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Im Exil weitete sich das Blickfeld von Joseph Görres auf Europa aus. In nur 27 Tagen verfasste er seine Schrift „Europa und die Revolution“ (1821). Es ist die wahrscheinlich bedeutendste und tiefsinnigste seiner politischen Schriften. In ihr hielt er Europa das politische Elend seines gegenwärtigen Zustands in einer an das Alte Testament erinnernden Sprache vor Augen. Erneuerung und Wiedergeburt vermögen die Staaten nur durch innere Festigung erreichen. Ein lebensfähiger und zukunftsfester Staat gelinge nur auf der Grundlage der Religion, die – verkörpert in der Kirche – allein den Völkern Europas geistige und politische Freiheit sichern könne.17 Auch dieser Schrift wurde die Ehre zuteil, von der preußischen Regierung verboten zu werden mit dem Argument, sie gefährde die Monarchie. Aber Görres ließ sich nicht entmutigen. Schon im nächsten Jahr erschienen neue Veröffentlichungen, in denen er die erdrückenden Folgen der Restauration für die Freiheitsrechte nach dem Wiener Kongress darlegte.

Schon während seiner Arbeit am „Rheinischen Merkur“ hatte Görres seinen Frieden mit der katholischen Kirche gemacht, vorbereitet auch durch seine historischen und mythologischen Studien. 1824 kehrte er mit seiner Familie auch formell in die Kirche zurück, ließ sich kirchlich trauen und entwickelte ein lebhaftes Interesse an theologischen und kirchenpolitischen Fragestellungen.

V.

Im Herbst 1827 erhielt Joseph Görres einen Ruf an die Münchner Universität. Er nahm ihn an und konnte so ehrenvoll nach Deutschland zurückkehren. König Ludwig I. von Bayern hatte sich mit dieser Berufung allen preußischen Einwänden widersetzt. Zu Beginn seiner Regierung war Ludwig I. ein äußerst reformfreudiger Monarch und hatte eine Verlegung der altbayerischen Universität Landshut in die bayerische Hauptstadt verfügt. Er wollte so eine Chance für einen organisatorischen, ideellen und personellen Neuaufbau eröffnen. Der Ruf an Görres zum Wintersemester 1827/28 war trotz der Sparpolitik des Königs zustande gekommen, um mit dem „genialen Görres“ der Münchner Universität Anziehungskraft auf die akademische Jugend zu verschaffen. Sein universalistischer Wissenschaftsgeist, sein hohes Bildungsethos und seine ausstrahlende geistige Potenz sollten möglichst viele Hörer anlocken. Nicht zuletzt wurde die Universität mit der Hoffnung konfrontiert, dass Görres „der christlichen katholischen Richtung ein entschiedenes Übergewicht“ verschaffen sollte.18

Görres wurde der Lehrauftrag erteilt für „Allgemeine und Litteratärgeschichte“. Heimisch wurde Görres in München nicht, zu tief war seine rheinische Verwurzelung. Aber er avancierte bald zur Zentralfigur eines Kreises. Hatte er zuvor in Heidelberg die Romantiker um sich versammelt, so wurde er in München zum Mittelpunkt eines kirchenpolitischen Engagements für eine Erneuerung des katholischen Deutschlands. Dieser Kreis von katholischen Gelehrten hatte schon den Ruf von Görres nach München begrüßt und versuchte, das Übergewicht der aufklärerischen protestantischen Wissenschaft und des weltanschaulichen Liberalismus auszutarieren. Zu diesem Kreis gehörten der Philosoph Franz Baader, der Theologe Ignaz Döllinger, der spätere Bischof von Eichstätt Georg von Öttl und der spätere Bischof von Regensburg, Franz Xaver von Schwäbl.

Diese Persönlichkeiten fanden sich zu regelmäßigen Treffen in einem Lokal und bildeten den Kern einer Mannschaft, die sich – verstärkt durch Görres – entschloss, eine Zeitschrift herauszubringen, welcher der programmatische Name „Eos“ gegeben wurde. Von ihren Gegnern wurde der Eos-Kreis rasch mit dem Etikett „Congregation“ belegt, um „Jesuitismus, Ultrakonservatismus und Geheimbündelei“ zu insinuieren. Dabei war der Kreis weit von einer homogenen Geschlossenheit entfernt. Bei den Treffen wurde über alle aktuellen Themen in Wissenschaft, Politik und Kunst debattiert. Zu jedem Thema gab es mindestens so viele Ansichten wie Teilnehmer. Dieser Kreis war auch offen für Protestanten.

Görres’ Start als Hochschullehrer geriet fulminant. Nicht nur Studierende, auch Freunde, Männer des öffentlichen Lebens, Künstler und Durchreisende wollten den berühmten Mann hören und sehen. Kein Hörsaal reichte aus, um die Zahl seiner Zuhörer zu fassen. Die neue Hochschulpolitik Ludwigs I. hatte völlige Studienfreiheit durchgesetzt. Die auf sechs Semester berechneten Berufsfächer ließen in einem langen fünfjährigen Studium ausreichend Zeit, die vielfältigen Bildungsmöglichkeiten der Universität zu nutzen. So wurde der Besuch von juristischen, theologischen und philosophischen Vorlesungen für alle Studierenden möglich. Von diesem Studium Generale profitierte Görres. Die Studenten richteten hochgespannte Erwartungen an ihn als eine nationale und weltanschauliche Symbolfigur. Das galt für seine Anhänger wie auch für seine Gegner.19 „Lebte er nicht hier, so wäre München ein gewöhnlicher Ort“, rühmte Clemens von Brentano 1833 die Bedeutung seines Freundes Görres für die Bedeutung der Hauptstadt.20 Görres war als Exponent einer universalistischen Wissenschaftskonzeption nach München gerufen worden, und er hat die Chance ergriffen, die sich ihm an der neustrukturierten Universität bot. Seine Lehrtätigkeit war fachübergreifend. Er wollte das Wissen seiner Zeit anbieten in einer weltanschaulich orientierenden Gesamtschau.

Die Freistudienverordnung von 1827 verschaffte Görres eine geistige Breitenwirkung. Er konnte bei seinen Kollegien regelmäßig mit 500 bis 600 Zuhörern rechnen. Neue Statuten des Ministeriums Oettingen-Wallerstein versetzten aber 1832 dem Studium Generale einen herben Schlag. Von ihm war auch Görres betroffen. Sein Wissenschaftsverständnis kollidierte mit den neuen Vorschriften, die den Studierenden weniger Freiraum ließen als zuvor. Dadurch schmolz der Besuch seiner Veranstaltungen deutlich ab. Sie waren Luxusveranstaltungen geworden, weil die Studierenden die Mindestanforderungen der Prüfungsordnung zur Norm machten und nichts belegten, was nicht notwendig war.21 Die neue Studienordnung galt nur für bayerische Studenten. Nichtbayerische Hörer und Theologiestudenten, die bei Görres ihre Theologiestudien zu vertiefen suchten, bildeten jetzt die Stammmannschaft seiner Kollegien. Über sie spottet Heinrich Heine, sie seien eine „Ecole Polytechnique d’Obscurantisme“.22

Mit den Professoren seiner Fakultät pflegte Görres nur wenig Umgang. Von seinen Pflichten als Fakultätsmitglied dispensierte er sich weitgehend. Vor allem mit seinen Historikerkollegen lebte er in Anspannung, weil sein intuitives Wissenschaftsverständnis und seine titanische Geschichtsauffassung mit der damals sich etablierenden historischen Methode kollidierten. Das ist auch der Grund dafür, dass er nicht zum Haupt einer Schule wurde. Die meisten, die sich als seine Schüler bezeichneten, waren Theologen, darunter die beiden großen Wegbereiter der katholischen Sozialbewegung in Deutschland, Adolf Kolping und Freiherr von Ketteler. Der spätere „Gesellenvater“ Kolping hatte zu Beginn der 1840er Jahre drei Semester lang die Görresschen Vorlesungen besucht und sich vom Geist des Kreises um Görres inspirieren lassen. Auch Freiherr Wilhelm Emanuel von Ketteler, der spätere Bischof von Mainz und bedeutendster Wegbereiter der modernen Katholischen Soziallehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verkehrte im Kreis von Görres und Döllinger.

Den Rückgang seiner Studentenzahlen nach der Hochschulreform des Jahres 1832 hatte Görres genutzt, um an seinem Werk „Christliche Mystik“ zu arbeiten, dessen erster Band 1836 erschien. Dabei griff er auf frühere Ansätze seiner universalistischen Geschichtsbetrachtung zurück. Er unterbrach diese Arbeiten, als die preußische Regierung im November 1837 den Kölner Erzbischof Clemens August Freiherr von Droste zu Vischering gefangen nahm und ihn auf der Festung Minden internierte. Abweichend von seinem Vorgänger hatte der Kölner Erzbischof in der Frage der Mischehe eine bestimmtere Haltung eingenommen, die die preußische Regierung durch seine Inhaftnahme brechen wollte. Es ging um die Konfessionszugehörigkeit von Kindern aus konfessionell gemischten Ehen, für die 1834 eine Kompromisslösung zwischen Rom und Berlin gefunden war, die dann nach Meinung der preußischen Regierung durch den Kölner Erzbischof 1837 sabotiert wurde. Dieses „Kölner Ereignis“ musste Görres auf den Plan rufen. In nur vier Wochen schrieb er seinen „Athanasius“, dem noch in seinem Erscheinungsjahr 1838 vier weitere Auflagen folgten.23

Diese Kampfschrift sollte Görres’ berühmteste Veröffentlichung werden. Sie wurde mit einer riesigen Auflage die wahrscheinlich einflussreichste Schrift des Vormärz und sicherte ihrem Autor den Ruf als Sprachrohr des deutschen Katholizismus. Der „Athanasius“ war mehr als ein flammendes Plädoyer gegen die Allmacht des preußischen Staates, der das begangene Unrecht wiedergutzumachen und den Streitfall beizulegen hatte. Zentraler Punkt der Streitschrift war vielmehr die Forderung, die Kirche als eine dem Staat frei und unabhängig gegenüberstehende Einrichtung grundsätzlich anzuerkennen. Görres sagte jedem fürstlichen Absolutismus den Kampf an und verlangte eine neue Realverfassung für die preußische Monarchie. Deshalb gehört der „Athanasius“ zu der „Geschichte der deutschen Freiheit“. Görres ging es in seiner Streitschrift nicht um juristische Argumentationen, sondern um einen politischen Appell, der trotz oder vielleicht sogar wegen seines gemäßigten Gesamtduktus langfristig erfolgreich wurde. „Es ging ihm um Rechtsgleichheit ohne die Rechte anderer Konfessionen zu verletzen und das Band zwischen Kirche und Staat zu zerschneiden“ (Heinz Hürten). Görres hat der katholischen Bewegung Deutschlands, die sich nach seinem Tode zu formieren begann, mit seinem „Athanasius“ ein Programm geschrieben, das bis zum Ende des Bismarckschen Kulturkampfes Geltung beanspruchen konnte. Görres war nun auf dem Höhepunkt seines Einflusses und seiner Popularität. Ein Brief aus den USA mit der Adresse „An Herrn Professor Görres in Europa“ fand seinen Weg in das Görressche Haus in der Schönfeldstraße in München, das Görres 1836 gekauft hatte.24

1839 erhielt er von König Ludwig I. den Verdienstorden der Bayerischen Krone und wurde damit in den persönlichen Adelsstand erhoben. Im katholischen Deutschland und bei den Katholiken in aller Welt galt er nun als der wirkungsmächtigste Streiter für die Freiheit der Kirche.

Seine unermüdlich erscheinende Schaffenskraft ließ ihn die im „Rheinischen Merkur“ immer wieder ventilierte Idee aufgreifen und ausführlich darstellen, das seit hunderten Jahren zum Stillstand gekommene Bauwerk des Kölner Doms als nationales Denkmal endlich zu vollenden. Sein Freund Sulpiz Boisserée hatte Ansichten, Risse und Detailzeichnungen des Domes angefertigt und „Ergänzungen nach dem Entwurf des Meisters“ vorgeschlagen. Boisserée gelang es in der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts, die politischen und intellektuellen Eliten Deutschlands für die Ausbaupläne zu begeistern. Als dann im Herbst 1814 in Amorbach das verschollene Pergament mit den Fassaden „Riss F“ gefunden wurde, rückte die Idee der Vollendung des Torsos aus dem Bereich des Wünschenswerten in den des Möglichen. Inzwischen hatten sich der preußische wie der bayerische Kronprinz sowie Johann Wolfgang von Goethe und Ernst Moritz Arndt für die Boisseréesche Idee stark gemacht, zu deren wortmächtigstem Kommunikator Görres wurde. 1842 legte er die Schrift „Der Dom von Cöln und das Münster zu Straßburg“ vor, dessen Ertrag dem Dombau zugute kam.

Anlass für die letzte Veröffentlichung von Görres vor seinem Tod war die Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier (1844), an der mehr als eine Million Menschen teilnahmen. Diese machtvolle Demonstration des rheinischen Katholizismus löste eine heftige Pressefehde aus, in die sich Görres mit seiner Schrift „Die Wallfahrt nach Trier“ (1845) einschaltete. Der Streit zeigt, welche Bedeutung die öffentliche Meinung mittlerweile in Deutschland errungen hatte. Er legte aber auch offen, wie gereizt die beiden Konfessionen um Öffentlichkeit rangen und wie viel Gewicht religiösen Fragen dabei zukam. Die protestantische Seite verstand die Wallfahrt als Manifestation eines undeutschen, von Rom gelenkten Katholizismus. Wie dramatisch sich die konfessionellen Verhältnisse in den letzten 170 Jahren zum Positiven verändert haben, zeigt die Resonanz auf den Aufruf des heutigen Trierer Bischofs, Stephan Ackermann, zur Wallfahrt zum Heiligen Rock 2012. Ihm hat sich der Präses der Rheinischen Kirche und Vorsitzender der EKD, Nikolaus Schneider, angeschlossen und forderte die protestantischen Mitchristen auf, sich im Geiste der Ökumene an dieser Manifestation des Glaubens zu beteiligen.

Am 29. Januar 1848 starb Joseph Görres in München. Der große Publizist und Kämpfer für die Freiheit der Kirche wurde auf dem südlichen Friedhof beigesetzt. Es hat eine hohe Symbolkraft, dass heute gegenüber dem Friedhof das „Medienkloster“ liegt, Sitz des Instituts zur Förderung des publizistischen Nachwuchses der katholischen Kirche, das in den letzten Jahrzehnten mehr als 1.000 Journalisten ausbildete.

Auch dort wird der Geist jenes Mannes wachgehalten, dessen Warnung vor Gewaltherrschaft und staatlicher Willkür und dessen Kampf für die christliche Grundierung des öffentlichen Lebens heute ebenso aktuell ist wie zu seinen Lebzeiten. Diese Probleme trieben und treiben auch unseren Jubilar um, den mit Joseph Görres nicht nur der gemeinsame Vorname verbindet, sondern auch seine Leidenschaft für die Freiheit der Kirche in der pluralistischen Gesellschaft.

1 R. Morsey, Joseph Görres (1776-1848), in: Aretz, J. / Morsey, R. / Rauscher, A. (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern – Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 3, Mainz 1979, 26. Vgl. auch H. Raab (Hg.), Joseph Görres (1776-1848). Leben und Werk im Urteil seiner Zeit. J. Görres, Gesammelte Schriften, herausgegeben im Auftrag der Görres-Gesellschaft, Ergänzungsband 1, Paderborn 1995; ders. (Hg.), Joseph Görres, Gesammelte Schriften, Band 14, Schriften der Straßburger Exilszeit 1824-1827, Aufsätze und Beiträge im Katholik, Paderborn 1987; sowie H. Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Band 5, Die Kirche im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, Freiburg / Basel / Wien 1985, 477-570.

2 Vgl. W. Bergsdorf, Der Merkur war sein Leben, in: Rheinischer Merkur, Nr. 47, 25. November 2010 (letzte Ausgabe).

3 W. Schellberg, Joseph von Görres, Köln 1926, 77.

4 Vgl. hierzu Art. Görres, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften im katholischen Deutschland. Band 2, Freiburg 31909, 810 ff.

5 A. Zingerle, Ein kulturelles Biotop im Wandel. Die Görres-Gesellschaft und die Krisen der Zeit, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft, Bonn 2010, 75. Vgl. hierzu auch R. Koselleck, Art. Krise, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Band 3, hg. v. Brunner, O. / Conze, W. / Koselleck, R., Stuttgart 1982, 617 ff.

6 R. Morsey, Joseph Görres.

7 Staatslexikon, 810.

8 Ebd.

9 Ebd.

10 W. Schellberg, Joseph von Görres, 48.

11 R. Morsey, Joseph Görres, 31.

12 Staatslexikon, 802.

13 W. Schellberg, Joseph von Görres, 75.

14 W. Schellberg, Joseph von Görres, 101.

15 Ebd. 107.

16 Ebd. 111.

17 Europa und die Revolution von Görres, Stuttgart 1821.

18 H. Dickerhof, Görres an der Münchner Universität, in: Philosophisches Jahrbuch 96/ 1 (1976) 150 f.

19 H. Dickerhof, Görres, 152.

20 Ebd. 148.

21 Ebd. 164.

22 Ebd. 165.

23 J. Görres, Gesammelte Schriften, Band XVII. Schriften zum Kölner Ereignis, erster Teil, Athanasius, bearbeitet von H. Hürten, Paderborn 1998.

24 Staatslexikon, 817.

Die strengkirchliche Mobilisierung der Diözese Rottenburg im Spiegel der Statusrelationen von Bischof Paul Wilhelm von Keppler
Claus Arnold

Der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm (von) Keppler (1852-1926) ist der Forschung vor allem als prominenter Antimodernist bekannt,1 der sich in seinem Bistum2 durch die Ausmerzung „modernistischer“ Neigungen bei Seminaristen und Professoren hervortat.3 Auch Kepplers episkopaler Stil hob ihn von seinen Vorgängern ab: Er umkleidete sein Amt, das zuvor eher mit der Jovialität schwäbischen Honoratiorentums versehen worden war, mit byzantinisierender Weihe.4 Von sich selbst sprach er in seinen Hirtenbriefen als „der Bischof“. Dennoch dürfen auch die Momente der Kontinuität nicht übersehen werden, die Kepplers Episkopat prägten. So hat Dominik Burkard betont, dass Keppler bei seinen antimodernistischen Eingriffen in die Priesterbildung durchaus an frühere Mahnungen des Rottenburger Ordinariats in Richtung Tübingen anknüpfen konnte („keine Geistesbildung ohne Herzensbildung“), dabei aber nie so weit ging, „die Strukturen der württembergischen Bildungstradition anzutasten“, also die Bedeutung von Wilhelmsstift und Tübinger Fakultät grundsätzlich in Frage zu stellen.5 Die wissenschaftliche Tüchtigkeit des Rottenburger Klerus hatte Keppler schon in seinem Antrittshirtenbrief vom 18. Januar 1899 hervorgehoben.6 Auch in theologischer Hinsicht vermochte Keppler zuweilen durch eine „Tübinger“ Nüchternheit und Christozentrik zu überraschen. So betonte er etwa in seinem Hirtenbrief vom 15. August 1904 zum fünfzigjährigen Jubiläum der Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens: „Die wahre Marienverehrung muss von Herzen kommen, äußere Werke sind hier ohne Wert und Nutzen, wenn sie nicht vom inneren Geiste getragen werden. Die Andacht zu Maria muss zur treuen Beobachtung der Gebote ihres göttlichen Sohnes führen. Denn wenn wahre Liebe nur diejenige ist, welche die Herzen gleichförmig macht, dann müssen wir bestrebt sein, Christo zu dienen, in gleicher Weise, wie seine heiligste Mutter es getan. Was die weiseste Jungfrau bei der Hochzeit zu Kana zu den Dienern sagte, das sagt sie auch zu uns: ‚Was immer er euch befiehlt, das tuet [Joh 2,5].‘ “7 Und als sich nach dem Ende des württembergischen Staatskirchentums 1918 die Gelegenheit zu einer grundlegenden Revision der Gründungsvorgaben des Bistums, etwa durch eine Verlegung des Bischofssitzes, ergab, optierte Keppler für rottenburgisch-württembergische Kontinuität und begnügte sich damit, den zuvor schon begonnenen Kurs der ultramontanen Mobilisierung der Diözese zu forcieren8.

Vor diesem Hintergrund reizt ein näherer Blick auf Kepplers episkopales Wirken vor 1914, um dieser Mobilisierung weiter nachzuspüren. Das Bistum Rottenburg hatte im 19. Jahrhundert durch die Opposition des Bischofs Carl Joseph von Hefele (1809-1893) auf und nach dem I. Vaticanum,9 die Vermeidung eines Kulturkampfs zwischen Staat und Kirche,10 die durch Hefele gebremste politische Mobilisierung der Katholiken und die vergleichsweise große konfessionelle und religiöse Konzilianz eine gewisse Sonderrolle gespielt. Schon Rudolf Reinhardt und seine Schüler haben aber in ihren maßgeblichen Arbeiten11 betont, dass sich die Koordinaten in den letzten Regierungsjahren Hefeles, vielleicht schon beeinflusst von seinem Koadjutor und Nachfolger Wilhelm Reiser (1835-1898), und dann vollends unter Bischof Keppler, verschoben haben, nachdem durch den frühen Tod des erwählten Bischofs Franz Xaver von Linsenmann (1835-1898) ein konzilianter Amtsinhaber ausgefallen war. Diese langsame Veränderung der kirchlichen Pragmatik im Bistum kann als fortschreitende Ultramontanisierung und Episkopalisierung interpretiert werden. Sie markiert aber auf jeden Fall ein langsames Zurückschwenken des Bistums in den „mainstream“ des deutschen Katholizismus, in dem es am Ende von Kepplers Episkopat fast nahtlos aufgeht.12

Das Bemühen Bischof Kepplers um eine „Normalisierung“ der Diözese Rottenburg im römischen Sinne schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, dass er 1902, wie er selbst meinte, erstmals eine ausführliche relatio status an die Kurie sandte. Tatsächlich lag in Rom aber wenigstens eine vorhergehende Relation vor, nämlich der kurze, nur vierseitige Bericht von Bischof Joseph von Lipp (1794-1869) aus dem Jahr 1852.13 Bei seiner Visitatio Liminum 1906 musste Keppler allerdings feststellen, dass sein umfassender Bericht über den Zustand der Diözese im römischen Geschäftsgang verloren gegangen war, weshalb er am 7. Juni 1907 ein „Update“ der Fassung von 1902 einreichte, das 27 maschinenschriftliche Seiten umfasste.14 Zusammen mit dem kurzen Bericht von 1909 und der weiteren ausführlichen Relation von 191315 verrät Kepplers Rechenschaft natürlich primär etwas über seine eigene Wahrnehmung der Diözese und die anliegenden pastoralen Aufgaben; sie kann aber auch in kritischer Betrachtung als Ausgangspunkt für unsere Frage nach der Mobilisierung der Diözese unter Keppler dienen.

Expansion des Bistums und Bautätigkeit

Im weltkirchlichen Vergleich hatte das Bistum bis 1913 beachtliche Ausmaße angenommen. Es umfasste 739.995 Katholiken (bei 1.671.183 Protestanten, 11.982 Juden und 14.414 Sonstigen in Württemberg), davon 1.227 Priester, 30 Alumnen im Rottenburger Priesterseminar und 150 im Wilhelmsstift. Im Reich lag es damit unter den 30 Sprengeln an 13. Stelle.16 Die 695 Pfarreien und 40 Quasipfarreien, die in der Größe zwischen 11.000 und 130 Seelen variierten, waren in 29 Dekanaten zusammengefasst und verfügten neben dem Dom über 783 Kirchen, 642 Filialkirchen und 415 Oratorien. Da viele Pfarreien, zumal in den Städten, groß waren, wies Rottenburg mit 166 Kaplänen und 145 Vikaren eine relativ hohe Zahl von Hilfsgeistlichen auf.

Keppler versäumte nicht, die Expansion des Bistums hervorzuheben: Seit 1850 seien nicht weniger als 80 Kirchen und Oratorien in den Diasporagebieten neu erbaut worden und seit 1870 50 neue Kirchen in Städten, die schon vorher eine Pfarrei besessen hatten. Vor allem sein Vorgänger Reiser habe Großes in der Sorge für die Diasporakatholiken geleistet, der Bonifatiusverein und die Freigebigkeit der Gläubigen des Bistums hatten das Ihre beigetragen. Im Geiste des Historismus favorisierten die Bischöfe von Hefele bis Keppler dabei die Neuromanik und Neugotik. Unter Keppler kamen aber auch Bauten und Gestaltungen im Geiste des Neubarock bzw. Neoklassizismus oder im „Beuroner Stil“ zur Ausführung. So ließ Keppler, der sich 1901 die Burg Straßberg zur Sommerresidenz erwählt hatte, dort 1906 eine Kapelle einbauen und sie 1908 – natürlich – im Beuroner Stil ausmalen.

Gottesdienst und Pastoral

Interessant sind Kepplers Aussagen im Hinblick auf das gottesdienstliche Leben der Diözese. Sie sind vor dem Hintergrund der „Reformen“ Papst Pius’ X. (1903-1914) zu sehen, der nicht nur erstmals den Gedanken der actuosa participatio der Gläubigen formulierte und den gregorianischen Choral zu liturgischen Norm erhob (1903), sondern auch den häufigeren Sakramentenempfang propagierte (1905) und die Frühkommunion ermöglichte (1910). Keppler schrieb deshalb ganz ad mentem des Papstes, wenn er in der Relation von 1913 vermerken konnte: „Die Häufigkeit des Sakramentenempfangs steigt von Jahr zu Jahr, zumal seit das neue Dekret über die Kommunion ergangen ist. Es werden nun alle Kinder, wenn sie 11 oder 12 Jahre alt sind [zuvor mit 13 Jahren], auf die Kommunion vorbereitet und treten, solange sie die Schule besuchen, sechs Mal jährlich alle gemeinsam an den Tisch des Herrn heran, einzelne von ihnen auch öfter, viele jeden Sonntag. Das weibliche Geschlecht frequentiert die Sakramente mit größerem Eifer; der Eifer der Männer wird nach und nach zu erwecken und zu vermehren sein.“17 Tatsächlich hatte Keppler das Thema des häufigeren Sakramentenempfanges für 1908 als Konferenzarbeitsthema ausgeschrieben und im „Generalbescheid auf die Conferenzarbeiten“ vom 7. September 1909 dem Klerus sehr ausführlich die Methoden zur Intensivierung des sakramentalen Lebens nahegebracht: Zykluspredigten, eucharistische Triduen, Volksmissionen, Exerzitien, die Ansprachen bei den Kasualien, die Katechese im Religionsunterricht, die Seelenführung im Beichtstuhl, Generalkommunionen der einzelnen Stände – all das sollte im Sinne Pius’ X. zusammenwirken.18 Zugleich drängte Keppler auch auf eine vorsichtige Vermeidung der Andachtsbeichte hin: Wer täglich kommuniziere, können alle Ablässe auch bei bloß vierzehntägiger Beichte gewinnen.19 Der Bischof betonte auch seine Bemühungen um den gregorianischen Choral in der Messfeier und die entsprechende Abdrängung der volkssprachlichen Lieder in die Andachten.20 Eine Ausnahme stellten nur die Rorate-Messen im Advent dar, „bei denen die Gläubigen religiöse Gesänge in der Volkssprache mit höchster Hingabe und Leidenschaft singen. Diese Gewohnheit könnte nur mit sehr großem Schaden eliminiert werden; es stünde nämlich zu befürchten, dass die Gläubigen in schwerer Empörung jenen bislang sehr gut besuchten Messen fortan fernbleiben würden“21. Noch in einem zweiten Punkt wich die Diözese von der römischen Norm ab: Bei der Firmung, die nur vom Bischof allein bei seinen Reisen im Fünfjahresturnus durch die Diözese gespendet wurde, war von Kepplers Vorgängern das Amt des Firmpaten abgeschafft worden. Die materialistischen Erwartungen der Kinder an die Paten hätten das Amt lästig gemacht, es sei früher zu großen Festmählern mit Skandalen gekommen. Außerdem sei bei der großen Zahl der Firmlinge für die Paten oft kein Platz mehr in der Kirche. Ohne die Paten laufe der Gottesdienst ohnehin würdiger ab und es gebe keinen Alkoholmissbrauch. (Nach dem Ersten Weltkrieg führte Keppler das Patenamt dann auf römisches Drängen hin wieder ein und konnte in der Relation von 1923 Vollzug melden.22)

Das Thema des Alkoholismus lag Keppler besonders am Herzen. Ihm widmete er 1907 einen speziellen Hirtenbrief, in dem er in scharfer Form vor allem den Schutz der Kinder vor Alkohol anmahnte und betonte, dass alle kirchlichen Vereine zugleich Mäßigkeitsvereine sein sollten.23 Kepplers kulturpessimistische Grundhaltung zeigte sich auch in seiner Einschätzung, dass auf dem Land die guten Sitten, das einfache, arbeitsame Leben, der feste Glaube und ein ehrlicher Eifer für die Religion herrschten, während in den Städten, vor allem den größeren, aufgrund der Ansteckung und dem Streben nach einem schickeren Leben, der Alkoholismus, die Genusssucht und von daher die Auflösung und Zersetzung des Familienlebens grassierten.24 In diesen Kontext gehörte auch die Frage der Mischehen.25 Keppler zählte von 1896 bis 1905 insgesamt 40.423 rein katholische Ehen und 8.696 Mischehen, von letzteren 4.525 mit kirchlicher Billigung (also mit katholischer Kindererziehung) und 4.170 ohne Einhaltung der kirchlichen Bedingungen. Hinzu kamen noch 915 rein standesamtliche Eheschließungen. Keppler beteuerte aber, dass der Kampf gegen die Mischehen geführt werde.26

Orden und Kongregationen

Insgesamt lobt der Bischof aber die außergewöhnliche Spendenbereitschaft und den religiösen Eifer der Diözesanen. Dieser zeige sich vor allem auch bei den Volksmissionen, die in großer Zahl von der Regierung erlaubt und von Benediktinern, Redemptoristen, Franziskanern, Kapuzinern und Jesuiten durchgeführt würden. Kepplers besondere Vorliebe für Beuron tritt hervor, wenn er betont, dass gerade die dortigen Benediktiner diesen Eifer bestätigten. Denn nach dem nahegelegenen Beuron pilgerten im Übrigen viele Tausend Diözesanen, und die Patres würden gerne als Beichtväter in die Pfarreien geholt. Insofern gab es, trotz der von Keppler ebenfalls ausführlich beklagten hysterischen Gegnerschaft der Protestanten zur Einführung von Männerorden (nescio quo furore correpti timore paene tabescant, quandocunque hujus rei mentio fit)27, eine nicht zu vernachlässigende Präsenz von Regularklerikern in der Diözese. Eine Frucht davon sei der große Ordensnachwuchs aus der Diözese, nicht nur bei den Frauenkongregationen im Bistum, sondern auch in vielen Ländern außerhalb – gerade letzteres Faktum bedürfte der weiteren Erhellung. Aufgrund der Forschungen von Klaus Schatz kann wenigstens für den Bereich des Jesuitenordens eine quantitative Angabe gemacht werden. Im Zeitraum von 1849 bis 1914 sind 122 Württemberger als Scholastikernovizen in die Gesellschaft Jesu eingetreten (einschließlich derer, die als Novizen wieder weggingen). Der Anteil der Württemberger war im ersten Zeitraum (von 1849 bis 1872) außergewöhnlich hoch: mit 63 Eintritten (9,4% aller Eintritte in den beiden Scholastikaten) lag Württemberg im süddeutschen Raum an der Spitze, vor Bayern und Baden. Dieser Anteil schwächt sich in den folgenden Perioden ab: 1873-95 sind es 34 (5,1%, bereits hinter Bayern), 1896-1914 25 (3,8%), was angesichts der Größe der Diözese aber immer noch eine Überrepräsentierung darstellt. Was die Brüdernovizen angeht, so erlaubt die lückenhafte Quellenlage keine exakte Angabe: Man kann nur sagen, dass 1852-72 mindestens 15 und 1873-95 27 eingetreten sind. Generell ist bei den Brüdernovizen der süddeutsche Raum noch schwächer repräsentiert als bei den Scholastikernovizen; aber innerhalb des süddeutschen Raumes scheint Württemberg auch hier stark überrepräsentiert zu sein.28 Mit dem aus Rottweil gebürtigen Kanonisten Franz Xaver Wernz (1842-1914), der 1906 zum General des Ordens gewählt wurde, und dem aus Isny stammenden Theologiehistoriker Franz Ehrle, der von 1895 bis 1914 Präfekt der Vatikanischen Bibliothek war und 1922 zum Kardinal erhoben wurde, hat die Diözese auch zwei prominente Jesuiten hervorgebracht.

Wesentlich breitenwirksamer waren hingegen die „barmherzigen Schwestern“, also die Frauen-Kongregationen im Bistum. Die neuere Forschung hat sich ausführlich mit ihrem „Catholicisme au féminin“ (Claude Langlois) beschäftigt;29 sie boten jungen Katholikinnen ein geistlich-berufliches Feld außerhalb von Ehe und Familie und können in ihrer Bedeutung für die Sozialfürsorge, Krankenpflege, Kinderpflege und -erziehung (in Krippen und Kindergärten) sowie für die Mädchenbildung kaum überschätzt werden. Insbesondere die Herausbildung des modernen Krankenhauswesens, wie es im Bistum exemplarisch durch das 1890 von den Untermarchtaler Vinzentinerinnen gegründete Stuttgarter Marienhospital verkörpert wird, wäre ohne die Hingabe und Professionalität der Schwestern nicht denkbar gewesen. Eine besondere Rolle spielten sie auch in den „Pfleg- und Bewahr-Anstalten“, also der Fürsorge für behinderte Menschen, wie sie ebenfalls von den Vinzentinerinnen in Rottenmünster (seit 1898) oder unter Mitwirkung der Reutener Franziskanerinnen in Liebenau verwirklicht wurde. Die Franziskanerinnen von Sießen widmeten sich dagegen besonders dem Bildungswesen mit Schulen in Stuttgart (1875), Mergentheim (1879), Friedrichshafen (1897), Rottenburg (1898) und Ellwangen (1895). Mit ihren zahlreichen Niederlassungen prägten die Schwestern die Diözese und ihre Pfarreien auch in der Breite. Im Jahr 1913 hatten die 1.085 Untermarchtaler Schwestern neben dem Mutterhaus 132 Niederlassungen, die 750 Reutener Franziskanerinnen 115, die 375 Sießener Franziskanerinnen 33. Hinzu kamen die Franziskanerinnen von Bonlanden (110 Schwestern) und Heiligenbronn (186 Schwestern) sowie die Notre-Dame-Schulschwestern in Ravensburg (74).30 Auch Bischof Keppler konnte mit großer Befriedigung auf die diözesanen Kongregationen blicken, die er auf seinen Firmreisen oft besuche: „Daher kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen, dass für die in den Hospitälern und Einrichtungen der Sorge dieser Schwestern Anvertrauten in allen Dingen bestens gesorgt ist, die zum Heil des Körpers und der Seele notwendig sind.“31 Erfreut war Keppler auch über die Regeltreue in den Kongregationen, die jeweils ihren eigenen Superior und Beichtvater hatten.32

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