Читать книгу: «Helle und dunkle Tage», страница 3
An der Tür empfing mich eine sehr gepflegte Dame mit einem leichten Basedowblick, der mich ein wenig zur Vorsicht gemahnte. Im Hintergrund wartete noch ein dem Babyspeck nicht ganz entwachsener Teenager: Barbara, eine junge Engländerin, die in 6 Wochen ein wenig Deutsch lernen sollte Wir wohnten für diese Zeit zusammen im Gästezimmer unterm Dach und verständigten uns ganz gut. Barbara erzählte mir von ihren fünf Brüdern, während ich meinen Koffer auspackte. Den kleinen dreijährigen Timothy liebte sie besonders und vermisste ihn nun sehr, sodass ich sie ein bisschen trösten musste. Dann rief Frau Florin uns zum Abendessen, wobei sie mit kleinen Spezialitäten Ehre einlegte. Sie war überhaupt eine gute Köchin und verstand in der Folge immer wieder, meine Abmagerungsbestrebungen geschickt in Grenzen zu halten. Wenn ich zum Beispiel morgens nur ein Brötchen essen wollte, so gab es bestimmt eine Riesentasse Kakao dazu, oder wenn ich am Abend auf einer Scheibe Brot bestand, so war darauf sicher Käse, Schinken und Ei.
Im übrigen organisierte sie gern: so schickte sie mich gleich am nächsten Morgen zu einem Sohn ihrer Bekannten, der gerade die Untersekunda hinter sich hatte, damit ich gebrauchte Bücher von ihm erwerben konnte und vielleicht einige Aufschlüsse über Lehrer und Schule bekam. Der junge Mann gab sich auch alle Mühe; aber er entsprach mit seinen Knickerbockern und Brille so wenig meinen Vorstellungen, dass dies die einzige Begegnung blieb.
So wanderte ich am Montagmorgen denn auch allein in die neue Schule, nachdem mir Herr Florin den Weg durch Eifel- und Ringstraße genau beschrieben hatte. Wir fahren diesen Weg heute noch, wenn wir mit dem Auto von Gerolstein kommen, und die Schule sieht noch genauso alt und düster aus wie damals. Ich meldete mich im Sekretariat und stand dann in meinem Kleppermantel und rotem Strickmützchen vor einer Klasse von über 30 Jungen, die mich neugierig musterten. Mir war etwas merkwürdig, bis ich in der ersten Bank zwei Gesichter entdeckte, die mir bekannt vorkamen. Es waren zwei Jungen aus meiner alten Klasse in Gerolstein, die lieber in Mayen weiter zur Schule gingen als in Prüm.
Die Wiedersehensfreude war durchaus beiderseitig und erleichterte mir den Anfang und den unbefangenen Umgang mit den andern Jungen sehr. Für die Schulleitung war ich in mancher Hinsicht ein Problem: so musste ich am Sportunterricht von Mädchen teilnehmen, die zwei bis drei Jahre jünger als ich waren. Geräteturnen war für mich etwas ganz Neues, und so brachte ich allen Mut auf, um an Barren, Pferd und Kasten alle Sprünge zu leisten, die gefordert wurden. In Handarbeit war es noch schlimmer: da konnte ich an keinem Unterricht teilnehmen, sondern musste nach Angaben der Lehrerein zu Hause sticken. Das Resultat: eine selbst entworfene, mit Hagebutten bestickte Decke, existiert allerdings heute noch.
Zum Jahresende musste ich dann noch zu einer Kochprüfung angemeldet werden, die im Koblenzer Hilda-Gymnasium stattfand. Ohne dieses Haushaltsexamen durfte kein Mädchen in die Oberstufe, weil ein deutsches Mädchen ja in erster Linie auf die Pflichten der Hausfrau und Mutter vorbereitet werden sollte. Leider bestand meine Praxis in Haushaltsfragen ausschließlich im Backen von Weihnachtsplätzchen und dem Rühren von Marmorkuchen. Ich versuchte zwar, bei Frau Florin am Mittagstisch mein Wissen theoretisch etwas aufzubereiten; aber ich fuhr zu dieser Prüfung mit einer Angst, wie ich sie später vor keinem Examen hatte.
In der Küche der Hildaschule zogen wir dann aus verdeckten Zetteln unsere Aufgabe, und ich hatte Glück: auf meinem Zettel stand: “Kaffee und Marmorkuchen“. Das glaubte ich zu können! Trotz des Trubels und der fremden Küche wurde mein Marmorkuchen ganz ansehnlich, und auch der Kaffee war schon fertig, während die Gutachter noch beim Hauptgang saßen. Ich stellte daher die Kanne in heißes Wasser auf eine Kochplatte und half den andern Mädchen beim Spülen. Endlich wurde mein Name aufgerufen, damit ich Kaffee und Kuchen servieren sollte. Ich hob meine Kanne aus dem schon trockenen Topf und – hielt die Kanne ohne Boden leer in der Hand, während der Kaffee im Topf stand. Ich war wie vom Blitz getroffen und stand wie erstarrt. Als ich wieder denken konnte, liefen mir die Tränen übers Gesicht, weil mir die Nerven durchgingen nach der Anspannung der letzten Stunden; aber ich musste mich zusammennehmen: neuen Kaffee aufgießen und die Prüfungskommission bewirten. Ich sah kein Gesicht, so schämte ich mich, und selbst, als ich mit dem Schein in der Tasche im Zug saß, hatte ich noch das Gefühl einer bodenlosen Niederlage.
Zum Glück kam ich aber in allen Fächern, die ich mit den Jungen gemeinsam hatte, gut zurecht. Das Fach „Deutsch“ hatten wir bei Studienrat Kunz, der auch in der Eifelstraße wohnte und eine hübsche Tochter in meinem Alter hatte. Vielleicht machte es ihm deshalb so viel Freude, mich in harte Diskussionen mit Klassenkameraden – zum Beispiel mit Konrad Beil, der heute Chefarzt in Lahnstein ist – zu verwickeln. Da er auch Geschichte und Erdkunde gab, waren die ersten Deutschaufsätze von Themen aus diesem Gebiet bestimmt: „Indiens Stellung im Welthandel“ und ähnliches, wobei ich meine Phantasie sehr unter Kontrolle halten musste. Als er dann ein halbes Jahr lang „Maria Stuart“ besprach, entwickelte er vor den Aufsätzen immer seine eigenen Ideen, was ich nicht als Hilfe, sondern eher als geistigen Diebstahl ansah.
Latein und Griechisch unterrichtete Studienrat Bode, der sich ohne viel Erfolg bemühte, die Jungens zum Vokabellernen zu bewegen. In jeder Stunde wurde beispielsweise Konrad aus Ulmen aufgerufen, um seine Kenntnis der unregelmäßigen Verben unter Beweis zu stellen; aber es endete immer mit einer Fehlanzeige,obwohl er morgens im Zug Zeit genug dafür gehabt hätte.
Mathematik hatten wir bei Dr. Schwetz, der später bei Prüm ein Magazin der Wehrmacht leitete und von dort aus als häufiger Gast zu uns nach Hause kam. Er lief meist ganz verzweifelt vor der Klasse auf und ab, die Daumen seitlich in der Weste, mit den Worten: „Jungens, so geht das nicht weiter!“, wobei er offenbar meine Anwesenheit ignorierte.
Ausgesprochen gern hatte ich den Zeichenunterricht bei einem jungen Lehrer, der auch selbst malte. Da er mit seiner Familie ebenfalls in der Eifelstraße wohnte, sah ich mir hin und wieder seine Bilder an. Die übrige Klasse war in seinen Stunden ziemlich unruhig, zumal dieses Alter offenbar besonders albern ist. Wir arbeiteten in einem Klassenraum, der im 3. Stockwerk eines Seitenflügels der Schule untergebracht war. So hatten wir vor den Unterrichtsstunden noch einige Minuten Zeit, die zum Abschreiben der Hausaufgaben, dem Erklären von Mathe-Aufgaben und ähnlichem genutzt wurden, eine Aktivität, die den verbummelten Nachmittag ausgleichen sollte. So stand dann meist vor der Tür einer Posten, um mit dem Ruf: „Fluten! Er kommt!“ in die Klasse zu stürzen, wenn am Fuße der Treppen der Lehrer auftauchte.
Dass sich die Jungen aber auch schon als Kavaliere verhalten konnten, zeigte sich bei unserm ersten Ausflug, den wir mit dem Bus nach Bad Ems machten. Ich staunte wirklich, als Walter Kohlhaas, unser bester Sportler, unbedingt meine Jacke und meinen Brotbeutel tragen wollte und mich außerdem noch zum Bootfahren einlud. Er war übrigens der Einzige, den ich später in Bonn beim Studium wiedertraf, als ich im heißen Sommer 1947 zum Schwimmen in die Rheinau kam. Er sonnte sich dort in Begleitung seiner hübschen Freundin, und wir trafen uns dann öfters, um zusammen zu den Lastkähnen zu schwimmen und auf ihnen ein Stück stromaufwärts zu fahren. Zu dieser Zeit war es noch natürlich, im Rhein zu schwimmen.
Ich musste auch am Morgen nicht mehr allein zur Schule wandern, weil Felix Ohl, der ein paar Häuser weiter wohnte, jeden Tag auf mich wartete. Eigentlich war er eher schüchtern und zurückhaltend, aber bald fand er es selbstverständlich, mit mir zusammen die Eifelstraße hinunterzugehen. An der Ecke Bahnhofstraße stießen wir beide dann auf Heiner Orth von der Kohlenhandlung, die heute noch in Mayen besteht. Er war ein lustiger Kerl, der gern seine Freunde nachmittags im Café freihielt und Zigaretten verteilte, die für uns damals eine Rarität bedeuteten, und bei deren Qualm wir uns sehr erwachsen vorkamen.
Beide Jungen spielten Tennis, ein Umstand, der Frau Florin auf die Idee brachte, sie könnten Barbara und mich ein wenig in diesen Sport einführen, der für die Mayener Jugend so eine Art Statussymbol darstellte. So verbrachten wir Mädchen manchen Nachmittag auf dem Tennisplatz, wobei sich unsere sportliche Tätigkeit in Grenzen hielt. Alle Gleichaltrigen spielten ja schon jahrelang, sodass wir uns doch sehr unterlegen fühlten.
Manchmal kam auch Rosemarie, die bei ihren Verwandten in der Nähe des Platzes wohnte, um uns zuzuschauen; aber sie konnte selbst nicht spielen, weil sie zu schwache Handgelenke hatte. Als Barbara zurück nach England ging, hörte ich mit dem Tennisspiel wieder auf, weil ich meine Nachmittage lieber mit Rosemarie verbrachte, mit der mich bald eine enge Freundschaft verband. Sie war mir gleich in den ersten Tagen auf dem Schulhof aufgefallen, weil sie, genau wie ich, als Neuling noch ein wenig abseits stand. Sie besuchte die 10. Klasse des Lyzeums für Mädchen, das mit dieser Klasse aufgelöst wurde, weil das Gymnasium die Mädchen nun auch aufnahm. Rosemarie wirkte mit ihrer überschlanken Gestalt, den blauschwarzen Haaren und veilchenblauen Augen ganz exotisch zwischen ihren Klassenkameradinnen. Ich erfuhr dann auch, dass ihre Mutter Jüdin sei und ihr Vater sich deshalb von ihr getrennt habe. So sollte sie nun in Mayen ihre „mittlere Reife“ machen, um dann einen Beruf zu erlernen.
Es wurde ein gutes und erlebnisreiches Jahr für uns beide, besonders als die Zeit der Tanzstunden begann. Da Rosemarie fein und biegsam war, wurde sie von den jungen Herren gern zum Tanzen geholt, und sie hatte auch bald einen treuen Partner, mit dem sie einen Teil ihres Nachmittages verbrachte. Natürlich hatte ich auch schnell einen Tanzstundenfreund: Toni war schlank, größer als ich und hatte blaue Augen zu dunklen Haaren. Er war hübsch, aber nicht männlich, dafür sensibel und intelligent. Wir verstanden uns so gut, dass wir nicht nur die Tanzstunden, sondern nahezu unsere gesamte Freizeit miteinander verbrachten. Nach der Tanzstunde gingen wir natürlich mit Rosemarie und Hans nach Hause, wenn auch in einem gewissen Abstand. Dabei umkreiste uns ständig mein Klassenkamerad Konrad aus Ulmen, der als Einziger aus meiner Klasse an unserm Tanzkurs teilnahm und sich nun als sehr anhänglich erwies. Bis zur Bahnhofstraße war er einfach nicht abzuschütteln, und von da hatte ich auch nur noch ein paar Schritte bis nach Hause.
Bald allerdings erschien Toni jeden Nachmittag am Fenster meines Arbeitszimmers, in dem ich auch Nachhilfestunden in „Latein“ gab, um mich zum Spaziergang im „Märchenwald“ abzuholen oder mit mir einen Stadtbummel zu machen. Frau Florin machte mir dann ab und zu Vorhaltungen, weil ich in der Stadt etwa die Frau eines Lehrers nicht gegrüßt habe. Wir hockten auch manchen Nachmittag mit Freunden im Café in einer angeregten, vielleicht auch etwas überspannten Stimmung, wie ich sie vor dem Tanzkurs noch nicht erfahren hatte. In diese Zeit fiel auch der Lukasmarkt, den wir besonders am Abend sehr genossen. Natürlich bekam ich ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift: „Ich liebe Dich!“, und dann stiegen wir aufs Riesenrad, wo wir mit klopfenden Herzen über den Lichtern in der Gondel schaukelten.
Ja, und dann kam der Schlussball, eigentlich immer ein wichtiges Ereignis im Leben junger Menschen; wie ich bei meinen Kindern nicht dabei sein konnte, so waren auch meine Eltern an diesem Abend beide nicht dabei. Ich hatte wohl ein langes, blaues taftseidenes Kleid bekommen, in dem ich mir attraktiv und erwachsen vorkam, und ich fand auch das Tanzen mit Toni in dem festlichen Rahmen herrlich und natürlich auch die Musik und die Abschlusspolonnaise, die im Keller mit installierten Sektlauben endete. Toni und ich hatten eine Laube für uns erobert und wir tranken sehr zufrieden ein Gläschen Sekt, während andere uns übermütig über den Vorhang neckten. Als wir von der Nebenlaube Schunkellieder hörten,wechselten wir zu dem fröhlichen Haufen über, der aus Primanern und einem Assessor bestand, der eine Runde Bier für alle spendierte. Auch Rosemarie und Hans Dany tauchten auf, und wir sangen und schunkelten, bis der Tanzlehrer das Ende der Veranstaltung verkündete.
Als ich am Montagmorgen in die Schule kam, spürte ich sofort die gedrückte Stimmung, die ich mir nicht erklären konnte. Auf meine vorsichtige Nachfrage erfuhr ich, unser junger Chemielehrer sei vom Direktor gefeuert worden. „Der ist aber doch sehr nett; am Abend unseres Tanzfestes hat er noch der ganzen Oberprima Bier spendiert!“, meinte ich. Aber genau das war der wunde Punkt. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war daran wohl falsch? Kopfschüttelnd betrat ich meine Klasse, in der nun der Griechischunterricht bei Dr. Bode begann. Wir hatten gerade die Odyssee angefangen und mir gefiel diese Lektüre sehr. Da klopfte es an der Tür, und ich hörte eine Stimme: „Else Winter bitte sofort zum Herrn Direktor!“ Ich hatte keine Ahnung, was ich wohl angestellt haben könnte.
Der Herr Direktor saß hinter seinem Schreibtisch mit der Miene des wütenden Jupiters. Das Verhör begann sofort: es handelte sich um unseren Abschlussball. Offensichtlich hatten mich Lehrer, bei denen ich gar keinen Unterricht hatte, die aber Töchter in meinem Alter besaßen, sehr kritisch beobachtet: ich hätte „auffällig“ getanzt, hätte mit meinem Freund in einer Sektlaube gesessen und später in der Gesellschaft der Oberprima sogar auf seinem Schoß. Wer sich so verwerflich benehme, müsste die Schule verlassen. Die Sektlaube sei für Jugendliche nicht zugelassen. „Was haben Sie dort gemacht?“, fragte mich der Zornige. „Wir haben Sekt getrunken“, sagte ich. „Und weiter?“, wollte er wissen. „Nichts weiter“, war meine Antwort. Daraufhin er: „Den Rosenkranz werden Sie sicher nicht gebetet haben!“ „Nein“, sagte ich, „ich bin evangelisch“. Jetzt tobte er geradezu und sagte: „Ihre Eltern bekommen die Androhung Ihrer Verweisung von der Schule!“ Das war zu viel – ich heulte nun dicke Tränen, auch, als ich wieder in die Klasse kam. Dr. Bode ließ mich völlig in Ruhe, und die Jungen benahmen sich äußerst mitfühlend. Als wir auf den Hof gingen, bildeten sie einen schützenden Kreis um mich, damit mich niemand weinen sah. Sie standen voll auf meiner Seite, und ich fühlte mich bei ihnen geborgen.
Am Nachmittag schrieb ich einen langen Brief nach Hause, in dem ich über alles berichtete. Zwei Tage später sprach meine Mutti mit dem Herrn Direktor; danach war von meiner Verweisung von der Schule nicht mehr die Rede. Als ich im nächsten Jahr den Direx als Geschichtslehrer hatte, bekam ich sogar ein „Sehr Gut“ auf dem Zeugnis. Mir gefiel sein Unterricht, weil er Geschichte aus alten Quellen der Klosterbibliothek erschließen und nicht einfach Zahlen oder Daten lernen ließ.
Als ich bei meinem „Verhör“ darauf hingewiesen hatte, dass ja auch Rosemarie an allem teilgenommen hatte, meinte der Direktor: „Ach, die hat genug Schwierigkeiten.“ Ich verstand diese Antwort erst viel später, als Rosemarie nicht mehr in Mayen war. Noch waren wir Tag für Tag zusammen bis zum Ende des Schuljahres. Dann ging meine Freundin, wie geplant, nach Dresden, wo sie eine Stelle als Sekretärin annahm und sich auch wohl dabei fühlte. Nun gab es in Dresden eine Schule für angehende Offiziere, es wurde getanzt und geflirtet, und Rosemarie verliebte sich und war glücklich, weil der junge Mann sie heiraten wollte. Dann stellte sich heraus, dass er auf seine Karriere verzichten müsste, wenn er eine Halbjüdin heiratete. Rosemarie war verzweifelt, sie bat ihren Vater um Hilfe zur Ausreise, und als er ablehnte, drehte sie den Gashahn auf. Auf dem Tisch ihrer Wohnung lag ein Brief, den ihre Wirtin mir zuschickte. Leider bekam ich ihn erst nach meiner Rückkehr von der Ostsee und es war zu spät. Ich habe den Brief meiner Freundin heute noch, denn ihr Freitod hat mich tief berührt.
Hier ist der letzte Brief von meiner Freundin, der ihre persönliche Lage und ihre Gefühle sehr deutlich macht.
Breslau, den 14.8.38
Meine liebe Else!
Eigentlich bin ich böse mit Dir, weil Du mir bis heute nicht auf meinen letzten Brief geantwortet hast. Hast Du schon Ferien gehabt, oder bist Du gerade mittendrin? Ich hoffe, in nächster Zeit, von Dir zu hören, aber bitte ausführlich!
Denk doch, heute erhielt Mutti die Verlobungsanzeige von Helmut M., er hat sich nun doch mit dem Mädchen verlobt, dessentwegen er mich damals verlassen hat. Na, Friede mit ihm! Sylvester wollte er sich wegen einer Ilse den Puls aufschneiden, im März „liebte“ er mich und jetzt im August verlobt er sich mit einer dritten. Ganz so kalt wie ich es gewünscht und gewollt hätte, hat mich die Nachricht ja nicht gelassen, obwohl ich jetzt doch Achim habe. Du, außer Achim existiert noch ein Felix. Der Mann ist aber schon 38 Jahre alt, Dr.Dr.med., und will mich angeblich heiraten. Stelle dir das vor! Ganz abgesehen davon, dass ich ja in Deutschland nicht ohne weiteres heiraten darf, weiß ich nicht, was ich mit ihm und Achim zur gleichen Zeit anfangen soll. Kannst Du Dir vorstellen, dass ich zwei Männer gleichzeitig gern haben kann? Und doch ist es so. Was der eine nicht hat: Gediegenheit, Festigkeit usw., hat der andere – und der andere ist jung, lustig, froh, unbeschwert und gut, leider zu verwöhnt. Zu allem Unglück ist er auch noch verlobt. Aber die Braut ist nicht hier, und ich weiß nicht, ob ich mich schelten muss, weil ich ihn trotzdem liebhabe, auch wenn ich weiß, er gehört einer andern.
Ach, Else, ich wünschte, ich könnte mich wieder mal von Herzen mit Dir ausplaudern. Weißt Du noch, Dein gemütliches kleines Zimmer bei Florins? Denkst Du überhaupt noch manchmal an dieses herrliche Jahr, das wir gemeinsam verlebt haben? Je schwerer mein Leben wird – ich kann Dir gar nicht sagen, was alles schwer auf uns lastet, wie viele Sorgen sowohl pekuniärer Art wie z.B. durch Krankheiten – in desto verklärterem Licht erscheint mir dieses glückliche Jahr in Mayen. Gerade jetzt liegen wieder einmal die Karten aus der Tanzstundenzeit vor mir, weißt Du, die, durch die die Ballkönigin gewählt wurde. Ich sehe sie mir oft an, auch das Tagebuch, in das Ihr alle eingeschrieben habt. Sonst führe ich es nicht mehr. Seit Friddy (ihr Vater) darin gelesen hat und Dinge herauslesen zu müssen glaubte, die niemals darinstanden, ist mir die Lust dazu genommen. Seit er nicht mehr hier ist, ist mir, als ob ich von einer Zentnerlast befreit sei. Auch Mutti ist jetzt über ihren Kummer weg – wenn auch vielleicht nicht ganz. Aber er benimmt sich auch zu abscheulich jetzt, als dass ich ihn noch lieb haben könnte. Ich will garnicht von alledem reden. Ich hoffe nur immer auf den Tag, da wir wieder so zusammensitzen können und uns alles vom Herzen herunterreden können. Ich habe hier leider trotz Achim und Felix niemanden, dem ich so alles erzählen kann, vor allem keine Mayener Freundin. Ich kenne sehr nette Mädel, aber im Vergleich zu uns beiden ist halt alles nicht das Richtige.
Warum schreibe ich Dir eigentlich heute? Es regnet draußen in Strömen, als ob alle die entsetzlich heißen Tage auf einmal wieder gutgemacht werden sollen. Es ist Sonntag nach dem Mittagessen, Mutti schläft, ich bin ganz allein, allein mit der Dokumentenmappe, die ich mir, wie so manches andere, vorgenommen habe und aus der ich alle diese Erinnerungen an Dich und unsere Mayener Zeit heraufbeschworen habe.
Nun etwas anderes: weißt Du nicht, ob irgendjemand von Mayen hier war zum Turn-und Sportfest? Ich hatte so auf Besuch gehofft! Leider vergebens. War das hier ein Trubel und Betrieb!
Ich habe auch den Führer gesehen, aus nächster Nähe! Es war fabelhaft. Tschaume-Osten und Seis-Inquard (österreichische Politiker) drückten mir die Hand, da ich das Glück hatte, ganz dicht beim Wagen zu stehen. Es war ganz wunderbar. Zwei Millionen Freunde!!! Erschütternd war der Einzug der Auslandsdeutschen, die dauernd Sprechchöre bildeten, wie „Sudetenland grüßt Breslau!“ oder „Sudetenland wartet auf den Führer!“ oder „Sudetenland bleibt deutsch!“ (Nach dem Krieg haben die Tschechen die Sudetendeutschen alle vertrieben. Es gibt immer noch ein Jahrestreffen und den Wunsch nach Rückkehr) Ich war ganz ergriffen und viele, viele weinten. Rührend waren auch die Österreicher: „Die Ostmark dankt dem Führer“, und dann ein ungeheurer Jubel. (wegen dem Anschluss ans Reich) - in der Wochenschau im Kino wirst Du ja den Teil aus dem Festzug sehen, wo die Sudetendeutschen einfach die Absperrungsketten der SS und der Polizei durchbrechen und auf den Führer losstürzen, um ihm wenigstens die Hand zu drücken.
Ach Else, ich habe alles so von Herzen miterlebt und darf doch nicht dazugehören. Du glaubst garnicht, wie schwer das ist, dieses Abseitsstehenmüssen. Und genauso begeistert wie ich ist meine Mutter, genauso meine Großmutter, die voller Begeisterung war, damals, als sie noch jünger war: 1914-1915, begeistert für Deutschland. Und wir werden heute zu etwas gestempelt, zu „Juden“, mit denen uns nichts Gemeinsames mehr verbindet, von denen sich schon meine Großeltern lossagten, von denen meine Mutter nichts kennt und auch nicht in derem Sinne erzogen ist, genauso wie Du und ich und andere deutsch empfindenden Menschen. Es ist unsagbar traurig, dieses Geschick, für das wir nichts können, in das wir hineingerissen werden. Das typische Judentum ist etwas Widerliches und für uns Fremdes, mir aber genauso fremd wie Dir, meiner Mutter, Großmutter und allen andern, die ich kenne. Vorläufig haben wir ja äußerlich nichts darunter zu leiden, da es niemand weiß hier in Breslau. Aber wie leicht kann es herauskommen. Ich habe eine Stellung angenommen, weil mich meines „arischen“ Aussehens wegen niemand gefragt hat, ob ich etwa nicht arisch sei; ich bin in der DAF usw., ebenfalls weil mich keiner fragte, und weil ich nichts zu unterschreiben brauchte, was ich nicht mit gutem Gewissen hätte unterschreiben können! Und wenn mich mal jemand zur Rede stellt, später, dann werde ich eben alles hinnehmen. Aber ich werde immer dabei bleiben, dass sie aus einer Deutschen nicht plötzlich etwas anderes machen können, und dass ich nie und nimmer etwas anderes sein möchte. Das Blut kann gar keine so große Rolle spielen; denn sonst müsste ich doch irgendwo in mir eine verwandte Seite mit dem Judentum entdecken!! Ach Else, das Schlimmste daran ist ja, dass man sich immer, wenn man sich gerade für etwas begeistern will, sagen muss: du gehörst ja nicht hierher, und es wird sich ja auch nie ändern. Es wird immer schlimmer mit den Maßnahmen gegen die Juden. Wie gesagt, wir haben an sich noch nicht kennengelernt, wie man als Jude daran ist heute, eben weil es niemand weiß von uns (außer unseren besten Freunden; aber schon diese geistigen und vor allem Dingen seelischen Hemmungen sind scheußlich.)
Ich plane dauernd, ins Ausland zu gehen. Es ist nur heute alles so schwer, besonders wenn man kein Geld hat. Aber vielleicht ist es durch Vatis Beziehungen als Kaufmann möglich, nach Kanada oder irgendwohin zu kommen. Ich muss nur erst einmal mit ihm sprechen. Nächsten Sonnabend! Sonntag fahre ich ihn in Neiße besuchen. Erstens ist er krank und zweitens ist der 21.8. Klausels dritter Todestag. (Rosemaries Bruder war an TBC gestorben)
Nun aber Schluss! Das ist ja ein richtiger Trauerbrief geworden! Nein, das ist wirklich nicht meine Art, den Kopf so hängen zu lassen. Irgendwie wird uns schon weitergeholfen Bisher hat uns der liebe Gott noch nie ganz im Stich gelassen, er wird auch jetzt weiter helfen, das ist mein fester Glaube.
Nun Schluss! Antworte bitte bald! Du kannst Dir denken, wie ich auf einen Brief von Dir lauere.
Herzlichste Grüße, immer Deine Rosemarie.
Das zweite Jahr: auf dem Emminger Hof
Rosemarie war nun in Dresden, und von meinem Freund Toni hatte ich Abstand genommen, weil er mich mit seiner Zuneigung mehr an sich fesseln wollte, als mir recht war. Als ich daher vom Baron von Heddesdorf das Angebot bekam, auf seinem Gut, dem „Emminger Hof“, zu wohnen und täglich seinen drei Kindern bei den Aufgaben zu helfen, nahm ich mit Freude an.
Jeden Morgen fuhr uns der Baron mit dem Auto zur Schule und holte uns um ein Uhr wieder ab. Nach dem Mittagessen hatten wir Freizeit, und nach dem Nachmittagskaffee um 16 Uhr begann der Ernst des Tages: gemeinsame Schularbeiten bis 7 Uhr. Dabei brauchte ich den beiden Ältesten kaum zu helfen, wohl aber dem Quartaner Dieter, der ein Träumer war und daher bei den Aufgaben immer neben mir saß. Solange ich ihn betreute, kam er in der Schule auch gut mit. Ich selbst musste manche Arbeit noch am Abend angehen.
Trotzdem fühlte ich mich auf dem Gut wie ein Tier, das man nach langer Dressur wieder in die Freiheit entlassen hat. Die frische Luft auf den weiten Feldern, wo ich von den Knechten lernte, mit der schweren Flugschar hinter einem kräftigen Pferd eine gerade Furche im Acker zu ziehen – und das Streifen durch die umliegenden Wälder, meist zusammen mit Gerlach, gaben mir ein Gefühl von Kraft und Gesundheit. Gerlach war nur ein halbes Jahr jünger als ich und hatte offenbar geradezu darauf gewartet, einen guten Kumpel zu bekommen, der alles mitmachte. Er brachte mir alles bei, was er besser konnte als ich.
So gab er mir im Auto seines Vaters Fahrstunden, bis ich den Wagen rückwärts aus der Garage vor die Küchentür fahren konnte, von wo wir morgens in die Schule starteten. Sonntags holten wir zusammen den Pastor in einem der umliegenden Dörfer ab, damit er in der Kapelle Gottesdienst halten konnte. Dabei saß ich am Steuer und Gerlach als Fahrlehrer daneben – und hinten auf der Rückbank saß der Pfarrer und harrte tapfer aus. Gerlach brachte mir auch Schießen bei : er war ganz begeistert, als ich mit einem Schuß aus dem Luftgewehr den Hahn auf der kleinen Kapelle traf, sodass der sich quietschend drehte.
Manchmal besuchten wir die Vettern Hermann und Werner Peters am andern Ende der Gehöfte, um mit ihnen Mauscheln oder 17 und 4 zu spielen; wir taten dies mehr der Gaudi wegen, denn sehr anspruchsvoll waren diese Spiele wirklich nicht. Hermann Peters, der sein Geld am liebsten auf Dorffesten ausgab, stiftete auch Gerlach dazu an, bei meiner Entführung eines Sonntagabends mitzuwirken. Gerlach sollte mich unter einem Vorwand nach unten locken, damit Hermann und seine Freunde mit mir im Auto zur Kirmes fahren konnten. Der Plan klappte auch, weil ich Gerlach vertraute, und so war ich plötzlich gegen meinen Willen auf der Fahrt nach Andernach. Es gefiel mir in dem Trubel dort aber überhaupt nicht. Dazu kam, dass wir am nächsten Tag eine Mathematikarbeit schreiben sollten. Gegen Mitternacht konnte ich dann Hermanns Freund Elberich dazu erweichen, mich nach Hause zu fahren; aber es wurde eine furchtbare Fahrt mit Kurvenschneiden, quietschenden Reifen, Herumschleudern – ein Albtraum wie ein anhaltender Sturz ins Dunkel. Karl Elberich erklärte so nebenbei, er fahre jedes Jahr ein Auto zuschanden, eine Bemerkung, die meine Abneigung gegen diese Voreifel-Playboys noch verstärkte. Zum Glück waren Heddesdorfs weder Snobs noch Angeber.
Weil wir uns gegenseitig etwas beibringen konnten, gab es nie Ärger; Denn Zynta, seine Schwester, mit der ich das Schlafzimmer teilte, war besser im Sport, obwohl sie zwei Jahre jünger war als ich – und wir hatten in der Schule diesen Unterricht gemeinsam. Nur die beliebte Mittwochsfahrt nach Koblenz bedurfte einer gewissen Regelung, weil immer nur drei „Kinder“ mitfahren konnten, und ich nun als viertes dazukam; also musste immer einer zu Hause bleiben. Wir fuhren an einem solchen Nachmittag zuerst nach dem „Oberwerth“, um in der großen Villa am Mozartplatz Eier, Äpfel, Kartoffeln usw. auszuladen und zu verkaufen. Ich weiß heute noch, dass der Eingang hinter dem Haus gleich in die große Küche führte. Danach stand es uns frei, in der Lache schwimmen zu gehen oder ins Kino oder nur in die Stadt bummeln zu gehen, Eis beim Italiener zu essen oder den besten Käsekuchen in der Stadt. Wir durften die dicken Scheiben Gouda auch nicht vergessen, die zum Abendessen heiß von der Pfanne auf die Kartoffeln kamen; dazu gab es Apfelkompott. So waren meine ersten Eindrücke von Koblenz durchaus positiv. Ich weiß allerdings auch noch, wie mich Zynta geheimnisvoll, mit interessiert scheuen Blicken auf die rot schimmernden Fenster, durch die Weißergasse führte. Meist mussten wir auch noch kleine Einkäufe erledigen: gleich beim ersten Besuch bekam ich eine bauchige Riesentasse, wie sie die andern Drei beim Frühstück benutzten. So fühlte ich mich bei Heddesdorfs als viertes Kind, so, als ob ich die verlorene Geborgenheit des vergangenen Jahres nun wiedergefunden hätte.
Der Mittwoch blieb für mich ein besonderer Tag, denn ein paar Wochen später musste ich am Abend in Ochtendung, das gleich hinter dem tiefen „Wolfertal“ liegt, junge Mädchen zu Feuerwehrmaiden ausbilden. Ich hatte bis dahin noch nie einen Feuerwehrschlauch in der Hand gehabt und musste erst selber alles lernen. Man schickte mich daher für zwei Wochen nach Frankfurt zur Landesfeuerwehrschule, wo wir dann morgens theoretisch und nachmittags praktisch ausgebildet wurden. Die Schule war in einer schönen, alten Villa untergebracht, die in einem großen Park lag. Wir lernten, kleine Brände mit Spritzpumpen im Eimer zu löschen und große mit Schläuchen am Hydranten und vieles mehr. Zum Schluss mussten wir noch eine Prüfung ablegen; dazu gehörte, dass man im dunklen Dachstuhl nach einer steckengebliebenden Brandbombe suchen sollte. Leider verstieg ich mich so gründlich, dass man mich mit einer Taschenlampe suchen musste, um mich zu befreien. Der spätere Unterricht in Ochtendung verlief, mit Hilfe der männlichen Feuerwehr, dann reibungslos, wenn wir zu dem Zeitpunkt auch noch keinen Ernstfall erlebten.
Бесплатный фрагмент закончился.