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***

Der Anker klatschte ins Wasser und versank. Wir lagen auf Reede, einige Meter vor dem Hafenbecken neben vier weiteren Schiffen, da die Anlegestellen am Pier besetzt waren. Der Kapitän kam aus der Kajüte und trug eine Holzkiste voller kleiner Säckchen. Er ließ die Kiste vor seine Füße fallen und griff zwei heraus.

»Männer, als kleine Entschädigung für die anfänglichen Unannehmlichkeiten an Bord überreiche ich jedem von euch im Namen von Kapitän Loco, der uns bedauerlicherweise schon verlassen hat« – alle lachten – »zehn Goldstücke.« Mit diesen Worten warf er die beiden Säckchen den zwei Männern zu, die ihm am nächsten standen.

Ja, ist denn heut schon Weihnachten?

»So«, fuhr Quinn fort, »und nun kommt her, jeder nimmt sich einen Sack, aber wehe, einer von euch Ratten wagt es, mehr zu nehmen, dem hacke ich persönlich die Hand ab, die danach greift!« Er drohte mit erhobenem Säbel. Als ich in die Kiste greifen wollte, schlug er mir mit dem Säbel auf die Finger. Aua! Zu eurer Beruhigung: Es war die flache Seite.

»Was, du auch?«

»Ja, Sir!«

»Hast du dir das denn auch verdient? Ich hab dich nur beim Kistenhocken und Seilschlafen an Deck gesehen, aber nicht beim Arbeiten!«

Einmal mehr war ich der Anlass, dass alle anfingen zu lachen, doch ich ließ mich nicht unterkriegen.

»Unter Deck hab ich gearbeitet, Sir. Mir habt ihr es zu verdanken, dass ihr auf unserer Kreuzfahrt nicht verhungert seid. Denn von diesem versoffenen Schiffskoch hättet ihr bestimmt nichts bekommen!«

»Was?! Für den Fraß willst du noch einen Lohn?«

»Für die gekochten Kartoffeln und das Gemüse mit Schinkenspeck und dafür, dass ich gerudert habe, und dafür, dass ich die meiste Zeit in dieser stinkenden, stickigen Kombüse verbringen musste, und dafür ...«

Der Kapitän hob die freie Hand und ich schwieg. Nachdenklich sah er mich an und zog den Säbel von meiner Hand.

»Ganz schön mutig, unser Schiffsjunge, findet ihr nicht auch?«

Wie die Mannschaft auf die Worte reagierte, brauche ich euch wohl nicht zu sagen, auf jeden Fall sollte es das letzte Mal sein, dass sich diese Kerle über mich kaputtlachten.

Nachdem jeder, mich eingeschlossen, sein verfrühtes Weihnachtsgeschenk an sich genommen hatte, gab der Kapitän den Befehl, das verbliebene Beiboot zu Wasser zu lassen, und wählte einige Männer aus, die als Erste an Land rudern durften. Zwei von ihnen sollten dann wieder zurückschippern und weitere Männer aufnehmen, bis alle von Bord waren. Ich gehörte zur ersten Ruderpartie und war überglücklich, endlich von diesem Schiff runterzukommen, das für mich, durch den Job in der Kombüse, ein schwimmendes Gefängnis gewesen war. Kapitän Quinn würde mit der zweiten Seeräuberladung übersetzen. Der Smutje blieb in seiner stinkenden Kombüse zurück. Wie ich erfuhr, war der Trommler auch ein Gefangener von Kapitän Loco. Er war allerdings schon so lange bei ihm und hatte auch nichts auszustehen, solange er nicht aus dem Takt kam, dass er es selbst fast vergessen hatte. Trotzdem schloss er sich jetzt der Truppe von Kapitän Quinn an.

Mit jedem Ruderschlag entfernten wir uns von der Venus und kamen dem Festland näher. Immer besser konnte ich den Hafen erkennen und dann hatte ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Ich stand noch unschlüssig am Pier, während Quinns Männer schon losrannten. Sie hatten offenbar ein Ziel und schienen es mächtig eilig zu haben. Zwei Männer machten wie befohlen kehrt und holten die nächste Ladung Seeleute vom Schiff. Keiner der Kerle kümmerte sich weiter um mich. Es gab nicht mal eine Verabschiedung. Hallo, interessiert sich hier überhaupt jemand für mich?

Ich blieb allein zurück und dachte nicht im Traum daran, dieser davonrennenden Meute hinterherzudackeln. Welche Aufgabe ich in dieser Geschichte hatte, würde sich schon noch zeigen, das wusste ich aus Erfahrung. Bis jetzt hatte ich keinen Schimmer, was ich hier sollte, und von einer Festung war weit und breit nichts zu sehen.

Ich beschloss, mich im Hafen umzusehen. Die dicht zusammenliegenden Schiffe am Pier wurden be- und entladen, Kisten und Kübel wurden getragen, Fässer gerollt, Ziegen und Kühe durch die Gegend getrieben, in Käfigen gackernde Hühner verladen. Um die hundert schwarze und weiße Männer liefen geschäftig herum. Dagegen waren sehr wenige Frauen zu sehen. In der Nähe des Anlegers gab es einige Lagerhäuser, einen Segelmacher, eine Netzknüpferei und sogar eine kleine Werft, neben der sich die Reeperbahn befand, in der die Seile gedreht wurden. Ich verließ den Hafen und kam an Fischerhütten vorbei, die ihren eigenen Anlegeplatz hatten. Im Zentrum des Hafengebietes stand ein Hotel, Matrosenlager hieß es, und ich zählte vier Kneipen, sie hießen Zum Goldenen Anker, An Deck, Viermaster und Walfänger.

Nach einer gefühlten halben Stunde sah ich von Ferne, wie das Ruderboot zum zweiten Mal anlegte. Kapitän Quinn und seine Leute stiegen aus und gingen den Steg entlang in Richtung Zum Goldenen Anker.

Wo sind bloß meine Gefährten, die mich sonst immer erwarten? Das hier sind ganz andere Charaktere als bei meinen bisherigen Abenteuern. Wo ist der freundliche Henry alias Pater Laurentius und wo sind die anderen? Oder treffe ich vielleicht doch nicht immer mit denselben Leuten zusammen? Aber warum hat die Stimme in meinem letzten Abenteuer dann »Hilf deinen Gefährten« gesagt?

So wünschte ich mir, meine Freunde aus vergangener Zeit noch zu treffen. Allmählich bekam ich Hunger. Ich lenkte meine Schritte auch zum Goldenen Anker in der Hoffnung, dass es da nicht bloß Rum gab, sondern auch was zu beißen. Mit knurrendem Magen bahnte ich mir einen Weg durch das Gewimmel von Menschen, Karren, Kleinvieh, Kisten und Fässern.

Kapitel 2 Der Bote des Todes

Der Dunst von den verschiedensten Tabakmischungen stach mir in die Augen und in die Nase. Dazu gesellte sich der Geruch von gebratenem Fleisch und Fisch. Beides brutzelte über einer offenen Feuerstelle. Hinter dem Tresen prangte an der Wand der massige Namensgeber der Lokalität, ein Anker aus schwarzem Stahl und abblätternder Goldfarbe. Für einen Anker aus echtem Gold hatte vermutlich der Bausparvertrag nicht gereicht. Es herrschte das reinste Tohuwabohu. Acht Männer verließen gerade einen Tisch. Sofort eilte eine Frau dorthin und räumte die Krüge und den einzigen sich auf dem Tisch befindenden Holzteller weg. Zwei andere Frauen nahmen einen Kessel von der Feuerstelle und begaben sich ebenfalls an den jetzt freien Tisch. Dampf stieg auf, als sie den Kesselinhalt, vermutlich kochendes Wasser, auf die Tischplatte kippten, um sie dann mit Bürsten abzuschrubben. Das Wasser rann an den Seiten herunter und sickerte in den Sandboden. Fünf weitere Frauen waren unermüdlich damit beschäftigt, die durstigen und hungrigen Seeleute an den anderen Tischen zu bedienen. Dabei wurden sie von den meisten dumm angemacht und betatscht, was ihnen aber nichts auszumachen schien. Offensichtlich waren sie es gewöhnt, denn sie knallten jedem einen passenden Spruch an den Kopf. Eine von ihnen sah mich im Eingangsbereich stehen.

»Na Süßer, gehörst du auch zu Kapitän Quinn?«, fragte sie im Vorbeigehen.

»Äh, ... ja, also ... nicht direkt«, stotterte ich.

»Nicht direkt?« Sie blieb stehen und sah mich fragend an. Dann zeigte sie auf einen Tisch am anderen Ende des Raums. Durch den Dunst konnte ich Kapitän Quinn erkennen.

»Wie auch immer, er sitzt da hinten«, sagte sie achselzuckend.

»He, Junge, komm zu uns«, rief der Kapitän, hob die Hand und winkte.

»Na, dann geh mal zu deinem Käpt’n, ich bring gleich was zu essen und Rum natürlich.«

Sie ging weg und ich bahnte mir einen Weg zu Kapitän Quinn.

»Setz dich. Warum warst du denn so schnell verschwunden? Ich dachte, du wolltest bei mir anheuern.« Er lachte und seine Kumpane am Tisch stimmten mit ein. Mann, und ich dachte, es hätte sich ausgelacht!

»Ich glaube, ich eigne mich nicht für die Seefahrt.«

»Und wofür eignest du dich dann? Als Hilfssmutje warst du doch ganz überzeugend.«

»Komisch, an Bord hörte sich das ganz anders an – Sir!«

»Oh, der Herr ist empfindlich! Na komm, setz dich zu uns.«

Vergeblich schaute ich mich nach einem Stuhl um. Auch an dem eben frei gewordenen Tisch hatte ich keine Chance, denn da fand schon wieder das nächste Gelage statt.

»Ich glaube, ich werde hier stehen bleiben.«

»Du musst wirklich noch ‘ne Menge lernen!«, sagte der Käpt’n und stand auf. Wollte er mir etwa seinen Platz auf der Sitzbank überlassen? Ich entschied, lieber abzuwarten, anstatt mich zu setzen. Erwartungsvoll sah ich zu Kapitän Quinn.

»Hier mein Freund«, sagte er und riss einem schnarchenden Typen, dessen vermutlich vom Rum vernebelter Kopf auf dem Tisch lag, den Stuhl unter dem Hintern weg. Der Mann plumpste auf den Boden, grunzte und rollte sich zusammen.

»Ein Kamerad von Kapitän Quinn bekommt immer einen Sitzplatz an seinem Tisch. Habe ich recht, Leute?« Mit diesen Worten stellte er den Stuhl neben sich und gebot mir, Platz zu nehmen.

»Nun sag mal, mein Freund, wie ist dein Name?«, begann Kapitän Quinn die Fragestunde.

»Man nennt mich Nick.«

»Sei gegrüßt in unserer Mitte, Freund Nick, und was sucht unser junger Mann?«

»Er sucht seine Tante Claudius, die er endlich mal beehren möchte!«, antwortete ich schon bedeutend selbstsicherer und musste bei dem Namen schmunzeln, der, ihr wisst ja, bei dieser Frage immer herhalten muss.

»Hier in diesem Drecksloch?«

»Hier oder sonst wo!«

Darauf folgte ein Knall. Ein riesiger Holzteller voll mit fetttriefendem Fleisch und zwei Broten landete auf dem Tisch.

»Hier, damit auch du groß und stark wirst wie der Käpt’n«, sagte die Bedienung von eben zu mir und zwinkerte. Der Kapitän zog sie zu sich auf den Schoß.

»Du stehst auf so große Bengel, ich weiß, aber warte nur ab, nachher werde ich dir zeigen, was für ein Kerl ich bin«, versprach er.

»Nimm den Mund nicht wieder so voll, Quinn, letztes Mal bist du so schnell eingeschlafen, ich war noch nicht einmal ganz ausgezogen.«

Ich freute mich, dass sich diese Kerle dieses Mal nicht auf meine Kosten vor Lachen krümmten und sich auf die Schenkel klopften. Doch Kapitän Quinn ließ sich davon nicht in Verlegenheit bringen.

»Na, an wem das wohl gelegen hat?«, konterte er schlagfertig.

»Sei bloß vorsichtig mit dem, was du sagst – mein Lieber! Bei diesem Körper ist außer dir noch niemand eingeschlafen«, entgegnete sie, stand auf, warf sich in Pose und wies stolz auf ihre weiblichen Rundungen hin, was ihr eine Welle der Begeisterung einbrachte. Zum Abschluss beugte sie sich zu mir und gab mir einen Rat:

»Pass gut auf dich auf und lass dich nicht von diesen ruppigen Kerlen niedermachen. Im Grunde sind das alles große Kinder.«

Danach drehte sie sich um und ging. Hoch erhobenen Kopfes stieg sie über den am Boden schlafenden Tischnachbarn rüber, dabei rief sie:

»Eh, Aldo! Hier ist schon wieder einer vom Stuhl gefallen!«

Prompt stand ein gewaltiger Mann neben ihr, warf sich den Suffkopp über die Schulter und schlurfte in Richtung Ausgang davon.

An unserem Tisch hatte die Raubtierfütterung begonnen. Die Männer fielen über die Brote und den Fleischberg her, rissen die großen Brocken mit den Händen entzwei oder säbelten sich mit ihrem Messer etwas ab. Ich war zu perplex, um mir selbst etwas nehmen zu können. Fassungslos beäugte ich den schnell kleiner werdenden Fleischberg und die gierigen flinken Finger darauf. Bis plötzlich ein Stück vor mir auf den Tisch geknallt wurde – wohlgemerkt auf den Tisch, denn einen Teller hatte ich ebenso wenig wie die anderen.

»Hier, Nick, bevor die Bande dir alles vor der Nase wegschnappt«, meinte Kapitän Quinn und nickte mir zu.

»Aufgepasst, Jungs, hier kommt der Rum!«, rief eine andere Kellnerin und donnerte uns drei Buddeln auf den Tisch, ihre Kollegin hatte die Becher dabei.

Wie schön, ich dachte schon, wir müssten alle aus den Flaschen trinken.

Sofort floss der Rum aus den Flaschen in die Becher, wobei einer in dem Durcheinander von Händen umgestoßen wurde, was aber keinen störte. Er wurde wieder aufgerichtet und neu gefüllt. Jetzt schwamm neben dem Fett auch noch Rum auf dem Tisch, den die Brotkrümel teilweise wieder aufsaugten.

***

Was weiter passierte, ist ohne Belang, es wurde, ich muss es so drastisch ausdrücken, gefressen und gesoffen. Einige schäkerten nebenbei mit den freizügigen Damen, die von einem Tisch zum nächsten stolzierten und offensichtlich auf Kundschaft aus waren. Durch den Dunst sah ich, wie ein grauhaariger Mann mit Aldo sprach. Kurz darauf stand er vor unserem Tisch. »Ahoi, Käpt’n!«

»Ahoi, Mr. Donovan«, erwiderte Quinn.

»Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie, Käpt’n.«

»Was ist los, setzen Sie sich.« Kapitän Quinn überließ ihm seinen Platz, während er sich auf die bereits bekannte Weise einen Stuhl organisierte. Dieses Mal traf es allerdings keinen Schlafenden. Der Mann, der unsanft auf dem Boden landete, sprang wütend auf, doch Quinn lächelte ihn überlegen und herausfordernd zugleich an.

»Was ist, hast du was dagegen, dass ich mir deinen Stuhl ausleihe?«, fragte er. Anscheinend hatte der nette Mann nichts dagegen, denn als er die Blicke von unserem Tisch registrierte, hob er abwiegelnd die Hand, als wollte er sagen »Schon gut, ich stehe gerne, kein Problem«.

Wie man sich doch ohne Worte verstehen kann und auf so friedliche Weise! Ich hatte schon Befürchtungen, dass es hier in den nächsten Sekunden zu einer saftigen Schlägerei kommen würde, so wie im Saloon in Rocky Town. Aber nichts dergleichen geschah.

»So, jetzt erzählen Sie mal, was los ist«, forderte Kapitän Quinn Mr. Donovan auf, als er sich mit seinem neuen Stuhl zu uns gesellte. Doch viel kam anfangs nicht von Mr. Donovan, der nur kurz »Mr. Big!« sagte.

»Was ist mit ihm? Haben Sie ihn nicht gefunden? Hat er die Seeteufel sicher hierher gebracht?«

»Ja und nein, also die Seeteufel liegt wie besprochen in der kleinen Bucht vor Anker, aber Mr. Big ist von den Engländern erwischt worden. Genauer von unserem Freund Admiral Benbow. Er hat ihn in den tiefsten Kerker werfen lassen.«

»Und wo ist das Problem? Dann hauen wir ihn eben aus den schmierigen Händen von Admiral Benbow raus, was, Jungs?«

»Sicher! – Klaro! – Wann geht’s los?«, riefen die Männer durcheinander.

»Da gibt es allerdings ein Problem«, unterbrach Mr. Donovan das Gebrüll.

»Problem?«, wiederholte Kapitän Quinn fragend, »das Wort kenne ich gar nicht!«

»Dann werden Sie es jetzt kennenlernen, denn der Admiral hält Mr. Big in der Festung gefangen«, er machte eine Pause, seufzte und fügte hinzu: »Morgen früh soll er gehängt werden.«

Die Männer, die gerade noch schmatzend die letzten Fleischfetzen und Brotkrümel vertilgt hatten, hielten plötzlich inne, starrten Mr. Donovan an und ich sah den Kapitän zum ersten Mal sprachlos. Gleichzeitig läutete das Wort Festung wie ein gewaltiger Glockenschlag, der zur Frühmesse rief, in meinen Ohren. Die Stimme des Käpt’ns riss uns alle aus der Erstarrung.

»Wo denn? – Ich meine, wo soll er gehängt werden? In der Festung?«

»Nein, oben in der Stadt auf dem Marktplatz. Damit alle es sehen können. Als abschreckendes Beispiel sozusagen. Morgen früh um acht Uhr gibt der Admiral das Zeichen, den Hebel der Falltür umzulegen.«

Das ist es also, es geht darum, mit Quinns Männern diesen Mr. Big zu befreien.

»Dann ist es noch nicht zu spät! Wir sollten schnurstracks zum Marktplatz marschieren und das mit allen Mitteln verhindern«, brach es aus mir heraus.

Kapitän Quinn sah mich verwundert an. Ausgerechnet von mir hatte er so eine Äußerung sicher nicht erwartet, immerhin kannte ich Mr. Big ja gar nicht. Nach kurzem Zögern stimmte er mir dann zu. »Absolut richtig – Nick hat unseren Kurs korrekt berechnet. Wir werden Mr. Bigs Hals aus der Schlinge ziehen. Aber erst morgen, solange musst du dich noch gedulden!«

***

Der Bote des Todes stand auf einem etwa zwei Meter hohen Holzpodest in der Mitte des Marktplatzes. Noch gab es außer diesem Galgen nichts, was darauf hinwies, dass hier in den nächsten Stunden ein Mensch in aller Öffentlichkeit sein Leben lassen sollte. Gleich nach dem Aufstehen waren wir hierher marschiert. Die Nacht hatten wir im Hotel Matrosenlager verbracht, wobei das Matrosenlager alles andere war als ein Hotel, Matrosenableger hätte zu diesem Stall besser gepasst. Nicht einmal einen Stern würde ich der Hotelbewertung geben. In der kleinen ausgedienten Lagerhalle gab es nichts weiter als eine Schicht trockenes Stroh auf sandigem Boden. Und ich hatte gedacht, dass meine Übernachtungsmöglichkeiten von Geschichte zu Geschichte komfortabler würden. Von wegen! Das hier war der absolute Tiefpunkt meiner Herbergen. Da war das Seilnest auf dem Schiff ja noch gemütlicher als diese Massenseeleutehaltung.

Aber eigentlich wollte ich doch etwas anderes erzählen, wo war ich gleich stehen geblieben? – Ach ja, auf dem Marktplatz direkt zwischen Kapitän Quinn, Bootsmann Mr. Donovan, dem Trommler Fredo, und vier weiteren Männern aus Quinns Mannschaft. Wir hatten eine gute Stunde Fußmarsch ins Inland hinter uns gebracht und sahen jetzt die Festung in den Hügeln thronen. Solide Steinhäuser umgaben uns, sie schirmten den Marktplatz zu allen Seiten ab. Es gab nur zwei Zugänge. Ein Tor war zwischen den Häusern eingelassen und gab die Straße zum Hafen frei, auf der anderen Seite führte ein Weg durch ein weiteres Tor unter einem Haus hindurch. Das war der Weg zur Festung. Doch den konnten wir uns sparen.

Nach und nach postierten sich Händler mit ihren Karren und Ständen auf dem Platz und priesen lauthals ihre Waren an: »Melonen!«, »Kerzen!«, »Feinste Stoffe!«, »Frische Fische!«, »Bestes Fleisch vom Ochs und Schwein!«, »Kokosnüsse!«, »Bananen!«, »Lampenöl!«.

»Da tut sich was«, bemerkte Mr. Donovan und zeigte auf einen Pferdekarren, der den Weg, der zur Festung führte, herunterkam. Bald danach passierte er den Torbogen und steuerte auf den Galgen zu, fuhr darunter und hielt so, dass sich die Ladefläche direkt unter der Falltür befand. Es war der Leichenwagen.

»Dann geht das Spektakel sicher gleich los. Also Männer, ihr wisst, was ihr zu tun habt«, sagte Kapitän Quinn, und Fredo verschwand mit den anderen in der Menschenmenge, die von Minute zu Minute größer wurde. Mr. Donovan und ich blieben beim Käpt’n.

Nach einer weiteren halben Stunde kam ein Trupp Soldaten, zwischen sich führten sie einen Gefangenen durch dasselbe Tor, das zuvor der Leichenkarren passiert hatte. Den Abschluss des Trupps bildeten acht Soldaten auf Pferden. Der Gefangene, ein dunkelhäutiger Hüne mit einem schwarz gekräuselten Kurzhaarschnitt und einem tiefschwarzen Bart, überragte die Soldaten um mindestens einen Kopf. Jeder Schritt brachte den Mann seinem sicheren Ende ein Stück näher. Die Marktbesucher bildeten für die Soldaten mit ihrem zum Tode Verurteilten eine Gasse. Sie wichen auseinander, je näher die Soldaten kamen, um gleich hinter dem Trupp die Gasse wieder zu schließen.

Die Reiter blieben am Tor zurück. An der Spitze des Trupps stolzierte ein Mann mit weißer Perücke und einem schwarzen Dreispitz mit Goldkante. Er trug eine elegante, mit Orden behängte Uniform. Die Händler verstummten.

»Der Mann vorne ist Admiral Benbow«, erklärte Kapitän Quinn. »Er ist pünktlich auf die Minute, ganz nach englischer Art. Zudem scheint er mächtig stolz auf den großen Hai zu sein, der ihm da ins Netz geschwommen ist.« Im selben Moment brüllte der stolze Haifischfänger auch schon: »Abteilung – halt!« Der Zug trampelte noch einmal auf der Stelle, dann verharrte er unbewegt vor der Treppe, die hinauf zum Galgenbaum führte.

»Kommen Sie, Mr. Donovan, es wird allerhöchste Zeit für uns«, sagte Kapitän Quinn, »und du, Nick, weißt, was du zu tun hast!«

»Aye, aye, Sir!«

Die beiden tauchten ebenfalls in der Menge unter und ließen mich zurück.

Admiral Benbow betrat als Erster die Treppe, die zum Galgen hinaufführte. Als er oben angelangt war, folgten ihm zwei Soldaten, die den Gefangenen vor sich hertrieben. Die übrigen sechs Soldaten postierten sich unten um das Podest herum. Die Schaulustigen waren mucksmäuschenstill, als ob sie einem spannenden Theaterstück lauschten.

»Korporal!«, brüllte der Admiral.

»Zur Stelle, Herr Admiral!«, sagte einer der Soldaten oben auf dem Podest und nahm vor seinem Vorgesetzten Haltung an.

»Korporal, die Falltür!«, befahl Admiral Benbow.

»Jawohl, Sir!«, erwiderte der Mann, stellte sich stramm vor einem Hebel auf, als salutierte er vor seinem Vorgesetzten. Seine rechte Hand umschloss den etwa einen Meter aus dem Podest herausragenden Holzgriff. Mit einem Ruck zog er daran, die zweigeteilte Klappe im Boden fiel geräuschvoll nach unten und pendelte an ihren Scharnieren. »Herr Admiral, melde: Falltür voll funktionstüchtig!«

Meint der etwa, das hat der Admiral nicht mitbekommen?

Der Admiral schien sich sehr über diese Tatsache zu freuen. Ganz im Gegensatz zu Mr. Big. Der Arme hatte ja keine Ahnung, dass seine Freunde und ich in der Nähe waren, und einen Plan hatten, der ihn hoffentlich vor diesem Schicksal bewahren würde. Zwei Soldaten eilten unter das Podest, sprangen auf die Ladefläche der Kutsche, wuchteten die Klappen wieder hoch und sicherten sie mit zwei kräftigen Stahlriegeln, die über ein Seil mit dem Hebel verbunden waren.

Jetzt wurde es ernst. Mr. Big wurde unter die Henkersschlinge geführt, die ihm die beiden Soldaten in aller Ruhe um den Hals legten. Seine goldenen Ohrringe blitzten in der Morgensonne. Als Nächstes übergab der Admiral dem Korporal eine Schriftrolle, der Korporal öffnete sie und verkündete lautstark:

»Im Namen seiner Majestät König Jakob dem Zweiten von England ergeht folgendes Urteil: Der Freibeuter, den man Mr. Big nennt, wird hier wegen zahlreicher Vergehen gegen die Gesetze des Königs zum Tode durch den Strang verurteilt.« Er rollte das Schriftstück zusammen, übergab es seinem Kollegen und postierte sich wieder neben dem Hebel. Wegen zahlreicher Vergehen? Geht’s nicht noch etwas genauer?

Der Admiral baute sich vor dem Verurteilten auf und fragte ihn: »Möchten Sie noch etwas sagen?«

»Nein, aber ich habe noch etwas vergessen.«

»So, was wäre das denn? Jetzt ist es schon reichlich spät, um noch etwas zu erledigen oder zu holen.«

»Schade, denn eigentlich wollte ich Ihnen noch einmal kräftig in den Arsch treten!«, sagte Mr. Big und grinste. Die Schaulustigen, die direkt am Galgenpodest standen, lachten lauthals los.

»Das wäre dann wohl alles«, meinte der Admiral, ohne sich provozieren zu lassen. Er stolzierte auf die andere Seite des Podestes. Das Lachen der Menge verstummte abrupt, als zwei uniformierte Männer mit jeweils einer Blechtrommel um den Hals die Treppe hinaufstiegen und sich ebenfalls auf dem Podest postierten. Der Admiral verkündete: »Kraft meines mir verliehenen Amtes lasse ich jetzt das Urteil vollstrecken.«

Er hob den rechten Arm, ein Trommelwirbel setzte ein, der Korporal umschloss zum zweiten Mal mit der rechten Hand den todbringenden Hebel und schaute stur geradeaus, über die zahlreichen Köpfe hinweg. Sobald der Admiral seinen Arm senkte, würden die Trommeln verstummen, und er würde erneut den Hebel betätigen. So die Reihenfolge dieser todbringenden Zeremonie.

***

Ruckartig ließ der Admiral den Arm fallen und die Kettenreaktion wurde eingeleitet. Doch es war nicht die einzige Kettenreaktion, die dadurch ausgelöst wurde. Im selben Moment zog ein Trommler seinen Säbel, während der andere noch für einige Sekunden weiter die Blechtrommel bearbeitete. Kapitän Quinn, der Trommler mit dem Säbel, stieß den Korporal beiseite und hieb mit der Klinge den Henkersstrick durch. Mr. Big zögerte nicht lange und trat dem schräg vor ihm stehenden Admiral in den Hintern, woraufhin dieser vom Galgenpodest in die Menschenmenge stürzte. Der zweite Trommler war Mr. Donovan. Während Kapitän Quinn den Korporal vom Podest katapultierte, knockte er den verdutzt dreinblickenden zweiten Soldaten aus und betätigte den diesmal freiheitsbringenden Hebel. Die Falltür sauste nach unten und Mr. Big, Kapitän Quinn und Mr. Donovan sprangen quicklebendig durch das Loch im Boden auf den Leichenwagen.

Ich saß schon auf dem Kutschbock und wartete. Den Kutscher hatte ich zuvor dazu überredet, mir seinen Platz zu überlassen. So etwas lernte man vom Käpt’n. Ihr fragt euch jetzt vielleicht, warum die anderen Soldaten, die hier um den Galgen postiert waren, nicht eingriffen. Die waren von Fredo und den anderen Kameraden beim Aussetzen des Trommelwirbels – wie sagt man da? – schachmatt gesetzt worden. Verblüfft wie sie waren, hatten sie kaum Widerstand geleistet, denn dass ein Deliquent vom Galgen flüchtete, das hatte es hier laut Aussage von Mr. Donovan noch nie gegeben. Somit waren sie eigentlich nur Dekoration und nicht auf einen Einsatz vorbereitet. Fredo und seine Helfer hatten sich wie besprochen danach schleunigst aus dem Staub gemacht. Und was die echten Trommler anging, so hatten der Käpt’n und Mr. Donovan diese kurz vor ihrem Eintreffen abgefangen und überwältigt, dann gut verschnürt und in ihrer Unterwäsche auf einem Hinterhof zurückgelassen.

Dass die Trommler als Nachzügler kommen würden hatten wir beim Ausbaldowern unseres Planes in Erfahrung gebracht, als wir ein Gespräch im Goldenen Anker zwischen zwei Soldaten belauschten, die über die Hinrichtung sprachen und dabei die zwei Neuen, die sie selber auch noch nicht zu Gesicht bekommen hatten, erwähnten. Diese neuen Rekruten waren gleich als Nachtwache eingeteilt worden und mussten diesen Dienst bis kurz vor der Hinrichtung ausführen. So kamen sie zu unserem Glück getrennt von den anderen. Und da sie erst ein paar Tage in der Festung von Kordina waren, hofften wir, dass der Admiral und seine Henker sie noch nicht kannten und so der Austausch nicht gleich auffallen würde. Doch zurück zum Geschehen.

»Also los, ab geht die Fahrt!«, rief Kapitän Quinn, der sich neben mich gesetzt hatte und die Zügel an sich nahm. Er trieb die Pferde an, die aus dem Stand heraus angaloppierten. Die Menschen vor uns sprangen beiseite und wir jagten ungehindert aus der Stadt.

Ich schaute nach hinten und beobachtete, wie sich die berittenen Soldaten durch die Menge wühlten, die allerdings unseren Verfolgern nicht so bereitwillig den Weg frei machte wie uns. Für die Leute war das Ganze eine Riesenattraktion. Auch wenn sie eine Hinrichtung nicht verpassen wollten – dieses Spektakel begeisterte sie noch mehr.

Rasant ging es aus der Stadt hinaus, vorbei an Palmenwäldern und Bananenbäumen in Richtung Hafen. Wie gut, dass es hier noch keine Telekommunikation gab, sonst hätte die Hafenpolizei sicher schon auf uns gewartet. Während ich ordentlich durchgeschüttelt wurde, drehte ich mich nach hinten um und konnte Mr. Big etwas genauer betrachten. Seine großen Goldohrringe mussten ein ganz schönes Gewicht haben, denn die Ohrlöcher waren schon ziemlich ausgeleiert. Seinen gewaltigen tiefschwarzen Oberkörper bedeckte nur eine Lederweste. Dann öffnete er den Mund und heraus strömte eine tiefe Bassstimme, die da dröhnte:

»Käpt’n! Wir kriegen Gesellschaft!« Und tatsächlich, die Soldaten hatten es geschafft, sich aus der Menschenbarrikade zu befreien, und waren uns dicht auf den Rädern.

»Keine Sorge, mein Freund, wir haben an alles gedacht. Macht euch bereit, gleich sind wir an der Stelle, von der ich euch erzählt habe«, rief Kapitän Quinn.

»Mir hat niemand etwas erzählt!«, protestierte Mr. Big.

Bei der Stelle, von der Mr. Big nichts wusste, handelte es sich um ein ... nein, um das Detail unseres Planes, das mir überhaupt nicht gefiel. Aber es war die einzige Möglichkeit, unsere Verfolger loszuwerden, die immer dichter an uns heranrückten. Ein Pferd mit einem PS ist halt schneller als zwei Pferde, die einen Karren mit drei ausgewachsenen Männern und einem Mr. Big ziehen mussten.

»Das ist auch nicht so wichtig«, erwiderte Kapitän Quinn, »tu einfach nur, was wir machen.«

Was wir machen? Am liebsten anhalten und fragen, ob die Kerle so gütig wären, uns eine Stunde Vorsprung zu gewähren.

Wir preschten noch ein paar Meter weiter, bis der Käpt’n »Es geht los!« rief. Damit war der Moment, vor dem ich schon den ganzen Morgen Bammel hatte, gekommen. Quinn ließ die Zügel fallen, entfernte den Haltebolzen der Deichsel, und die Pferde galoppierten ohne uns weiter. Die Deichsel am Boden hinter sich herziehend, folgten sie dem Weg, der an dieser Stelle in einem rechten Winkel abknickte. Der Karren raste dagegen geradeaus, direkt auf die Steilküste zu, und schon sausten wir über die Klippe.

Na super! So mussten sich die beiden kleinen Mäuse in ihrer Sardinenbüchse gefühlt haben, als sie schutzlos den Flugkünsten von Orville dem Albatros ausgesetzt waren.

Es war ganz still, kein Rattern und Rumpeln mehr. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Kutsche in der Luft zu stehen. Dann machte es zisch – nein, wir verloren keine Luft aus den Rädern – wir sausten mit einer irren Geschwindigkeit in die Tiefe. Das Meer wuchs uns rasant entgegen. Wir zögerten keinen Wimpernschlag länger und sprangen vom Karren ab – so weit weg, wie wir konnten, jeder in eine andere Richtung. Schon krachte die Kutsche mit einem gewaltigen Platsch auf die blaue ruhige See. Wir hingegen tauchten sanft hinein gluck, gluck, gluck, gluck. Im synchronen Turmspringen reichte leider die Punktzahl nicht aus, um eine Medaille zu erhaschen, aber in der Einzelwertung hätte ich jedem von uns eine verdiente Zehn zugestanden.

»Na, was sagst du, mein Freund? War das eine gelungene Befreiung oder nicht?«, rief Kapitän Quinn in Richtung Mr. Big, als unsere Köpfe wieder an der Wasseroberfläche auftauchten.

»Keinen Augenblick zu spät! Nächstes Mal lass mich nicht so lange zappeln.«

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22 декабря 2023
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9783981431384
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