Читать книгу: «Helle und dunkle Tage», страница 2
Für die Beseitigung des Hungers war gesorgt; denn überall gab es Buden mit Würstchen, Kuchen oder Eis, und obwohl bei Sonne und Seewind fast alle Menschen indianische Bräune zeigten, war die Vielfalt der Rassen und Bekleidungen deutlich zu sehen. Es war gut, dass wir kein Hotel brauchten, sondern unsere Unterkunft hatten, in die wir am Abend dankbar zurückkehrten. Meine „drei Männer“ spielten am Küchentisch Skat, während ich mich um das leibliche Wohl kümmerte und auch einige Karten schrieb. Als sie ihr Spiel beendet hatten, grinsten sie mich vielsagend an: sie hätten beschlossen, dass der Sieger einen Kuss von mir bekäme, ich löste diese Übereinkunft, indem ich den Sieger: Günters Freund, ostentativ auf die Wange küsste.
Am nächsten Tag nahmen wir die Fähre und setzten nach Laboe über, um uns das Marine-Denkmal, einen 72 Meter hohen Turm in Form eines Schiffsbugs, anzusehen. Es liegt sehr dekorativ am Ausgang der Förde und hat im Innern noch eine große Gedächtnishalle. Es gibt da draußen auch einen Sandstrand, sodass wir uns beim Schwimmen noch erholen konnten. So hatten wir drei schöne Tage in Kiel, wenn wir auch von der Segel-Regatta nichts mitbekommen hatten.
Eigentlich waren wir wieder froh, in unserm gewohnten Ferienmilieu in Dahme zu sein. Für unsere Kieler Gastgeber war der Urlaub zu Ende, und wir bekamen einen neuen Nachbarn. Es war ein Junggeselle, der sich offenbar für unsere Familie interessierte, denn er versuchte, mit Hans und mir ins Gespräch zu kommen. Er hatte einen besonderen Namen: „Bahne Bahnson“, der uns gefiel. Über eine gewisse Ahnenforschung suchte er denn auch den Kontakt. Wir lagen nebeneinander im Sand und plauderten über Gott und die Welt, bis Mutti mir eines Abends eröffnete, Bahne Bahnson hätte bei ihr um meine Hand angehalten. Ich sagte:“Du hast doch hoffentlich abgelehnt!“, aber Mutti hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er sich in erster Linie an mich wenden müsse. Sie vertraute ganz darauf, dass ich die richtige Antwort fände. So sagte ich ihm am Abend, dass ich noch lange nicht an eine Bindung dächte, da ich erst Abitur machen wolle und dann studieren. Er verstand das und zog sich zurück Ich würde meine Freiheit sobald nicht aufgeben!
Mir genügte der freundschaftliche Umgang mit den gleichaltrigen Jungen, der aber für zwei Tage wieder unterbrochen wurde, und das war die Marine schuld: als wir am Morgen, wie immer, zum Strand kamen, bot sich uns ein ungewohntes Bild; draußen lag ein Schiff vor Anker, wie wir noch keines gesehen hatten: ein großes Kriegsschiff, aber schön und schnittig in der Form, ganz weiß vor dem blauen Himmel und der dunkleren Farbe des Meeres. Günter sagte sofort: „Das ist die Bismarck, das Flaggschiff seiner Art. Da müssen wir unbedingt an Bord!“
Am Nachmittag fuhren wir mit einer der ersten Barkassen hinaus, auch Mutti und Renate und auch Sietas. Es war das größte Ereignis dieses Sommers. Wir hatten Glück: als wir zu den großen Scheinwerfern am Heck kamen, nahm sich ein netter Maat unser an und machte eine richtige Führung mit uns durch das ganze Schiff. Er selber war für die Scheinwerfer zuständig- aber davon später. Wir bewunderten die militärische Ausrüstung des Schiffes, die Reichweite der Geschütze mit jeweils vier Rohren, die Lenkbarkeit und Panzerung. Dabei waren uns Gedanken an einen Kriegseinsatz völlig fremd. Unser Maat erkundigte sich, ob ich am Abend zum Tanz ins Casino käme, und wir verabredeten uns dort.
Herr Sietas, unser langjähriger Ferienbekannter, hatte schon einen Tisch bestellt und fühlte sich als Vizepapa. Am Nachmittag erschien dann noch Onkel Hugo, der in Lauenburg eine Zündholzfabrik besaß und uns alle Jahre in Dahme besuchte, mit einer Riesenpackung Pralinen und Rosen für unsere Mutti. Es war ein Bruder von Muttis Schwager Paul in Kassel, aber lustiger, unkonventioneller und kugelrund. Er tanzte gut und gern; weil er aber klein war, konnte ich immer ein bisschen über ihn hinweg blicken. Wir hatten also eine fröhliche Runde, und dann kam auch unser Maat vom Nachmittag und setzte sich gleich zu uns. Es wurde ein schöner Abend, und es wurde viel getanzt und viel gelacht.
Als der Abend zu Ende ging, fragte er Mutti, ob er mich zu unserm Haus begleiten dürfe, was für sie kein Problem war und sie gleich erlaubte. Sie hatte immer volles Vertrauen zu mir und freute sich, wenn ich vor dem Schlafengehen noch auf die Bettkante kam und vom allem berichtete. Der Heimweg über die Promenade unter dem funkelnden Nachthimmel war richtig romantisch. Ich war vollkommen glücklich. Es störte mich auch nicht, dass mein Begleiter nicht von fernen Ländern erzählte oder dem Alltag auf See – nein, der friedliche Augustabend erinnerte ihn an seine Heimat und sein Traum war, nach Ende seiner Dienstzeit bei der Marine zu Hause im Taunus ein Haus mit Garten zu besitzen und eine Familie zu gründen. Ich versuchte, mir eine Rolle in seinem Leben vorzustellen, was allerdings schwer war. Beim Abschied versprach er mir ein besonderes Schauspiel, nur für mich, wenn sein Schiff am nächsten Abend die Anker lichtete. Und wirklich tauchte er unser kleines Haus in strahlendes Scheinwerferlicht, was natürlich bei allen Freunden und Bekannten Aufsehen erregte. Ich wechselte mit meinem Seemann noch eine Weile Briefe, die bei ihm aus immer weiter entfernten Ländern kamen – bis am Ende nur noch das Mützenband der „Bismark“ als Erinnerung blieb. Der Kreutzer war in den ersten Jahren des Krieges gegen englische Convoys erfolgreich im Einsatz und wurde schließlich von einem englischen Torpedo versenkt.
Ein paar Tage später schlug die Abschiedsstunde, und diesmal fiel sie mir besonders schwer. Als wir in unserm Ferienzug nach Hause saßen, wartete ich, bis alle im Halbschlaf dösten; dann verließ ich das Abteil und ging durch alle Wagen bis zum letzten des Zuges, um an seinem Ende zurückzublicken auf die Schienen und die Landschaft, die in der Dämmerung verschwanden; und ich vermisste jetzt schon das Rauschen des Meeres – und mein Herz tat weh!
Die Freiheit auf zwei Rädern
Wir feierten Weihnachten 1932, Hans war gerade zehn Jahre alt geworden, ich wurde im nächsten Monat zwölf. Wir spürten schon, dass wir in einer Zeit des Aufbruchs lebten, dass viel über Politik geredet wurde, und dass auch wir Kinder angesprochen waren. Hans war beim Nerother Bund, und er musste mir all die schönen Wander- und Fahrtenlieder beibringen, die er dort lernte – und sogar im Zeltlager war er schon gewesen, wofür ich ihn sehr beneidete. Leider wurde der Nerother Bund bald nach Hitlers Machtergreifung aufgelöst, antiauthoritäre Ideale von Unabhängigkeit und Freiheit passten nicht ins Regime. In Gerolstein ging der Nerother Bund nahtlos in die Hitlerjugend über, sodass Kinder wie Hans den Unterschied gar nicht merkten.
Aber nun war Weihnachten, das wir natürlich zuerst in der Kirche feierten, das aber in jedem Jahr eine wundervolle Überraschung für uns hatte, Spielsachen, von denen wir nur träumen können, die wir vielleicht mal in Hagen im Spielwarengeschäft gesehen hatten, wenn wir die Großeltern besuchten. So gab es einmal ein großes Schaukelpferd mit echtem Fell, einen Holländer, einen Tretroller, Schlittschuhe oder eine Puppe mit Schlafaugen und richtigem Haar. Kein Wunder, dass wir manchmal an der Verandatür lauschten.
Als sich in diesem Jahr die Tür zum Weihnachtszimmer öffnete, sahen wir zwei chromblitzende Fahrräder neben dem Weihnachtsbaum am Bücherregal lehnen, so schön, dass wir ganz ergriffen davorstanden. Dann begann die Phantasie zu arbeiten: wohin konnten wir wohl mit solchen Rädern fahren? Aber zunächst war Winter, und der Schlitten war gefragt. Als wir dann aber erfuhren, dass unsere Freunde, Walter und Gilbert Rahm und Maria und Gertrud Weyand auch Fahrräder bekommen hatten, wurden schon Pläne geschmiedet, kaum, dass einer von uns fahren konnte.
Der Winter war in diesem Jahr besonders kalt, und als wir hörten, dass die Weiher und Wiesen zwischen Auberg und Munterley zugefroren waren, nahmen wir unsere Schlittschuhe und wanderten bei schneidendem Wind die Lindenstraße hoch bis zu den Eisflächen. Wir trugen damals schwarze Schnürschuhe, an die man die Schlittschuhe festschrauben konnte. Da wir im Sommer Rollschuh fuhren, lernten wir das Eislaufen recht schnell – nur das Abnehmen nach dem Sport bereitete mit klammen Fingern einige Mühe. Zum Wochenende freuten wir uns darauf, mit den großen Jungen im Bobgespann vom höchsten Punkt der Büscheicher-Straße zu Tal zu rasen. Es war ein großartiges Gefühl, sicher dazwischen zu sitzen und sich den Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen.
Aber der schönste Winter geht vorbei, und wir hatten für die Osterferien unsere erste größere Fahrradtour, mit Übernachtung in einer Jugendherberge, geplant. Es sollte eigentlich nach Daun gehen; aber Walter Rahm, mit seinen dreizehn Jahren der Älteste in unserer Gruppe, fasste unterwegs den Entschluss, nach „Maria Laach“ zu fahren, was mindestens die dreifache Strecke war. Darum weihte er außer seinem Bruder Gilbert nur mich und Maria ein. „Wir sagen Hans und Gertrud besser nichts von unserm Plan, sonst kommen die nicht mit“, meinte er. Hans merkte aber unterwegs an den Schildern, dass etwas nicht stimmte, besonders, als wir dann in Mayen landeten. Hier waren wir alle ziemlich müde, und es bedurfte schon Walters Überredungskunst, uns bis nach Mendig und zur Jugendherberge zu locken. Das Haus sieht übrigens heute noch so aus wie damals. Es gefiel uns sehr in dieser unserer ersten Jugendherberge, zumal sonst nur ältere Jugendliche dort waren, die uns dann von ihren Fahrten berichteten. Wir nahmen uns natürlich vor, ihrem Beispiel später zu folgen.
Am nächsten Tag zeigte uns Walter den Laacher See in der wunderschönen Landschaft, dazu die Abtei und das Kloster. Einer seiner Onkel war hier einmal als Pater und lebte nun im Kloster bei Koblenz. Wir sollten ihn später kennenlernen. Jedenfalls verstanden wir, warum Walter unbedingt hierhin wollte. Die Rückfahrt nach Gerolstein verlief ganz gut, wenn auch Hans zurückgeholt werden musste, als er im Eifer der Abfahrt eine falsche Straße erwischte. Als wir warteten, hielt ein freundlicher Lastwagenfahrer und fragte, ob er uns ein Stück mitnehmen sollte. So sparten wir fast 20 Kilometer und kamen noch relativ frisch zu Hause an, nicht ohne miteinander eine Pfingstfahrt nach Koblenz vereinbart zu haben; aber nun kamen erstmal die Osterfeiertage mit bunten Eiern, Kuchen und Schneeglöckchen.
Dieses Jahr besuchte uns Tante Amarand aus Neunkirchen, Vaters Schwester. Sie hatte eine Hasenscharte, was Hans’ Freund Wolfgang vor Jahren zu der Frage veranlasste, ob die Tante vielleicht im Krieg gewesen sei. Sie war sehr lieb, nur redete sie, wie Alleinstehende manchmal tun, etwas viel, was vor allem Muttis Nerven beanspruchte. Wir hatten schon wieder neue Pläne im Kopf: da wir ja noch Osterferien hatten, wollten wir mit dem Bauen eines Häuschens unterhalb unserer großen Kastanie beginnen. Bretter befanden sich ausreichend unter der Veranda, und wo Vatis Nagelkiste ihren Standort hatte, wussten wir auch, weil wir beim Öffnen von Weinkisten beteiligt waren, schon des Transportes wegen, aber auch, um Nägel vorsichtig herauszuziehen und in besagtem Kasten zu sammeln. Es gelang uns auch, eine Art Holzhütte zu erstellen, aber sie entsprach nicht ganz unserer Vorstellung. Es gefiel uns nicht, dass es zum Beispiel durch das Dach regnete.
Da brachte uns Leistenschneiders Jüppchen (wie wir ausgerechnet an den kamen, weiß ich nicht) auf die Idee, eine offensichtlich herrenlose Plane von einer Wiese zu entfernen, um so das Dach zu dichten. Ich sehe uns noch mit unserer gelben Postkarre zu der Wiese wandern und die Plane darin verstauen. Irgendwie hatten wir doch ein Unrechtbewusstsein! „Jüppchen“ verriet die Tat unseren Feinden (Klärens Jungen), die daraufhin unser Häuschen mit Steinen bombadierten. Kurzum, wir mussten die Plane zurückgeben.
Dann traf uns ein weiteres Ungemach: wir ließen die Nagelkiste samt Hammer unbedacht im Regen stehen, was unsern Vati veranlasste, uns teils aus Zorn, teils aus pädagogischen Gründen mit einem Stück Gartenschlauch zu züchtigen, was selbst Weyands Kindern in bleibender Erinnerung blieb, obwohl sie nur indirekt daran beteiligt waren. Dann trat die Arbeit für die Schule wieder in den Vordergrund; Hans ging nun mit ins Gymnasium, und jeden Morgen holten wir noch seinen Freund Wolfgang zu Hause ab, der nie fertig war, sodass wir deshalb ab und zu zu spät zum Unterricht kamen, wofür uns Rektor Rahm dann ins Klassenbuch eintrug.
Dann aber kamen die Pfingstferien, und wir setzten unsern Plan mit Walter und Gilbert Rahm in die Tat um. Unser erstes Ziel war die Jugendherberge in Mayen, die sich damals noch im alten Turm an der Stadtmauer befand. Das war zwar romantisch und ein bisschen gruselig, aber nicht sehr zweckmäßig, denn die eiserne Wendeltreppe nahm viel Platz weg, und die Betten waren deswegen in Mauernischen aufgestellt. Ich weiß noch, dass man durch die Schießscharten auf die Straße am Ring blicken konnte.
Da entsprach die Koblenzer Jugendherberge in der Nagelsgasse schon eher unsern Vorstellungen. Wegen der Pfingstferien wimmelte es von jungen Leuten; da war eine Gruppe von schwäbischen Mädels, die ein fröhliches Lied nach dem andern sangen. Auf dem großen Platz zwischen den Häusern standen Tische und Stühle, wo man sein selbstgekochtes Mahl einnehmen konnte. Walter fand, Hans sollte den ersten Eintopf kochen und erklärte ihm, wie man die Gasflamme entzündet. Hans wanderte also mit der Erbswurst für die Suppe in die Küche, aber kurz darauf erklang sein Hilferuf: „Elschen!“ über den ganzen Hof und weckte ein allgemeines Echo. Als ich bei ihm ankam, stellte sich heraus, dass er unser Essen auf eine Gasflamme gestellt hatte, die ein anderer bezahlt hatte. Nun, das Missverständnis war schnell geregelt.
Am nächsten Tag hatte uns Pater Gilbert, der Onkel der beiden Rahmsjungen, zu einer Dampferfahrt nach Rüdesheim eingeladen. Er kam mit einem Rucksack voller Brote und Würste an, die Marschverpflegung für den ganzen Tag. Es wurde eine fröhliche Fahrt, zumal der Pater surrende Mäuse und springende Spielzeugfrösche mitgebracht hatte. In Rüdesheim kutschierte er uns mit einem Taxi zum Niederwalddenkmal – kurzum: es war ein gelungener Tag. Bei der Rückkehr war mein Lodenmantel beim Herbergsvater, weil er herrenlos auf der Bank lag, Maria hatte ihren Spindschlüssel verloren und Hans sein Bett nicht gemacht. So lernt man am besten in der Praxis. Den nächsten Tag verbrachten wir in der Hauptsache am „Deutschen Eck“, wo sich alle Touristen trafen, und wir kauften Tüten mit Kirschen (für 5 Pfennige) und spuckten die Kerne in den Rhein. Es war richtig heiß! Als Walter dann vorschlug, über die Mosel nach Hause zu fahren, machten wir nicht mit; wir fuhren lieber über die kühlere Eifel zurück.
Es war auch das Jahr, in dem unsre kleine Schwester Renate unter das Auto des Bürgermeisters Laroche kam. Sie hatte wie immer im Garten gespielt und war von dort fröhlich auf die Straße gelaufen, auf der ein Auto noch eine Seltenheit war. Nun lag sie oben in meinem Bett mit verbundenem Kopf und konnte nur aus einer Schnabeltasse ein bisschen trinken. Mutti sagte, sie hoffe, dass keine inneren Verletzungen erfolgt seien; aber wir hatten Glück: es war nur ein Rad über die runden Beinchen gefahren und hatte keinen Bruch verursacht. Wir saßen abwechsend an ihrem Bett, gaben ihr zu trinken und passten auf sie auf. Noch im letzten Sommer hatte Vati mit seiner neuen Leika reizende Kinderbilder von Renate als kleinem Nackedei im Garten gemacht. Er hatte die Fotos dann im Schaufenster mit ausgestellt und war, wie wir, sehr erstaunt, als einige moralisierende Frauen die Herausnahme der Bilder aus dem Schaufenster verlangten. Solche Leute gab’s eben auch damals schon. Zum Glück erholte sich Renate schnell, und es blieb nur die Narbe an der Lippe.
So konnten wir Kinder mit Mutti im Sommer, wie immer, an die Ostsee fahren. Wir hatten in diesem Jahr ein Haus am Waldrand gemietet, und Mutti kochte selbst, sodass wir mit 9,- Mark pro Tag auskamen. Allerdings hatten wir einen längeren Weg zum Strand, durch die Paasch-Eilers-Allee. Hans hatte die Aufgabe, Renate jeden Morgen bis zur Strandpromenade zu bringen. Dort konnte sie nicht mehr verlorengehen, und meist trudelte sie gegen Mittag bei unserm Strandkorb ein. Manchmal blieb sie aber auch bei unsern Bekannten unterwegs hängen, sodass wir sie suchen mussten. Wir hatten mit Schwimmen, Rudern, Sport und Burgenbau soviel zu tun, dass der Tag fast zu kurz war, und die Ferien nie lang genug.
Wir freuten uns aber immer, am Ende der Ferien unsre Freunde: Maria und Wolfgang wiederzutreffen. Wolfgang hatte die Erlaubnis seines Vaters bekommen, im Nebenhaus eine „Bude“ einzurichten; da waren wir natürlich dabei, und wir machten zunächst eine Werkstatt für Laubsägearbeiten daraus. Damals hatte das Ehepaar Heller in Dockweiler schon die Produktion von Märchengestalten als Holzschnitte zum Wandschmuck für Kinderzimmer angefangen. Wir kopierten diese und malten sie mit Wasserfarbe aus, die wir dann lackierten; so hatten wir schöne Geschenke, wenn sie auch nicht ganz so schön waren wie die Originale. Die „Bude“ blieb noch lange ein Treffpunkt für alle Freunde, auch als wir längst in alle Winde verstreut waren. Noch aber verbrachten wir unsere gesamte Freizeit miteinander, auch als wir im Winter unsere ersten Skier bekamen. Ohne Anleitung begaben wir uns auf die Hänge und rutschten abwärts und hatten viel Spaß dabei.
In den nächsten Osterferien fuhren Hans und ich allein mit den Rädern los, um Bekannte und Verwandte am Rhein und in Westfalen zu besuchen. Das war zunächst mal wieder eine körperliche Anstrengung: ich sehe mich noch erschöpft an der Bonner Landstraße sitzen, bis Hans mich mit „Dextro-Energen“ wieder auf die Beine brachte. In Bonn besuchten wir dann Köllings mit ihrem Sohn Dieter, die mit Rahms verwandt waren. Sie schickten uns gleich los, eine große Tüte mit „Teilchen“ zu erstehen, was zeigt, dass sie nicht gerade auf uns eingestellt waren. Wir schliefen in Schlafsäcken im Wohnzimmer. Am nächsten Morgen ging’s dann weiter nach Svest zu Onkel Karl Pilger und seiner Frau, und die waren nun wirklich erfreut über unsern Besuch und bewirteten uns dementsprechend reichlich. Sie wohnten in einem denkmalgeschützten Bauernhaus aus roten Steinen und Fachwerk. Den Innenraum nahm eine große, steingepflasterte Tenne ein, in der ein Kamin stand, der sich nach dem Schornstein hin öffnete. Da dieser Raum etwas tiefer lag, gingen zu zwei Seiten Steintreppen in die Wohn- und Schlafräume. Es war beeindruckend, und Onkel Karl war sehr stolz darauf. Nun kann ich mich nicht mehr erinnern, ob wir noch in Essen, Hagen oder Kassel waren; aber wir beschlossen, bei unserer nächsten Fahrradtour doch lieber in der Jugendherberge zu übernachten.
Zunächst erwartete uns ein richtig heißer Sommer, in dem wir fast jeden Tag im Strandbad an der Kyll verbrachten. Wir hatten da viel Spaß, besonders wenn der junge Mann mit seiner Ziehharmonika da war, der sehr gut spielte und sang und wir auch gern mitsangen. Manchmal waren auch Mutti und Frau Joedt mit zum Schwimmen und auch Lehrer Menke, der unter Beifall aller, vor allem weiblicher Zuschauer, Kopfsprünge vom Geländer der Badeanstalt machte, ein etwas waghalsiges Unternehmen, da die Kyll hier nur etwa 1,50m tief ist. Theo Menke war als Junglehrer für ein Jahr Ausbildungszeit an unsere Schule gekommen, und er hatte in kurzer Zeit geschafft, überall beliebt zu sein. So hatten Novaks seinetwegen einen Musikabend in der Woche eingerichtet, wo er mit Frau Novak im Duett sang, zum Klavierspiel ihres Mannes. Bei uns war er auch einmal in der Woche zum Abendessen eingeladen; danach setzte er sich an Renatens Bettchen, sie war damals drei Jahre alt, und erzählte ihr eine Gute-Nacht-Geschichte, so lebhaft und lustig, dass Hans und ich mit Freude auch mit zuhörten. Sonntags spielte er in unserer Kirche die Orgel und zwar in SA-Uniform, weil er hinterher Dienst hatte. Wir hatten eigentlich alle keine Probleme, Kirche und nationalsozialistische Pflichten zu verbinden.
Ich hatte gerade in diesen Jahren meinen Konfirmationsunterricht, zwei Jahre lang einmal in der Woche bei Pfarrer Wiebel, zusammen mit meiner Freundin Lilo Quarz. Wir gingen gern zu dieser Bibelstunde, in der unser junger Pfarrer versuchte, uns das Wesentliche: die Beziehung von Mensch und Gott, nahezubringen. Wir stellten unbequeme Fragen, und er versuchte, an Hand der Bibel, zu antworten. Ich war so engagiert, dass ich mich einmal mit Tonis späterem Ehemann, Herbert Roloff, den ich eigentlich sehr gern hatte, auf eine heftige Diskussion einließ, bei der wir selbst bei einem Spaziergang (von Toni verordnet) auf der Munterley nicht zu einer Einigung kamen.
Samstags betreute ich dann die Kükengruppe: das waren 20 kleine, sechsjährige Mädchen, mit denen ich wanderte, sang und spielte, meist draußen, aber bei schlechtem Wetter auch in unserm Kinderzimmer – und zu Weihnachten übten wir sogar ein Theaterstück ein, das großen Beifall fand – nur danach setzte das Chaos ein, weil 20 Mütter ihren 20 Sprösslingen beim Umziehen der Kleider helfen wollten. Dann hieß es von „höherer Stelle“, ich sei mit meinen 13 Jahren zu jung für diese Aufgabe; ich müsste dazu im BDM (Bund deutscher Mädchen ab 14 Jahren) sein. Daraufhin nahm mich Toni Reinhold, unsere BDM-Führerein, in ihre Gruppe auf, und ich durfte nun sogar zu Wochenendschulungen nach „Maria Laach“ mitfahren. Toni war mein und meiner Freundinnen großes Vorbild und blieb es für mich bis zu ihrem Tod mit 80 Jahren.
Bei all diesen Aktivitäten verloren wir aber nicht unsere Absicht aus den Augen, eine wirklich große Fahrradtour zu machen. Die Osterferien 1936 waren dazu geeignet, und Maria, meine beste Freundin, durfte mitfahren. Als wir unsere Fahrräder fertig gepackt hatten, fehlte uns nur die Einwilligung und das Geld unseres Vaters. Unsere Mutti hatte ganz plötzlich eine Reise nach Hagen machen müssen, weil unsere gute Großmutter gestorben war – und Vati wollte die Verantwortung für unser Vorhaben nicht übernehmen. Tränen konnten ihn nicht umstimmen, erst die Überredungskunst von Marias Mutter gab uns den Start frei.
Sehr weit kamen wir an diesem Tag nicht mehr, aber der Turm in Mayen und die Jugendherberge in Koblenz waren uns ja schon vertraut. Danach kam die schöne Fahrt am Rhein entlang: die Schiffe auf dem Strom und die Burgen beiderseits auf den Bergspitzen machten großen Eindruck auf uns. In Bacharach gefiel es uns besonders gut; wir schauten natürlich, als wir am Ende des Tages die Räder den Steilhang zur Burg „Stahleck“ hinaufschoben, aber der wundervolle Blick von der Burgmauer auf den Rhein und die Stadt Bacharach und die Qualität der Jugendherberge ließen die Mühe schnell vergessen. Burg „Stahleck“ hatte immer internationale Gäste, und so wunderten wir uns nicht, dass wir abends mit englischen Studenten zusammen vom Herbergsvater eingeladen wurden zu „Spiel und Spaß“, Erzählen und Singen am großen Tisch im Speisesaal. Der Herbergsvater war ein Talent im Zusammenführen junger Leute aller Art. Einige Jahre später hatte ich drei Wochen das Vergnügen bei einem „Na-Po-Lehrgang“ (Nationalpolitischer Lehrgang). Nach einer ruhigen Nacht weckte uns der Herbergsvater mit einem Lied zur Gitarre:
Der helle Tag ist aufgewacht,
Nun lasst die Sorgen in der Nacht!
Der Morgen bricht in die Täler.
Der Morgen singt, dass die Erde springt,
Der Morgen bricht in die Täler.
Hier wären wir gern geblieben, aber wir hatten uns ja mehr vorgenommen. Wir radelten also weiter über Bingen Richtung Mainz und hatten dabei ein ganz besonderes Erlebnis: als wir uns zur Mittagspause am Straßenrand niederließen und über die ebene Landschaft zum Rhein blickten, trauten wir unsern Augen kaum – über dem Strom zogen zwei große Luftschiffe ihre Bahn, sicher die „Hindenburg“ und die „Graf Zeppelin“. Wir konnten ihre Fahrt lange verfolgen, und doch schienen sie ganz unwirklich. Über Mainz fuhren wir weiter nach Frankfurt; allerdings wurde uns die Fahrt sehr lang. Die Eschersheimer Landstraße wollte einfach nicht enden, und so war es fast 10 Uhr und stockdunkel, als wir endlich in der Jugendherberge ankamen. Man ließ uns nur ungern ein, und wir mussten, ohne Licht zu machen, in unsere Betten steigen.
Überhaupt kam jetzt der anstrengenste Teil unserer Reise. Wir mussten bei Schneegestöber durch die Rhön! Es wurde wieder Abend, und wir kamen wieder bei Dunkelheit bei der Herberge an, die so primitiv war, dass wir Kerzen anstelle von elektrischem Licht hatten. Alles, was wir noch bekommen konnten, war ein Becher heiße Milch; dann versanken wir in den Federbetten, die wenigstens warm hielten. Dass es uns nicht gruselte, lag nur daran, dass wir zu müde waren.
Am nächsten Morgen aber lachte die Sonne vom Himmel, Haselkätzchen und Forsytien blühten am Weg und in den Vorgärten, und die Mandelbäumchen leuchteten rosa, als wir unser nächstes Ziel: Würzburg ansteuerten. Als wir zwischen Weinbergen auf den Main zufuhren, wussten wir: der Frühling hatte uns endlich eingeholt. Wir sahen schon von weitem die Festung Marienberg und überquerten bald auch schon die schöne alte Brücke über den Main mit den Heiligenfiguren, die auf den Kiliansdom hinläuft. Wir fanden bald auch die gemütliche Jugendherberge und schlossen Freundschaft mit zwei Stuttgarter Jungen, die wie wir neugierig auf alles Kulturelle waren.
Wir besichtigten am andern Tag zusammen Würzburg, mit der Festung und der von Balthasar Neumann erbauten Residenz, und wir fanden, dass Würzburg die schönste Stadt sei, die wir bisher kennengelernt hatten. Den Höhepunkt unserer Fahrt bildete dann aber noch der Abend mit dem Teufelsgeiger „Barnabas von Gesgy“! Wir bekamen zwar nur Plätze ganz oben auf dem „Olymp“, aber die Akustik war dort blendend, und unsere Stimmung auch. Wir hatten zwar nur unsere karierten Flanellhemden an; aber weil wir so begeistert von den schwungvollen Melodien waren, gaben uns die Leute um uns herum ihre Operngläser, damit wir den eleganten Geiger im Frack aus der Nähe sehen konnten. „Komm’ mit nach Madeira“ und andere flotte Weisen begleiteten uns in der Erinnerung noch beim Fahradfahren am nächsten Tag. Zunächst ließen wir den schönen Abend in einer Weinstube mit einem „Boxbeutel“ ausklingen, wobei keiner an unserer Jugend Anstoß nahm. Gegen 1 Uhr nachts trudelten wir wieder in der Herberge ein, wofür wir den Schlüssel bekommen hatten.
Unsere Stuttgarter Freunde begleiteten uns noch bis Nürnberg, und das war gut so; sonst hätte Hans ganz allein in die Jugendherberge für Jungen gemusst. So genossen wir die Besichtigung der schönen Altstadt und der Burg gemeinsam, besonders aber das Museum. Von hier ging es dann wieder heimwärts, wo wir gesund und um einige Pfunde leichter, aber an Erfahrung reicher, ankamen.
Ein neuer Lebensabschnitt: Schulzeit in Mayen
1936 war ein besonderes Jahr, für Deutschland und auch für mich. Unser Land richtete in diesem Jahr die Olympiade aus und wollte der Welt bei dieser Gelegenheit die neue deutsche Jugend vorstellen, was auch großartig gelang. Wir, die Jugend, fühlten uns weltoffen und freuten uns über die neuen Kontakte, vor allem zur englischen Jugend. So hatte das Ehepaar Florin in Mayen ihre Tochter für ein Jahr in eine englische Familie gegeben, der Sprache wegen und auch, um als „Au-Pair“ bei der Erziehung kleiner Kinder mitzuhelfen; um nicht allein zu sein, nahmen mich die Florins in Pension, als ich die Schule wechseln musste und so in das weiterführende Gymnasium nach Mayen kam. Die Schule in Gerolstein endete damals nämlich mit der Obertertia und Prüm kam wegen des angeschlossenen Internats nur für Jungen in Frage.
So saß ich nun am Samstagnachmittag nach dem Weißensonntag im Bummelzug, der mich nach Mayen bringen sollte. Ich hatte zum Abschied einen „großen Bahnhof“ gehabt von Eltern, Geschwistern und Freunden, als ob ich nicht 60 km sondern 600 km weit fortging. Nun hockte ich etwas nachdenklich auf der Holzbank in meiner Fensterecke und blickte in die vertraute Landschaft hinaus, die mit ihren leeren Feldern und kahlen Bäumen noch sehr auf den Frühling wartete. Nur die kleinen Bahnhöfe, die an diesem Nachmittag ganz verlassen wirkten, waren voller Töpfe und Schalen mit Frühlingsblumen.
Meine Tochter Sabine ist 40 Jahre später im Sommer einmal die gleiche Strecke gefahren und hat sich über die Verträumtheit der kleinen Stationen und die Beschaulichkeit des Fahrens gefreut. Damals fuhr anstelle des roten Triebwagens eine bimmelnde und prustende Dampflok an der Spitze der ratternden Wagen, an jedem unbeschrankten Bahnübergang mit lautem Pfiff Fußgänger und Fahrzeuge warnend. Die Wagen hatten meist keine Zwischenwände, damit die Bauern ungehindert mit Eierkörben und Obst auf den Markt fahren konnten. Zum Wochenende gab es aber wenig Leute, die in die Stadt reisten, sodass ich genügend Zeit hatte, Abschiedsgedanken und Erwartungen abzuwägen. Meine Eltern hatten ja eine Familie gefunden, deren Tochter ein Jahr zum Sprachstudium in England weilte, und die nun mich an ihrer Stelle als Pflegetochter nehmen wollten. Das bedeutete für mich Anpassung an eine fremde Familie, dazu kam die Gewöhnung an eine neue Schule, Lehrer und Klassenkameraden. Ich sah in dieser Aussicht im Augenblick noch nicht viel Positives.
Endlich hielt der Zug an dem kleinen Bahnhof Mayen-West, der einen ersten Blick auf das altertümliche Städtchen bietet. Ein älterer Herr mit weißem Haar und sportlich-braunem Gesicht trat auf mich zu:“Florin! Sie sind sicher Fräulein Winter, unser Gast.“ Unter buschigen Brauen blickten mich Augen an, von einer Bläue, wie sie sonst nur Seeleute haben – oder, wie sich zeigte, eben auch Landmesser. Ich mochte ihn sofort, und auf dem Weg in die Eifelstraße entspann sich eine lebhafte Unterhaltung. Herr Florin berichtete mir Einzelheiten über seinen Beruf und von seinem neuen Motorrad, einer BMW 500, wobei er mich gleich für den nächsten Tag zu einer Probefahrt nach Neuwied einlud. Ganz vergnügt kamen wir beide an dem Reihenhaus an, in dem ich jetzt auch für ein Jahr zu Hause sein sollte.