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Nachdenken über Nähe und Distanz

Maria Selig / Roland Schmidt-Riese

Unser Beitrag möchte Chancen diskutieren, mit dem von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entworfenen Nähe-Distanz-Kontinuum auch in Zukunft zu arbeiten. Er konzentriert sich dabei auf die Unterscheidung zwischen kommunikativer Nähe und Distanz, sowie auf einige weitere Konzepte der Autoren, die dieser Unterscheidung zugrunde liegen. Wir sehen uns zu diesem Unternehmen zum einen durch Erfahrungen in der romanistischen Lehre ermutigt – den Studierenden scheint das Modell attraktiv und erklärungsmächtig. Zum anderen fordert die sprachtheoretische Tiefe, auf die das Modell selbst rekurriert, die intensive Auseinandersetzung und den kritisch-reflektierten Zugang geradezu heraus. Wir bedauern, unsere Überlegungen nicht mehr mit den Autoren des Nähe-Distanz-Kontinuums teilen zu können. Wir sehen uns aber durch eine biographisch fundierte Loyalität ihnen gegenüber legitimiert, auch kritische Positionen zu beziehen und das Modell weiterzuentwickeln.

Die Diskussion wird insgesamt darauf hinausgehen, determinierende Annahmen des Modells zu diskutieren, sie zu schwächen oder gegebenenfalls auch zu stärken, um ihre Adäquation zu erhöhen. Ferner darauf, Annahmen des Modells je für sich und ohne Rücksicht auf andere Annahmen, mit denen sie in Verbindung stehen, zu diskutieren. Wir verbinden damit den Gedanken, dass eine ‚Modularisierung‘ des Nähe-Distanz-Kontinuums die Chance bietet, dessen Potenzial auch dann noch entfalten zu können, wenn bestimmte, unserer Meinung nach reduktive Theorieelemente zurückgewiesen werden. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen als der Versuch zu verstehen, das Modell im Spannungsfeld zwischen aktuellen mediendeterminierten oder medienaffinen Ansätzen und älteren, klassisch gewordenen pragmatisch-funktionalen Ansätzen neu zu situieren und auf diese Weise seine Aktualität unter Beweis zu stellen. Die Autorin und der Autor ind skeptisch in Bezug auf die weit verbreitete Überzeugung, der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte habe frühere Annahmen der Sprachtheorie insgesamt obsolet werden lassen (siehe auch Maas 2016: 89).

1 Sprachliche Kommunikation – zwischen Bruch und Kontinuum

Die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und von gesprochener und geschriebener Sprache beruht auf der Beobachtung eines manifesten Kontrasts. Das, was man den Exterioritätstypus des sprachlichen Zeichens nennen könnte, also seine phonisch-auditive vs. seine graphisch-visuelle Materialität und die mit dieser Materialität verknüpften Produktions- und Rezeptionsbedingungen, eröffnet zwei Phänomenbereiche sprachlicher Kommunikation, die sich unvereinbar gegenüberzustehen scheinen. Gleichzeitig scheint mit diesem medialen Bruch ein evidenter Kontrast zwischen kommunikativen Praktiken und kommunikativen Kompetenzen verbunden zu sein. Schreiben und Lesen sind kulturelle Techniken, die anders erlernt werden müssen als die körperlichen Dynamiken der Phonation und des Hörens; mindestens ebenso wichtig dürfte der Kontrast zwischen den kommunikativen Domänen sein, die wir mit den Exterioritätstypen assoziieren, auch wenn die digitale Schriftlichkeit im Netz diese Differenz gerade einzuebnen scheint. Um eine Metapher zu bemühen: Mündlichkeit und Schriftlichkeit erscheinen wie zwei kommunikative Plateaus, die durch die mediale Differenz wie durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Man muss nicht lange suchen in den zahlreichen Texten, die die (sprachliche) Medialität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu Kommunikation, Wissen, Normen und Sozialität stellen. In dieser jahrtausendealten Debatte sind Stimme und Schrift in aller Regel unvereinbare Gegensätze, Gegensätze, die zur Parteinahme auffordern, gegen die Schrift als zerstörerischen Eindringling in authentische Verständigung oder gegen die Stimme als überwundene Frühstufe in einer kognitiv-kommunikativen Erfolgsgeschichte.1

Dass der Gegensatz nicht so abgrundtief ist, dass sich Brücken ergeben, die diesen Abgrund überspannen, scheint man aber auch immer irgendwie gewusst zu haben. Letztendlich ist ja die Sprache die Brücke, denn diesseits und jenseits der medialen Dichotomie werden offenbar identische sprachliche Formen mit offenbar identischer Bedeutung verwendet, Formen, die man also in beide Richtungen über die Brücken schicken kann, von der Phonie in die Graphie und zurück. Es sollte uns zu denken geben, dass der (mediale) Abgrund zunächst, vor der Professionalisierung der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert, von den Philosophen angesprochen wurde, während die Grammatiktradition die sprachlichen Zeichen (von der Schrift aus) als medienunabhängige Entitäten konzipierte und die Brücken, den Transfer von einem Medium in das andere, dabei als selbstverständlich voraussetzte.

Wir können die Geschichte der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsdebatte hier nicht weitererzählen. Wir müssen aber auf sie verweisen, denn Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben sich mehrfach auf sie bezogen. Der Medialitätsdiskurs der Sprachwissenschaft, aber auch der kultur- und sozialwissenschaftliche, erscheinen bereits im grundlegenden Manifest von 1986 (Koch/Oesterreicher 1985) als Hintergrund, vor dem sich ihre theoretischen Präzisierungen und ihre terminologischen Vorschläge abzeichnen sollen. Der Hintergrund, das ist also das nahezu verfahrene Wechselspiel zwischen den beiden Polen der Diskussion: auf der einen Seite die Denker*innen, die Medialität in ihr Denken integrieren und ihr einen wichtigen Platz im kommunikativen Handeln geben möchten, gleichzeitig aber die mediale Dichotomie immer mehr festzurren und die Brücken unpassierbar machen; auf der anderen Seite diejenigen, die das Gemeinsame auf beiden Seiten der medialen Dichotomie sehen, aber gleichzeitig Medialität als arbiträr einstufen und damit wesentliche Aspekte sprachlicher (und kulturell-sozialer) Variation unsichtbar machen.

Wir alle wissen, wie es weitergegangen ist. Peter Koch und Wulf Oesterreicher setzen sich radikal vom Medium ab und fokussieren, anstelle des Gegensatzes graphisch/phonisch, die Konzeption, ein „multiples Spektrum unversöhnter Gegensätze“ (Feilke 2016: 120), das erst in einem zweiten Schritt durch die umfassende Generalmetapher von Nähe und Distanz zusammengeschlossen wird. Die beiden Terme sind konträr, aber nicht kontradiktorisch, sie spannen also bereits in ihrer wechselseitigen Implikation ein Kontinuum auf (siehe Feilke 2016: 123). Dieses Kontinuum nachzuweisen, also den Übergang, die Durchlässigkeit zwischen den kommunikativen Räumen, die die Medialitäten abgrenzen, nachzuweisen, war eine zentrale Intention der Autoren. Sie sind deshalb an der Konzeption erkennbar stärker interessiert als an dem, was sie Medium nennen, am Gegensatz von Graphie und Phonie. Gleichzeitig dominiert der Wunsch, das Medienunabhängige der im Kontinuum modellierten kommunikativen Variation sichtbar zu machen. Die mediale Dimension gerät deshalb ins Hintertreffen, man könnte sagen, willentlich, weil die ganze Energie darauf konzentriert ist, das Bild der beiden, durch den medialen Abgrund getrennten Plateaus durch das Bild des Kontinuums, der Möglichkeit eines bruchlosen Übergangs von der Nähe zur Distanz, zu überblenden.

Es gibt klare sachliche Gründe für die Zurückweisung des dichotomischen Denkens. Eines der zentralen Argumente von Peter Koch und Wulf Oesterreicher für die Fokussierung der sprachlichen Konzeption (auf Kosten der Fokussierung der technischen Realisation der sprachlichen Formen) ist die Beobachtung, dass die Unterscheidung von kommunikativer Nähe und Distanz auch in schriftlosen Kulturen gegeben ist. Rituelles und poetisches Sprechen ist, so die Annahme, in allen menschlichen Kulturen vom Alltagssprechen abgehoben und in den verwendeten sprachlichen Formen unterschieden. Diese Annahme scheint uns plausibel, selbst wenn die Unterschiede verschieden groß sein mögen. Für die Autoren ist ferner entscheidend, dass nicht nur die sprachlichen Formen zwischen Ritual, Poesie und Alltag variieren, sondern eben auch die kommunikativen Rahmensetzungen. Auch dieses Argument scheint uns evident, weil eine Variation aufscheint, die ganz klar medienunabhängig ist und anthropologisch in der Tatsache verankert zu sein scheint, dass die unterschiedlichen Bereiche sprachlichen Handelns von Anfang an, vor jeder medialen Weiterentwicklung, spezifische Bedingungen für das sprachliche Handeln setzen.

Nur stellt sich in der gerade skizzierten Perspektive die Erfindung der Schrift unvermutet als trivial dar – als eine Erfindung, die die Bedingungen menschlicher Kommunikation nicht wesentlich, sondern eben nur quantitativ verschoben hätte, in Richtung auf eine bequemere Handhabbarkeit der Distanz, auf eine distanziertere Distanz. Dies scheint uns wenig überzeugend. Die Erfindung der Schrift schafft nie dagewesene Bedingungen für die Sprache. Ihre Wirkmächtigkeit in historischer Hinsicht, die Bedeutung der Entwicklung von Schriftkulturen, die ganz anders geartete Möglichkeit zur Distanzierung des*der Schreiber*in vom Kommunikat und die damit einhergehenden Möglichkeiten zu dessen Ausgestaltung werden übrigens von Peter Koch und Wulf Oesterreicher niemals bestritten, sondern in Passagen zur Geschichte der Kommunikation überdeutlich herausgestellt. Ihre Überlegungen zur romanischen Sprachgeschichte und zu Ausbau- und Überdachungsprozessen (siehe etwa Koch/Oesterreicher 2011: 135–154, 183–196, 223–236) zeigen immer wieder, dass für sie die von der Schrift eröffneten Möglichkeiten, etwa die veränderten Wahrnehmungs- und Kontrollmöglichkeiten oder die Möglichkeiten der Archivierung oder Zentralisierung, entscheidende Faktoren der historischen Entwicklungen sind.

Für die Formulierung der theoretischen Grundlagen und für die Entwicklung des Modells scheinen diese historischen Einsichten aber nicht zu gelten. Hier schließen sich die Autoren der Denktradition an, die den Exteriorisierungstypus als kontingent betrachtet und die Brücke der Transkodierung zwischen den beiden Räumen fokussiert. Mit diesem Schulterschluss ist dann leider aber ein begrifflicher Kurzschluss verbunden: Das mediale Substrat kann in der Tat ausgetauscht werden, aber nur dann, wenn Medialität ausschließlich am – autonom zu denkenden – Zeichenkörper verankert wird. Die Medialität des Formulierens, der Spracharbeit, der kommunikativen Interaktion, ist dagegen nicht austauschbar. Beide Medialitäten sind möglich, aber wenn wir kontrollieren, was mit den Formen im jeweils anderen medialen Raum, auf dem jeweils gegenüberliegenden Plateau passiert, kann von Austauschbarkeit nicht mehr die Rede sein. Medialität ist im Modell von Koch und Oesterreicher sekundär, ja letztendlich zu vernachlässigen. Das Verhältnis zwischen Exterioritätstypen und den sprachlichen Strukturen zwischen Nähe und Distanz haben sie mit dem Begriff der Affinitäten beschrieben. Das ist natürlich nicht falsch, aber es bleibt unbefriedigend. Es erscheint als eine zu schwache Annahme. Die Affinitäten kommen als eine empirisch beobachtbare Größe daher, für deren Annahme es kein theoretisches Fundament gibt, die folglich ebenso gut nicht gegeben sein könnten. Dies erscheint uns als reduktionistisch und wir wollen hier dagegen argumentieren. Wir wollen die historische Tragweite der Schrift, also des Exteriorisierungstyps und der mit ihm verbundenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, im Modell klar zum Ausdruck bringen. In der schematischen Darstellung von Koch und Oesterreicher dominiert der Gedanke der bloßen Affinität von Exterioritätstypus und Konzeption, und diese Vereinfachung macht das Modell auch so leicht lesbar. Wie aber ist das Modell zu lesen, wenn die Medialität und die mit ihr zusammenhängende kommunikative Variation mitgedacht werden?

2 Konzeptionelle Variation: die kommunikativen Parameter

Was Nähe und Distanz trennt und verbindet, sind nach Koch und Oesterreicher variierende Bedingungen der Kommunikation und damit verknüpfte variierende sprachliche Techniken. Auf das genaue Verhältnis zwischen situativen Bedingungen und sprachlichen Konsequenzen kommen wir später noch zu sprechen. Hier soll es zunächst nur um die Mehrdimensionalität der kommunikativen Variation gehen. Denn mit der Distanzierung von der Medialität war auch der Schritt von der eindimensionalen Gegenüberstellung zweier Exterioritätstypen zu einem mehrdimensionalen kommunikativen Variationskontinuum verbunden. Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben in ihrem 1986 erschienenen Aufsatz zehn Parameter formuliert, Variationsdimensionen, die die Variation ordnen und Parameterwerte zwischen Nähe und Distanz bestimmen. Das Inventar haben sie später kaum mehr verändert. Das Zeichen der Unabgeschlossenheit „etc.“ begleitete zwar von Anfang an dieses Inventar (Koch/Oesterreicher 1985: 23; siehe auch Oesterreicher/Koch 2016: 24), aber die Frage der Auswahl, des Umfangs und der internen Relationierung der Parameter wurde nie ausführlich thematisiert. Es entstand schnell der Eindruck, die Bestandsaufnahme der situativen Seite des Modells sei abgeschlossen und in der vorgeschlagenen Form nicht weiter zu begründen.

Diskussionsbedarf bestand und besteht aber durchaus. Wie verhält es sich beispielsweise mit dem Parameter der „face-to-face-Interaktion/raum-zeitliche Trennung“ (Koch/Oesterreicher 1985: 23) bzw. der „physischen Nähe/Distanz der Kommunikationspartner“ (Koch/Oesterreicher 2011: 7; Oesterreicher/Koch 2016: 24)? Klar war von Anfang an, dass es sich in diesem Fall nur um ein Entweder-Oder handeln konnte, und dass somit jeder Gedanke an eine graduelle Variation ausgeschlossen war (Koch/Oesterreicher 2011: 7; Oesterreicher/Koch 2016: 24–25). Außerdem – und das wurde in der Rezeption des Modells in der Germanistik immer wieder herausgestellt – war der Parameter unmittelbar mit der medialen Dichotomie verknüpft. Vielleicht könnten wir sogar sagen, dass die Autoren in der scheinbar sorglosen Verwendung dieses (annähernd) dichotomischen Parameters bei der Beschreibung der Konzeption unbemerkt in eine Beschreibung der Bedingungen dessen wechseln, was sie Medium nennen, den Gegensatz von Graphie und Phonie. Der Parameter der physischen Nähe/Distanz bleibt in jedem Falle sperrig und er scheint auch gar nicht zu den anderen Parametern zu passen, weil er in den Diagrammen, mit denen die kommunikativen Bedingungen der einzelnen Texttypen1 als Konstellationen zusammengefasst werden, regelmäßig für wilde Ausschläge nach rechts oder links sorgt, die dem Bild eines kommunikativen Kontinuums so gar nicht entsprechen wollen (Koch/Oesterreicher 2011: 8–9).

Diese Diskussion könnte man noch unter dem Stichwort der fehlenden Ausarbeitung der Medialität verbuchen. Ganz anders und viel grundsätzlicher muss aber die Kritik an der additiven Reihung der Parameter eingestuft werden. Es kann der Eindruck entstehen, Koch und Oesterreicher hätten eine Liste zusammengestellt, die „eine Gleichheit der einzelnen Kommunikationsbedingungen […] suggeriert“, obwohl ein hierarchisiertes Modell mit klarer Gewichtung der einzelnen Parameter notwendig wäre (Ágel/Hennig 2007: 183). Koch und Oesterreicher geben in ihrer Monographie zur gesprochenen Sprache in der Romania eine knappe Begründung der Parameterwahl (siehe Koch/Oesterreicher 2011: 6). Sie benennen die „wichtigsten Instanzen und Faktoren der sprachlichen Kommunikation“, eine Auflistung der Instanzen, wie wir sie aus gängigen Kommunikationsmodellen kennen (Produzent*in, Rezipient*in, Diskurs/Text, Gegenstände/Sachverhalte); darüber hinaus geben sie auch eine kondensierte Beschreibung der „schwierigen Formulierungsaufgabe“, die „im Spannungsfeld zwischen der Linearität sprachlicher Zeichen, den Vorgaben der Einzelsprache und der komplexen, vieldimensionalen außersprachlichen Wirklichkeit [steht]“. Der nächste Satz macht noch einmal die Fokussierung der Versprachlichungsanforderungen deutlich, die im Zentrum des Nähe-Distanz-Kontinuums steht: „Produzent und Rezipient sind eingebunden in personale, räumliche und zeitliche Zeigfelder (Deixis), in bestimmte Kontexte und in bestimmte emotionale und soziale Bezüge.“ (Koch/Oesterreicher 2011: 6). Es gibt also durchaus theoretische Überlegungen zur Herleitung der Parameter. Die Frage, ob die „ungeordnete Menge“ (Hennig 2006: 74) in hierarchische Strukturen umgedeutet werden sollte, wird aber durch diese Trennung von Instanzen der Kommunikation, darauf zu beziehenden Kommunikationsbedingungen, den allgemeinen Bedingungen der sprachlichen Formulierungsarbeit und den wiederum darauf zu beziehenden Versprachlichungsstrategien selbstverständlich nicht beantwortet.

Auch die unterschiedlichen Bezugsbereiche der Parameter riefen und rufen immer wieder Kritik hervor (siehe Feilke 2016: 125, Anm. 2). Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben selbst eine thematische Gruppierung der Parameter vorgeschlagen und den Parameter f) als „physische Nähe/Distanz“, die Parameter a)–d) und g) und h) als „soziale Nähe/Distanz“, den Parameter e) dagegen als „referentielle Nähe/Distanz“ eingeordnet (Koch/Oesterreicher 2011: 10). Wir selbst gehen von folgenden Zuordnungen aus (die Benennung der Parameter folgt Oesterreicher/Koch 2016: 24; es sind jeweils nur die Nähewerte eingetragen; siehe auch Selig i.Dr.):


a) Privatheit b) Vertrautheit c) Emotionalität soziale (emotive) Bedingtheiten: Relation der Kommunikationspartner*innen
d) Situations- und Handlungseinbettung e) referentielle Nähe kognitive Bedingtheiten: Verschränkung zwischen Kommunikat und Sprechsituation
f) physische Nähe
g) Kooperation h) Dialogizität prozessuale Bedingtheiten: Interaktivität der Versprachlichung
i) Spontaneität j) freie Themenentwicklung prozessuale Bedingtheiten: Planungsmöglichkeiten und Grad der Fokussierung der Textualität

Tab. 1:

Gruppierung der Parameter nach Bezugsbereichen

Selbstverständlich bedingt eine Gruppierung, wie in Tab. 1 vorgeschlagen, auch Verkürzungen. Die Subsumtion der Vertrautheit unter die Emotivität ist insoweit nicht uneingeschränkt gerechtfertigt, als dieser Parameter b) im Nähe-Distanz-Kontinuum teilweise auch auf die Quantität und Qualität der geteilten Wissenskontexte abgestellt ist, die unmittelbar kognitiv relevant sind (siehe Koch/Oesterreicher 2011: 7). Auch der Parameter h) ist bei Koch und Oesterreicher doppelt ausgerichtet, weil er einerseits „die Möglichkeit und Häufigkeit einer spontanen Übernahme der Produzentenrolle“ erfasst, andererseits aber auch auf den Grad und die Art der „‚Partnerzuwendung‘“ abstellen soll (Koch/Oesterreicher 2011: 7); er kombiniert also kognitive und sozial-emotive Aspekte. Auch die inhaltliche Zuordnung dürfte nicht immer konsensfähig sein, beispielsweise wenn wir vorschlagen, Parameter i) und j) in erster Linie mit der Möglichkeit und Notwendigkeit der Konzentration auf die sprachliche Kommunikation und die Erstellung eines in sich konsistenten Textes in Verbindung zu bringen. Insgesamt aber wird, so meinen wir, deutlich sichtbar, dass die Parameter einerseits in einem sozial-emotiven Bereich situiert sind, der die variable Gestaltung der interpersonalen Voraussetzungen und Zielsetzungen anbetrifft, andererseits in einem Bereich, der die kognitiven und prozessualen Rahmenbedingungen der Formulierungsarbeit umfasst.

In der Rezeption des Nähe-Distanz-Kontinuums in der Germanistik wurde nun gerade die Verknüpfung sozialer und kognitiver Dimensionen der Variation als auffällig, teilweise sogar als unberechtigt eingestuft. Im Modell von Ágel und Hennig beispielsweise (siehe Ágel/Hennig 2006) sind die sozial-emotiven Parameter nicht berücksichtigt, weil, so die Begründung, die Konzentration auf die grammatischen Aspekte der Nähe-Distanz-Unterscheidung die Entscheidung für einen engen Begriff der situativen Bedingungen notwendig mache (siehe dazu etwa Hennig 2006: 74–­75). Auch Roland Kehrein und Hanna Fischer folgen dieser Ausgliederung der sozial-emotiven Dimension (siehe Kehrein/Fischer 2016). Sie führen empirische Daten an, die belegen, dass der Dialektalitätsgrad bei der Variation zwischen den Textsorten „persönliches Gespräch“ und „Interview“ offensichtlich eher von sozial-identifikatorischen Faktoren bestimmt wird als von den von Ágel und Hennig vorgeschlagenen (prozessualen) Kriterien der Nähesprachlichkeit. Sie folgern daraus, dass die sozial-emotiven Dimensionen für die Modellierung einer eigenständigen Ebene mit den Polen der „interindividuell-sozialen Vertrautheit“ vs. „Fremdheit“ bzw. der „Sprache der Vertrautheit“ vs. „Fremdheit“ genutzt werden sollten (Kehrein/Fischer 2016: 245–252). Andere Ansätze betonen die Notwendigkeit, „sozial-kulturelle Dimensionen gesellschaftlicher Kommunikation und kognitiv-konzeptionelle Dimensionen getrennt in den Blick zu nehmen“ (Knobloch 2016: 81). Die Rezeption betonte andererseits aber auch, dass es gerade das Einbeziehen der sozial-emotiven Dimension ist, die das Spezifische des Nähe-Distanz-Kontinuums ausmacht. Und wir sollten nicht vergessen, dass sich ein großer Teil der intuitiven Kraft des Modells daraus ergibt, dass die Generalmetapher der Nähe und Distanz in erster Linie sozial-emotive Konnotationen hervorruft und gerade hier mit der Gegenüberstellung der beiden komplementären Pole überzeugen kann.2

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9783823302605
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