH bat die Behörden und Geschäftsleute, „die von der Gutehoffnungshütte herausgegebenen Schecks weiter in Zahlung zu nehmen“.319 Die Oberhausener und Osterfelder Banken sicherten auch zu, dies bis zum 1. bzw. 10. Dezember zu tun.320

Die neue Währung, die Rentenmark, wurde bereits seit dem 15. November 1923 in Deutschland ausgegeben. Sie durfte aber zunächst nicht in das besetzte Gebiet eingeführt werden, so dass das Notgeld an Rhein und Ruhr noch bis zum Sommer 1924 weiter zirkulierte.321

6. Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ in Oberhausen
Der Erdrutsch bei den Wahlen im Mai 1924

Die Reichstagswahlen am 4. Mai 1924 waren in ganz Deutschland gekennzeichnet durch einen erschreckenden Rechtsruck, durch teilweise dramatische Verluste der gemäßigten bürgerlichen Parteien – mit Ausnahme des Zentrums –, aber vor allem der SPD, und durch starke Stimmengewinne der Kommunisten. Die Katastrophe der SPD wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es die USPD 1924 nicht mehr gab, die wiedervereinigte SPD aber trotzdem Stimmenverluste hatte, demnach wohl kaum ehemalige Wähler der Unabhängigen Sozialdemokraten hatte zu sich herüber ziehen können.

Die Doppelwahl vom Mai 1924 (Reichstag und Stadtverordneten-Versammlungen) war auch in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld eine Protestwahl, allerdings mit charakteristischen Abweichungen gegenüber den Trends im Reich (siehe Tabellen 4 und 5 auf der folgenden Seite). Bei den Reichstagswahlen waren die Zugewinne der Rechtsradikalen in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld weit geringer als im Reich. Die SPD konnte aber nur noch etwas mehr als die Hälfte der Prozentanteile gewinnen als durchschnittlich in Deutschland, ein Erdrutsch von dramatischen Ausmaßen! Die KPD erzielte doppelt so hohe Prozentanteile wie in Deutschland insgesamt; besonders stark war sie in Sterkrade. Die Gewichte innerhalb der Arbeiterbewegung hatten sich in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld damit dramatisch verschoben. Die Mehrheit der Arbeiter wählte jetzt kommunistisch. Unerschütterlich zwischen den Fronten stand das Bollwerk des katholischen Zentrums mit deutlichen Stimmengewinnen. Wie schon bei früheren Wahlen war dies in Oberhausen vor allem auf das Wahlverhalten der Frauen zurückzuführen: In Osterfeld wurden die Stimmen von Männern und Frauen getrennt abgegeben; im Gegensatz zu allen anderen Parteien erhielt das Zentrum überall mehr Stimmen von Frauen als von Männern. Bei den Arbeiterparteien war der Überhang der Männerstimmen dagegen besonders deutlich.323 Bei den Kommunalwahlen zeigte sich durch das Auftreten vieler kleiner Wählervereinigungen im bürgerlichen Lager ein etwas anderes Bild als bei der Reichstagswahl am gleichen Tage.


Tabelle 4: Reichstagswahl 4. Mai 1924: Oberhausen, Sterkrade, Osterfeld 322


Tabelle 5: Stadtverordnetenwahlen 4. Mai 1924: Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld 324

Die städtische Öffentlichkeit registrierte erschreckt das phänomenale Anwachsen der Kommunisten, die in allen drei Stadtparlamenten hinter dem Zentrum jetzt die zweitstärkste Fraktion stellten. Die Sozialdemokraten bildeten künftig Mini-Fraktionen neben den diversen anderen Vertretern spezieller lokaler Interessengruppen. Den gestärkten Kommunisten würde – so die Hoffnung der bürgerlichen Presse – aber in Oberhausen auch ein durch die Rückendeckung der Industrie gestärkter Rechtsblock gegenüberstehen.325

Die Kommunisten, durch den überragenden Wahlerfolg besonders selbstbewusst, enttäuschten die Erwartungen ihrer Gegner nicht. Wie im Reichstag und in anderen Stadtparlamenten326 inszenierten sie auch in Oberhausen und Sterkrade bei der Eröffnungssitzung ein provozierendes Spektakel: Sie ließen die Stadtverordneten wissen, dass sie sich an die soeben durch Handschlag übernommene Verpflichtung nicht gebunden fühlten. Der Oberhausener KPD-Fraktionsvorsitzende Feldermann klärte die Versammlung auf:

„Die kommunistische Partei erblickt in jedem Parlament des bürgerlichen Staates ein Instrument zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Diktatur. Es ist nur weiße Salbe. Die Proletarier wissen aus Erfahrung, dass die Ausgebeuteten keine grundlegende Verbesserung ihrer Lage vom Parlament zu erwarten haben. Sie wissen, dass dazu notwendig ist der Sturz der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, um eine andere Ordnung einzuführen, und das ist nur möglich unter der Diktatur des Proletariats. Unsere Fraktion ist verantwortlich nur der kommunistischen Partei.“327

Deshalb würden sich die kommunistischen Stadtverordneten zur Geheimhaltung nur dann verpflichtet sehen, wenn diese im Interesse der Arbeiterschaft liege. Danach meldete sich Feldermanns Fraktionskollege Kilz zu Wort, um über die Lage der Bergarbeiter am Ende ihres erbittert geführten Tarifkonflikts um Arbeitszeit und Lohn zu referieren. Es wurde eine lange Rede. Der Oberbürgermeister als Vorsitzender ermahnte ihn fünfmal, sich kürzer zu fassen; aber Kilz war nicht zu bremsen. Als nichts anderes mehr half, schloss der Bürgermeister die Sitzung.328

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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9783874683241
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