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Der Elbenfreund im Berner Oberland


J. R. R. Tolkien

Seine Hobbits hat Tolkien kaum nach dem Vorbild der Schweizer modelliert. Als junger Wanderer erlebte der Autor von «Der Herr der Ringe» hier ein Glück von elbischer Pracht.

Auf der Suche nach schweizerischen Motiven im Werk des Schriftstellers und Philologen J. R. R. Tolkien kommt man auch auf einem Umweg ans Ziel. Der Umweg: Das ist ein Es­say mit dem hinter- und ein wenig unsinnigen Titel «Jungfrauen im Nachthemd: Blonde Krieger aus dem Westen» (2003), in dem der österreichische Autor Guido Schwarz Tolkien faschistoide Züge vorwirft.

Es gibt sie eben immer noch: diese Fantasykritik aus dem Geist des ironisch getarnten Bierernstes, der uns die Freude an einer märchenhaften Weltschöpfung verderben will. Hier ist sie wieder, sozusagen als Verwechslung von Mittelerde und Erde und Elb und Nazi. Wobei Schwarz nicht immer ganz unrecht hat (der grundsätzlich multikul­turelle Anstand des Professors Tolkien hat ein paar Anteile von reinrassiger, erzblonder Gnadenlosigkeit). Ausserdem teilt er uns die reizende Geschichte mit, wie seine Mutter einmal den «Kleinen Hobbit» las und auf die nette Allegorie kam: «Die Hobbits sind eigentlich die Schweizer.» Und da sind wir doch bei unserem Thema.

Die real existierende Beziehung Tolkiens zur Schweiz ist auf eine konservativ-romantische Art landschaftsgärtnerisch geprägt. Nicht viel mehr als die literarisch inspirierende Erinnerung eines englischen Touristen an eine Naturkulisse von interesseloser Erhabenheit. Erwägungen über das Hobbithafte der Schweizer Eingeborenen wurden nicht angestellt. Sicher ist, dass J. R. R. Tolkien im Jahr 1911, also als 19-Jähriger, der noch keine mittelirdische Geografie entwickelt hatte, zusammen mit elf Kameraden die Schweiz bewanderte. Der Weg führte unter anderem ins Lauterbrun­nental, und Tolkien muss da die Erfahrung von ästhetischer und klimatischer Vollendung gemacht haben. Jedenfalls ist der Indizienbeweis, dass er gerade jenes Tal später elbisch mystifizierte, so ziemlich lückenlos.

Das Berner Oberland zwischen Lauterbrunnen und Ste­chelberg erscheint im «Hobbit» (1937) und im «Herrn der Ringe» (1954) als Rivendell (dt. Bruchtal), die Heimat von Elrond, dem Elbenfreund, in seiner unsterblichen Pracht. Und es sind Musik und Gesang in Elronds Halle des Feuers und ringsherum plätscherndes Wasser und der Duft von Bäumen und Blumen in allem. Der Fluss, der Rivendell durchfliesst, heisst Bruinen auf Elbisch oder Lautwasser in der Sprache der Menschen, und ein «Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur» empfiehlt dem Wanderer die Gegend vor allem im Herbst. Die Elben dort seien freundlicher als anderswo.

In Rivendells Osten ragt hoch das Nebelgebirg. Manche Interpretatoren, einmal im schweizerischen Schwung, haben da Eiger, Mönch und Jungfrau hineinprojiziert, und vielleicht hatten sie recht. Eine Primärquelle verweist mindestens auf eine Inspiration durch das der Jungfrau vor­gelagerte Silberhorn, «die Silberzinne – Celebdil – meiner Träume» (so schrieb Tolkien noch 1968 an seinen Sohn), und wir erinnern uns: An der Flanke dieses Bergs zerschmet­terte Gandalf der Graue den Balrog, jenen Feuerdämon aus den Tiefen des Ersten Zeitalters; sodass Eis und Glut, in denen dann Gandalf der Weisse geschmiedet wurde, im Grund berneroberländisch waren.

Überhaupt: Gandalf. Er scheint berglerische Verwandtschaft zu haben, wenn auch nicht schweizerische, streng genommen. In Tolkiens Nachlass fand sich eine Postkarte, auf der stand: «The Origin of Gandalf». Sie zeigte das Gemälde «Der Berggeist» (um 1925) des Allgäuers Josef Madlener (1881–1967), das in seiner Herzigkeit nur schwer auszuhalten ist: einen bärtigen Alten mit blauem Hut, der unter Tannen ein Reh streichelt, ein wenig sanfter Rübezahl, ein bisschen Schillers «Bergesalter» («Und mit seinen Götterhänden / Schützt er das gequälte Tier»). Und wenn das Gandalf ist, dann nicht jener, der Blitze schleudert in der Schlacht um Minas Tirith, sondern der, der gern mit Hobbits ein Pfeifchen raucht. Die Stimmung ist ausgesprochen vorälpisch, und in der Schweiz könnte auch das sein.

Dass jedoch die Hobbits Schweizer seien, wie die Mutter Schwarz vermutete, ist zu bezweifeln. Das machte ja Tolkien, der von sich sagte, er sei «in allem ein Hobbit, nur nicht in der Grösse», auch zum Schweizer und in der Logik von Guido Schwarz zum verschroben-heimeligen Fröntler. Und das wäre gewiss das saublödeste Klischee über einen mittelenglischen Fantasten, der zu anständig und zu altmodisch war fürs Faschistoide, vielleicht nicht als Verfassungs-, aber sicher als Herzensdemokrat mit einem Traum vom alten angelsächsischen Freibauerntum. Und mit einer Neigung zum englischen Frühstück, zu farbigen Westen und zu selbst bestellten Gärten, wo keine Maschine geduldet war ausser dem Handrasenmäher.

Ohnehin war der Sehnsuchtsort des Menschen und Philologen Tolkien nicht eine Gegend, sondern der Wohlklang und die Freiheit der Sprache, oder genauer: die friedliche Gemeinschaft jener, die in selbst erfundenen Elbenzungen reden. Einen von ihnen traf er als junger Leutnant 1916 an der Somme-Front, einen kleinen Mann, der während eines Vortrags über die Kunst, Menschen aufzuspiessen, plötzlich verträumt lächelte und sagte: «Ja, ich glaube, ich werde den Akkusativ mit einem Präfix ausdrücken.»

Christoph Schneider

Tödliche Verführung in
den Alpen


Hans Christian Andersen

Hans Christian Andersen hat die berühmte Schnee­königin auch in der Schweiz auftreten lassen – in seinem Märchen «Die ­Eis­jungfrau». Und diesmal siegt der kalte Tod.

Die Gemmiwand mit dem Pass steht da wie ein Riesenfels, den ein wütender Zyklop einmal durch die Gegend geschleudert haben könnte. Literaturliebhaber kenne sie als wildromantische Kulisse für das Literaturfestival Leukerbad und als Schauplatz einer traditionellen Mitternachtslesung – die über dem Abgrund schwankende Gondel in stockfinsterer Nacht suggeriert, dass man sich in einer Zone des Übergangs befindet.

Für den dänischen Märchendichter Hans Christian Andersen mit seinem spätromantischen Flair fürs Transitorische bevölkerten sich Berge, Gletscher und Täler zwischen Berner Oberland, Wallis und dem Genfersee auf seiner Schweizreise von 1861 mit fantastischen Wesen. Die nahmen auch gleich in einer Geschichte Gestalt an: Beim Schreiben fackelte Andersen nicht lange.

Doch bevor er seine Texte publizierte, las er sie in den Salons von Förderern und Bekannten vor, wobei ihn deren Reaktionen oft entweder in Euphorie oder in depressive Verstimmungen stürzen konnten. In seinen Tagebüchern liest sich das so: «Meine Stimmung ist zum Aus-der-Welt-Springen, glaube keinem, nicht einmal mir selbst. – Ich werde bestimmt verrückt.» Durchaus lebensfroh fügt er allerdings an: «Mittagessen bei Ørsteds».

Die Schweiz war für Hans Christian Andersen ein Hort der Ruhe, aber auch eine mächtige Quelle der Inspiration. Die Landschaften hatten es ihm angetan, und Wilhelm Tell stand im Olymp seiner persönlichen Helden ganz oben. Die überwältigenden Reiseerfahrungen aus den Schweizer Bergen schlugen sich in den ersten Sätzen seines Märchens «Die Eisjungfrau» nieder, das Andersen gleich nach seiner Reise von Grindelwald nach Bex zu schreiben begann, und der Protagonist der «Eisjungfrau» lässt sich als luftigere Variante des Schweizer Nationalhelden verstehen – als Wilhelm Tell mit einem Andersen-Herz.

Wie so viele der abgründig-aberwitzigen Texte des Dänen beginnt es mit einer direkten Ansprache des Märchenonkels an seine Leser: «Wir wollen einmal die Schweiz besuchen, uns in dem herrlichen Gebirgsland umsehen, wo die Wälder an den steilen Felswänden emporklettern; wir wollen auf die blendend weissen Schneefelder hinaufsteigen und wieder zu den grünen Wiesen hinabgehen, wo Flüsse und Bäche dahinrauschen.»

Andersen war ein leidenschaftlicher Reisender. Im 19. Jahrhundert war jede Reise ein Abenteuer, vor allem für den mäkeligen Hypochonder aus Odense. In seinen Tagebüchern beklagt er sich auch öfter über körperliches Unwohlsein und andere Unannehmlichkeiten. Seine Tagebücher dokumentieren aber auch, wie er Material für seine Märchen und Romane sammelte. Im Juli 1861 notierte Andersen, noch ganz ohne das Märchenhaft-Wunderbare ins Spiel zu bringen, wie das Wetter die Berglandschaft im Berner Oberland mal unheimlich, mal lieblich in Szene setzt und wie die Jungfrau – der Berg – noch im Dunkeln weiterleuchtet.

In diese Fremdenverkehrskulisse hinein setzte er eine seiner berühmtesten und abgründigsten Figuren aus ei­nem früheren Märchen, die Schneekönigin, und gibt ihr ein zweites Leben als Eisjungfrau. Die Schneekönigin, die den kleinen Kay in ihren Eispalast nach Spitzbergen entführt, wird von seiner treuherzigen Freundin, der kleinen Gerda, besiegt. Doch in der «Eisjungfrau» entkommt der Jüngling dem kalten Tod nicht. Bei einem Sprung in den Genfersee, am Vorabend der Hochzeit mit seiner Geliebten, erwischt ihn die Eisjungfrau in ihrer flüssigen Gestalt und zieht ihn zu sich in die Tiefe.

Dieser Jüngling heisst Rudy und ist ein tollkühner Gämsjäger, ein richtiger Bergler aus Grindelwald. Einer, der es liebt, «hoch oben in den Bäumen Vogelnester zu sammeln, verwegen und kühn, aber lächeln sah man ihn nur, wenn er an dem brausenden Wasserfall stand oder wenn er eine Lawine zu Tal donnern hörte». Das sind Spuren einer frühen Initiation in die Bergwelt, einer Nahtod-Erfahrung, die Rudy als Kleinkind beim Überqueren des Gemmipasses erlebte. Seine Mutter verschwand in einer Gletscherspalte, während er wundersamerweise überlebte. Der erwachsene Rudy verliebt sich in die charmante Walliserin Babette aus dem Dorf Bex, für die er sich als Held beweisen muss – eine Liebesgeschichte, die nicht nur Klassengrenzen überwindet, sondern auch den Röstigraben.

Für Andersens Verhältnisse ist die Liebe zwischen Rudy und Babette äusserst erotisch dargestellt. Die knisternde Ungeduld, mit der sie in der erhabenen Bergkulisse auf die Hochzeitsnacht warten, ist mit Händen zu greifen. Kay und Gerda aus der «Schneekönigin» bleiben dagegen immer «Kinder im Herzen» – nur deshalb dürfen sie zusammenbleiben. Das Begehren zwischen Rudy und Babette muss vor der Hochzeitsnacht durch den Tod in Sehnsucht zurückverwandelt werden. Hier zeigt sich, wie eng Andersens Selbststilisierung als unglücklicher Liebender mit einer Fixierung auf unerreichbare Frauen und Männer mit dem Kern seiner Poetik verbunden ist. Sexuelles Begehren öffnet der Verführung durch die Mächte des Todes Tür und Tor und lässt den Dichter verstummen. Nur wer im Herzen ein Kind bleibt, darf in Andersens Universum lieben – und schreiben.

Christine Lötscher

Der Mann, der Sherlock ­Holmes tötete


Arthur Conan Doyle

Die Reichenbachfälle sollten einer allzu erfolgreichen ­Serienfigur den Garaus machen. Doch der Autor hatte nicht mit der Liebe des Publikums gerechnet.

Meiringen ist ein ruhiger Ort im Haslital, fast möchte man ihn beschaulich nennen. Dramatisch wird es erst ausser- und oberhalb des Ortes, wo die Reichenbachfälle zu Tale brausen, insgesamt dreihundert Meter abwärts. Der spektakulärste in der Kataraktfolge ist der oberste Fall; wehe dem, der von dem Wassermassen erfasst und zu Tale geschleudert wird! Die beiden berühmtesten Opfer der Fälle – sie sind am 4. Mai 1891 hinein- und hinuntergestürzt – hat es allerdings gar nicht gegeben. Es sind Sherlock Holmes und Professor Moriarty, sein kongenialer Gegner, der «Napoleon des Verbrechens».

In «The Adventure of the Final Problem» erzählt Arthur Conan Doyle, der Schöpfer des legendären Detektivs, wie Holmes und sein treuer Begleiter Dr. Watson, verfolgt von Moriarty (oder vielmehr diesen hinter sich her lockend), durch die Schweiz reisen, von Genf durch das Wallis über den Gemmipass bis Interlaken und schliesslich nach Meiringen. Dort kommt es zum Showdown mit Moriarty, den beide nicht überleben, wie der verzweifelte Watson aus ei­nem Brief entnehmen kann, den sein Freund hinterlassen hat. «Tief unten in dem tobenden Wasser und der ewig aufschäumenden Gischt wird für immer der gefährlichste Verbrecher aller Zeiten zusammen mit dem Helden der Gerechtigkeit Seite an Seite liegen», schliesst der Chronist die Erzählung, die die letzte sein sollte.

Wie kam es, dass der Zweikampf zweier Engländer ausgerechnet im Haslital stattfand? Die Reichenbachfälle waren schon im 19. Jahrhundert eine Attraktion, sie machten Meiringen zu einem «Top Shot» auf der Landkarte der englischen Touristen, auch wenn die das damals noch nicht so nannten. Laut Thomas Cook, dem massgeblichen Reiseführer, musste man auf der Brücke gestanden und in den Abgrund geschaut haben, wenn man in der Schweiz gewesen sein wollte, und Cooks Wort war Gesetz. Auch Arthur Conan Doyle stand hier an einem Augusttag des Jahres 1893, schwer beeindruckt, wie er sich in seinen Memoiren erinnert: «Es war ein schrecklicher Ort und ein, wie ich dachte, würdiges Grab für den armen Sherlock, auch wenn ich mit ihm mein Bankkonto begraben würde.»

Der eigentliche Mörder des Superdetektivs war natürlich nicht Moriarty, sondern sein Schöpfer: Er wollte ihn endlich los sein. Der Erfolg der Serienfigur wuchs ihm über den Kopf, wurde ihm unheimlich und lästig zugleich. Conan Doyle, eigentlich Mediziner, wollte als Autor historischer Romane berühmt und unsterblich werden, nicht mit Ne­ben­werken, wie er die Geschichten um den genialen Kriminalanalytiker betrachtete. Seit diese im «Strand» erschienen, einem Magazin mit Millionenpublikum, verdien­te er nicht nur fürstlich daran, sondern wurde mit Briefen und Anfragen überhäuft, die viel häufiger gar nicht an ihn, sondern direkt an sein Geschöpf gerichtet waren: Er möge doch freundlicherweise in diesem oder jenem rätselhaften Kriminalfall tätig werden.

Der detailfreudige Realismus, mit dem Conan Doyle sei­ne Figur und seine Gewohnheiten entworfen hatte, schlug zurück: Was so realistisch daherkam, musste real sein – und reale Hilfe leisten können. Im April 1892 schrieb der entnervte Autor an seine Mutter: «Ich stecke mitten in der letzten Holmes-Geschichte, nach der dieser Gentleman sich auflösen wird, um nie, nie wiederzukehren. Ich bin seines Namens überdrüssig.» Wie er Holmes loswerden würde, war ihm da aber noch nicht klar. Auch noch nicht, als er in die tosenden Reichenbachfälle blickte. Erst ein paar Wochen später ging ihm auf, welch ein idealer Ort dies für den Mord an seinem Helden war.

Conan Doyle war da schon weitergereist, nach Davos (wo er später, als erster Engländer, einen Alpenpass auf Ski überqueren und das Skifahren unter Engländern populär machen sollte). Zusammen mit einem Pfarrer namens Hocking machte er eine Gletscherbegehung, erzählte ihm von seinem Problem mit Sherlock Holmes, und Hocking schlug angesichts einer Gletscherspalte vor, den Mann doch dort hineinzuwerfen. (Auch zwei andere Geistliche beanspruchten übrigens die Anregerschaft.) Erst auf der Rückfahrt, schon in Paris (so schildert es jedenfalls Conan Doyles Biograf Andrew Lycett), ging dem Autor auf: Nicht die Gletscherspalte, der Wasserfall war das ideale Grab! Zurück in seinem Landhaus in South Norwood, schrieb er «The Final Problem», schickte es seinem Verleger und notierte befriedigt im Tagebuch: «Killed Holmes». Die Popseite seines Schaffens war er ein für allemal los.

Die Freude war voreilig. Als die Erzählung im Dezember 1893 erschien, reagierten die Leser entsetzt und wütend zugleich, und in einem völlig unerwarteten Ausmass. Hunderte von Briefen erreichten ihn erneut, aber sie begannen mit Sätzen wie «You brute!». 20'000 Abonnenten kündigten den «Strand», die Besitzer waren nicht amüsiert. Aus­serdem liefen die historischen Romane nicht so gut wie ­erhofft. Dafür boten britische und amerikanische Verleger hohe Summen für neue Sherlock-Holmes-Storys. Conan Doyle kapitulierte und tat das, was unzählige Soap-Operas ihm nachtaten: Er liess den toten Helden wieder auferstehen.

Mit einem Spezialgriff einer japanischen Kampftechnik, erklärt er dem überraschten Dr. Watson und den beglückten Lesern, habe er sich im letzten Moment seinem Gegner entwunden, einen Felsvorsprung bestiegen und sich dann drei Jahre verborgen gehalten (in der Sherlock-Holmes-Forschung gilt diese Zeit als «Grosser Hiatus»; der ­Detektiv soll sie in Tibet, Persien und dem Sudan verbracht haben). Fortan löste er wieder Fall um Fall, und Conan Doyle produzierte und produzierte – er war das Geschöpf seines Geschöpfes geworden.

In Meiringen lebt Holmes noch heute, als Teil der touristischen Attraktionsstruktur: Auf dem zentralen Platz sitzt er in Bronze gegossen, den Kopf nachdenklich in die Hand gestützt; zünftig trinken kann man im Sherlock-­Holmes-Pub, übernachten im Sherlock-Holmes-Sporthotel; und im örtlichen Sherlock-Holmes-Museum ist der Salon des unsterblichen Detektivs nachgebaut, mit Kamin und Lehnstuhl, Pfeife und Deerstalkerhut, Lupe, Reagenzgläsern und Violine.

Im Hotel Du Sauvage (im Vorgänger, dem Wilden Mann, soll Holmes – nein, natürlich Conan Doyle – abgestiegen sein) finden regelmässig Krimi-Events zum Mitspielen («Mord im Hotel») statt, und zu den Reichenbachfällen fährt schon seit 1899 eine Zahnradbahn hinauf. Alle paar Jahre mit Mitgliedern der Londoner Sherlock-Holmes-Gesellschaft, die in zeitgenössischer Kleidung das «Final Problem» nachspielen – wenn auch nicht ganz bis zum finalen Todessturz.

Martin Ebel

«Ewig war ich, ewig bin
ich dein»


Richard Wagner

Sechs Jahre hat Richard Wagner auf dem Grünen Hügel von ­Tribschen bei Luzern verbracht. Erstmals vereint mit seiner ­Cosima. Und mit Friedrich Nietzsche als Stammgast.

Der Titel mochte etwas umständlich sein: «Tribschener Idylle mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang als Symphonischer Geburtstagsgruss» lautete er. Aber die Musik, die rührte Cosima Wagner unmittelbar zu Tränen, als sie an ihrem 33. Geburtstag davon geweckt wurde. Ein paar Zürcher Tonhalle-Musiker spielten das Stück, das später als «Siegfried-Idyll» bekannt wurde, auf der Treppe des Landhauses in Tribschen. Und tatsächlich, ein liebevolleres Werk hat Wagner kaum je komponiert: «Mit Ruhe» und «dolce» ist es zu spielen, als Anspielung auf den damals ein­einhalbjährigen Sohn Siegfried alias Fidi sind Zitate aus dem «Siegfried» eingeflochten. Und Cosima dürfte auch die Melodie der Brünnhilde erkannt haben: «Ewig war ich, ewig bin ich dein.»

Wenige Monate davor, am 25. August 1870, hatte das Paar in Luzern geheiratet; eine turbulente Liebesgeschichte war damit amtlich besiegelt worden. Die beiden hatten sich verliebt, als die Liszt-Tochter Cosima noch mit dem Dirigenten und Wagner-Verehrer Hans von Bülow verheiratet war; die Scheidung beantragte sie erst, als die Töchter Isolde und Eva und Sohn Siegfried bereits geboren waren und sie mit Wagner in Tribschen lebte.

Das idyllische Landhaus auf dem auch heute noch grünen Hügel bei Luzern hatten sie zusammen während einer Schifffahrt im März 1866 entdeckt. Bereits im April zog Wagner ein, damals noch allein (Cosima folgte 1868). Die Miete von 5000 Franken jährlich bezahlte der Bayern-König Ludwig II., der Wagner schon seit Jahren verehrte und finanzierte und bald auch in Tribschen auftauchte. «An diesem jungen Könige hat die Kunstwelt einen trefflichen Thea­ter-Direktor eingebüsst», lautete der spitze Kommentar im «Luzerner Tagblatt». Ludwig II. selbst scheint sich eher als Opernfigur gesehen zu haben, jedenfalls liess er sich bei Wagner als Walther von Stolzing anmelden, als den noblen Protagonisten der «Meistersinger von Nürnberg» also, die in jener Zeit entstanden.

Überhaupt waren es produktive Jahre für Wagner. Ne­ben den «Meistersingern» schrieb er in Tribschen den dritten Akt des «Siegfried» und begann mit der «Götterdämmerung». Ausserdem überarbeitete er seine Hetzschrift über «Das Judentum in der Musik», die er neu unter seinem eigenen Namen herausbrachte (die erste Version war 1850 unter dem Pseudonym K. Freigedank erschienen).

Die grossen Wanderungen, auf denen er schon in den 1850er-Jahren die Innerschweiz kennen gelernt hatte, waren ihm inzwischen zu anstrengend; wenn schon, liess er sich mit seiner Gattin in einer Sänfte auf den Pilatus tragen. Aber die Landschaft um seinen «Lieblingsberg», die Rigi, fand zweifellos ein Echo in seiner Musik: etwa wenn in der Nornenszene der «Götterdämmerung» die Sonne den Nebel zerteilt. «Wo noch ein Grashalm wächst, ist die Möglichkeit für Goethe und Schiller da», zitiert ihn Cosima, «aber wo bloss Stein ist, da ist Ruhe, da ist der Platz für Götter.» Beim Blick in die Berge dürfte er sich seinem Opernpersonal durchaus nahe gefühlt haben.

Unten, in Tribschen selbst, hausten dagegen keine Götter, sondern neben der Familie Wagner eine Gouvernante, ein Kindermädchen und weiteres Personal; dazu ein Pferd, Hunde, Katzen, Fasane und zwei Pfauen namens Wotan und Fricka. Eine besondere Rolle scheint eine gewisse Vreneli Weidmann aus Embrach gespielt zu haben, die Wagner schon in Genf und München als Haushälterin geschätzt hatte: Jedenfalls, so bemerkten die Zeitgenossen, sollen ihre drei Kinder auffällig ihrem Brotherrn geglichen haben.

Man pflegte ein offenes Haus, Ludwig II. war bei weitem nicht der einzige illustre Gast. Da war auch noch ein junger Professor, der an der Universität Basel klassische Philologie lehrte. Sein Name: Friedrich Nietzsche. Richard Wagner war sein zweites Idol nach Arthur Schopenhauer, auch Cosima scheint er geschätzt zu haben – so sehr, dass er sich willig für allerlei Kommissionen einspannen liess. In Basel sollte er für Weihnachten Tüll mit Goldsternchen besorgen, in Dresden eine Silberampel, in Salzburg «einige Pfunde Caramels, dito Pâte d’Abricots, eine Schachtel Fruits Confits (keine in Gläsern mit Syrup sondern glacierte) und eine Tüte Orange Glacées», wie Cosima notierte.

Nietzsche wurde zum Stammgast in Tribschen, ein Zimmer im zweiten Stock wurde für ihn eingerichtet, und er verbrachte hier «Tage des Vertrauens, der Heiterkeit der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke,» wie er 1888 in «Ecce Homo» in einer ziemlichen Verklärung der Vergangenheit schrieb. Damals war es längst zu jenem Bruch ­ge­kommen, den Cosima vorausgeahnt zu haben scheint: Nietzsche wehre sich gegen die «überwältigende Persönlichkeit R.s», notierte sie in ihrem Tagebuch, das sie in Tribschen zu führen begonnen hatte und das zu den wichtigsten Quellen der Wagner-Forschung gehört.

Cosima selbst, auch das zeigt dieses Tagebuch, gewann zunehmend die Kontrolle über diese «überwältigende Persönlichkeit». Wagner habe sich ihrem Regiment unterworfen, «das ihn zugleich unbarmherzig tadelte und kritiklos zum Abgott erhob»: So brachte der Wagner-Biograf Joachim Köhler das Verhältnis auf den Punkt. Das Glück, das im «Siegfried-Idyll» anklingt, dürfte zuweilen beengend gewesen sein – die säuberlich rapportierten Atembeschwerden und Brustkrämpfe des Komponisten lassen jedenfalls da­r­auf schliessen.

Aber der gemeinsame Weg war eingeschlagen, man ging ihn weiter, in aller Konsequenz. 1872 führte er dann weg von Tribschen, weiter nach Bayreuth, wo Wagner auf einem anderen grünen Hügel sein Ziel erreichte.

Susanne Kübler

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