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Es ist ein alter Witz zwischen uns.

Und ich freue mich darüber und sage:

„Absolut. Heimat ist eigentlich nichts anderes

als ein Tomatenbrotschnittchen.“


Heimat, gutes Stück, was solls?

von Gerd Puls

Heimat? Nur ein zwiespältiges Gefühl?

Oder mehr als intakte Städtchen und Dörfer

Die sich nicht abhängen lassen

Mehr als gepflegte Wälder, saubere Bäche

Artenreiche Felder, ein Gruß über den Zaun?

Heimat? Ein Fleckchen Erde mit gesunden Tieren

Vogelgezwitscher, glücklichen Menschen

Mit Schützenumzug und gemütlicher Kneipe

Mit Geselligkeit und guter Nachbarschaft

Jeder kennt jeden, lautet das Motto, und lässt ihn leben

Heimat? Eine Ecke zum Wohlfühlen, ein gutes Gefühl

Jeder hilft jedem, hier stehste nicht allein, ey

Wenn der Dorfpolizist, dein alter Klassenkamerad

Dich mit dem Auto weiterfahren lässt

Auch wenn du sturzbesoffen bist

Heimat? Ein überschaubares Städtchen, ein Dorf

Mit Poststelle (noch), mit Kita und dem alten Hausarzt

Ein Aldi auf dem Acker vorm Ort, ein Vereinsheim

Gegen die Langeweile, ein Fußballplatz für den

Sonntagvormittag und eine Suhle für jede Sau

Heimat? Ein Sumpf, in dem die braune Brühe brodelt

Stinkend durch die Gossen schwappt

Schlichte Idylle, Herkunft, Notdurft und Erinnerung

„Weißt du noch, damals?“ Harmlose,

Kindliche Tröstung: Hier lässt es sich leben

Oder Krieg jeder gegen jeden, gegen die da vor allem

Seht her, wie einzigartig wir doch sind

Und alles verloren, alles vergessen, immer neue

Flüchtlingsströme aus immer neuen

Immer alten Hunger- und Kriegsgebieten

Kriege, immer wieder angezettelt, angefacht

Wir kennen uns aus, liefern die allerbesten Waffen

Das WeltKriegsZweiFlüchtlingselend auch schon

So lange her, da ließen sich fünfundsiebzig schöne

Jahre Heimatgefühle prima pflegen und genießen

Sprich bloß nicht von Schuld!

Heimat ist dort, wo ich jahrelang die paar

Kilometer mit dem Schulbus fuhr

Mich an der Ecke mit der ersten Freundin traf

Heimat ist dort, wo mein Dorf

In den Fluten des Stausees versank

Weggeräumt wurde von den Tagebaubaggern

Wo sich die Hallen dehnen, die Windräder drehn

Und alles austauschbar und gleich aussieht

Längst nicht mehr einzigartig die winzige Ecke

Der schmale Landstrich, dabei so viel Glück

Heimat? Wo die Osterfeuer qualmen

Die letzte Schule schon geschlossen ist

Wo sich die Bierleichen stapeln hinterm Schützenzelt

Und frische Blumen an der Stelle, wo der PKW

Mit den vier jungen Leuten am Alleebaum zerbarst

Heimat, harmlose kindliche Tröstung, Fata Morgana

Die paar verwackelten Bilder in der Tagesschau

Weit weg und morgen vergessen, und doch

Heimat bleibt, wo es kein Leben mehr gibt

Weil Bomben und Raketen eine Stadt zerstörten

Heimat ist dort, wo ich mein Geld verdiene

Oder nicht ganz so prosaisch und nüchtern gesagt

Heimat ist dort, wo ich sicher bin und satt werde

Wo meine Liebsten sind und meine Erinnerung

Noch immer lebt



Heimat: ein Versuch

von Siegfried von der Heide

Genau, versuche ich doch mal, eine Heimat zu finden. Deutsche Literaten, ein bisschen bin ich auch einer, sagt die Mitteldeutsche Zeitung, können sagen: „Die deutsche Sprache ist meine Heimat.“ Keine schlechte Idee: Siegfried Lenz, Julie Zeh, Günter Grass, Mascha Kaléko, Jörg Fauser, Else Lasker-Schüler, okay, geht gut. Aber in einer Sprache, die neuerdings das Wort „Umvolkung“ kennt, ist doch nicht gut rundherum wohlfühlen. Als Musiker, da weiß ich, dass ich es bin, kann ich sagen „Die Musik ist meine Heimat“ Auch nicht schlecht: Randy Newman, Hildegard Knef, Elvis Costello, Joni Mitchell, Van Morrison, Joy Fleming, gutes Gefühl. Aber auch das Horst-Wessel-Lied, Heino und Richard Wagner, auch nicht wirklich kuschelig, und das soll es doch sein in der Heimat – oder? So habe ich es jedenfalls gelernt in den Heimatfilmen aus den 1950er Jahren. Doch, ja, ich habe sie alle gesehen, und da war es immer dasselbe: Am Ende verbanden sich Milch, Eiweiß und Stärke: Friede, Freude, Eierkuchen. Ein gutes, nahrhaftes Essen in freundlicher Atmosphäre ist und bleibt wichtig.

Freddy Quinn aber war grundsätzlich weit weg von zu Hause und hatte immer Sehnsucht … Warum zum Donnerwetter ist er dann überhaupt weggefahren, wenn es „bei Muttern zu Haus’“ doch am schönsten war? Der Grund war derselbe: Sehnsucht. Ob Heim- oder Fern-: Weh tat es immer und der Weg war weit und schwer. Irgendwas musste da faul gewesen sein unter dem Nierentisch im Wirtschaftswunderland. Heimat finden: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Bess’res findet!“, und wenn sie sie dann weg sind, finden sie Heimat auf einmal ganz toll und wissen ganz plötzlich, wo sie ist.

Tom Waits: „Never saw the morning til I stayed up all night.“ Das, was wir haben, finden wir, könnte immer besser sein, aber wenn wir es nicht mehr haben, ist es immer noch besser als das, was wir dann haben. Früher war eben alles besser. In der Sesamstraße war es Grobi unmöglich, „dort“ zu sein, weil er immer „hier“ war. Er wollte immer „dort“ sein, und wenn er „dort“ war, war er schon wieder „hier“. Es ist schon nicht leicht und kann lange dauern.

Die Hutterer in den USA leben seit fast 200 Jahren dort und kleiden sich, sprechen und leben noch so wie damals zu Hause. Sie waren Heimatvertriebene, politisch/religiöse Flüchtlinge, haben die Heimat einfach mitgenommen und sich nicht integriert. So geht das nicht! Sie verweigern den „American Way of Life“, und das soll ja eine Heimat sein … Immerhin sind sie weiß und lassen niemand Fremden in ihre Siedlungen; Donald Trump wird sie wohl deshalb nicht ausweisen.

Was macht ein Mensch, wenn er sich in seiner „Heimat“ nicht wohlfühlt? Falsche Frage? Heimat muss Mensch auch aushalten können? Nein: Heimat ist gleich: heimelig, wohlfühlen, geborgen sein, unter sich sein. Auf die Dauer langweilig. Also: Er/Sie macht es wie weiland Freddy Quinn oder eben die Hutterer, die Hugenotten und viele andere. Er/Sie muss dann eben weg und woanders suchen.

„Heimatvertriebene“, ein treffenderes Wort als „Flüchtlinge“. „Ich bin auch ein Vertriebener, nirgendwo Gebliebener, zu Hause ist, wo man mich hört“ hat Heinz Rudolf Kunze einst verkündet. Wenn das stimmt, dann sinkt die Rate der Rückkehrer natürlich erheblich, vorausgesetzt irgendwo hört jemand zu. Das kann laut HRK auch im Nirgendwo sein. Kennern der westdeutschen Schlagerszene fällt sofort Christian Anders ein: „Es fährt ein Zug, nach nirgendwo …“ kulminierend im: „Maria, Maria, ich hab’ dich lieb!“

Religion, Mutter und geliebte Frau – ist das Heimat? Riecht etwas nach Inzest, aber: Home is where the heart is? Home is lost control, home is where they miss us, home is: I forgot: It’s what they all miss.“ Es war wohl Patty Smith, auf jeden Fall ein Punksong. Was wir alle vermissen? Gibt es das überhaupt und wir kommen einfach nur nie an? Hatte Johnny Cash recht in seinem einzigen auf Deutsch gesungenen Lied: „Wo ist zu Hause, Mama? Hinter blauen Bergen. Wo ist zu Hause, Papa? Vielleicht hinter diesen Bergen.“ Auch wenn sich Papa anscheinend sicher war, schon wieder da, wo wir nicht sind. Und der Weg ist weit und schwer. Bob Dylan macht es sich leichter und scheint mir der Einzige zu sein, der eine Heimat hat, behauptet er doch immer „I am not here“ bzw. „I was not there“ – aber wo ist er denn dann, wenn er nie irgendwo ist, und wo ist dann diese, seine Heimat?

Die Sinnsucher und Selbstverwirklicher haben ja immer eine Antwort. In diesem Fall natürlich auch. Du kannst dich nur in dir selber finden – und da ist dann wohl zu Hause, die Heimat, oder was? Gehe in dich und du wirst dich finden.

Beim Nasebohren zu Beispiel? Das soll ein Witz sein.

Nee, klappt nicht mit dem „Ich bin mir selbst meine Heimat“. Bertolt Brecht, auch keiner Dummer, hat gesagt: „Die kleinste gesellschaftliche Einheit sind zwei Menschen“ – also wie soll das denn gehen, wenn ich in mir zu Hause bin und der andere bei sich. Parallelexistenz. Interessengemeinschaft. Klingt nicht schön. Wie „Lebensabschnittsgefährten“. „Wenn schon nicht für immer, dann wenigstens für ewig“, singt Ulla Meinecke.

Wo sind wir denn zusammen zu Hause? Haben wir eine gemeinsame Heimat? Vielleicht gibt es ja Schnittmengen? Ich habe Mengenlehre in der Schule nie gemocht. Allein das Wort „Schnitt“: Da wurde doch etwas abgetrennt und das geht mit Heimat gar nicht – außer für Heimatvertriebene, die wissen genau, wo ihre Heimat ist, und das ist nicht da, wo sie jetzt sind. Was bleibt da eigentlich übrig: Heimat zu haben nur dann, wenn wir nicht dort sind? Also Verlust? Was denken eigentlich die wenigen Verbliebenen in den ländlichen Gebieten unserer blühenden Landschaften? Wohl fühlen sie sich nicht und bleiben doch dort. Sie gehen nicht in die weit entfernte Stadt und träumen dort, im Single-appartment, von zu Hause. Nein, sie bleiben und lassen keine Heimatvertriebenen auf ihre langsam braun werdende Scholle. Dabei scheinen sie die Einzigen zu sein, die dort, wo sie sind, ihre Heimat haben. Haben sie einen Erfahrungsvorsprung? Was ist die Wahrheit über Heimat?

War Freddy Quinn der Philosoph der Weltoffenheit und des Lebens mit dem Widerspruch oder hat, und jetzt wird’s heimelig, Heinz Rühmann im Schlusswort zur Feuerzangenbowle recht: „Wahr sind nur die Erinnerungen, die wir mit uns tragen, die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns treiben. Damit wollen wir uns bescheiden.“



Lieber Mutterzunge als Vaterland

von Sybil Volks

Heimat ist für mich Sprache

Lieber Mutterzunge als Vaterland

Meine Muttersprache ist Deutsch

Doch viele Deutsche

verstehe ich in letzter Zeit gar nicht gut

„Die können ja kein Wort Deutsch“,

bemängeln Vielflieger aus Düsseldorf

an geflüchteten Sudanesen

während sie in Palma „zwei Bier!“ befehlen

„Sollen die erst mal Deutsch lernen“,

meinen Landsleute aus Leipzig

die in 30 Jahren kein Englisch lernten

„Integriert erst mal uns“, fordern sie,

als säßen sie noch immer im Aufnahmelager

des 21. Jahrhunderts

„Man wird doch noch sagen dürfen“,

wird stündlich gesagt

„man darf ja nicht mehr sagen“,

im Dauerloop geklagt

„Es gibt keine freie Presse“,

wissen Leute, die niemals Zeitung lesen

„die Staatsmedien lügen“,

rufen Facebooker aus Echokammern

„Mordsgefährlich ist’s in der U-Bahn“,

warnen Autofahrer im SUV

„Man wird doch noch sagen dürfen.“

„Ich habe nichts gegen Flüchtlinge“,

aber die meisten sind junge Männer

„Wir haben nichts gegen Moslems“,

aber die Kopftuchmädchen

aber die Machomänner

aber der Ramadan

und der Islam

„Ich persönlich kenne keinen“,

aber der Nachbar

die Kollegin der Tochter

heute Morgen auf WhatsApp

was man alles so hört

„aber man darf ja nichts mehr sagen.“

„Uns persönlich geht es gut“,

nur man fühlt sich halt nicht mehr sicher

„Noch hab ich meine Arbeit“,

doch es könnten welche kommen

„Also wir haben keine Sorgen“,

aber alles wird immer schlimmer.

Deutschland, uneinig Vaterland

Muttersprache mit gespaltenen Zungen

Mauern, von besorgten Bürgern errichtet. Jägerzäune

kreuz und quer durch „das Volk“, den geteilten Himmel,

das Netz aus dessen Deckung man digital Gift schießt

uralten Hass in den Wind sät

USERNAME JEDERMANN

Verdammt, jetzt ist es so weit. Auch ich stimme ein:

„Mir persönlich geht es zwar gut“,

aber ich fühle mich hier nicht mehr sicher

„Noch sind die Vernünftigen in der Mehrheit“,

doch ich höre die Wutbürger wachsen

„Noch schützt uns der Rechtsstaat“,

doch was, wenn die Rechten

uns auf dem Schirm, auf der Liste haben,

man eines Tages tatsächlich

„nicht mehr sagen“ darf?

Wer wird dann noch meine Sprache sprechen?

Und was sollen erst die sagen,

die schon jetzt ohne Heimat sind?

Ohne Mutterzunge noch Vaterland.


Heimat. Ein Traum

von Dorle Gelbhaar

Sie träumte von ihrer Heimat. Es war ein Ort der Geborgenheit. Jemand schmiegte sich an sie und wärmte sie. Draußen rauschte das Meer. Trat sie zur Tür hinaus, atmete sie die würzig klare Luft des Nordens. Ein Winter ließ die Ostsee zufrieren. Eisschollen lagen am Strand. Man verließ das Ufer, stieg von einem zum anderen Eisbrocken. Eisige Luft schmerzte. Das bis weit zur Tiefe des Binnenmeers zugefrorene große Wasser ließ Länder erahnen, fern, nicht in Kilometern gemessen, doch einem anderen Universum zugehörig. Sie blieb an ihrem, dem ihr zugewiesenen Strand. Eine Gestrandete von Geburt.

Wie melodramatisch. Sie fühlte sich wohl an diesem Platz. Des Sommers rieselte der Sand sonnenwarm sauber und Ferien verheißend zwischen ihren Fingern und Zehen hindurch. In der Schulzeit verlangten die zwölf zu überwindenden Kilometer bis zum Strand zu viel an Zeit. Kein Auto. Nicht aus ökologischen Gründen. Ein Auto war Luxus. Brauchte sie den? Sie fuhr mit der Eisenbahn, wenn Sommerferien waren. Mit neun Jahren saß sie einmal hinter dem Steuer des zeitweilig von ihrem Vater genutzten Dienstwagens. Stolz drehte sie Runden auf dem Parkplatz. Können war besser als Haben. Später hatte sie, aber konnte nicht. Ihr Programm wirkte unglaubhaft. Vielleicht, weil es eher ein angelesenes denn ein erarbeitetes war? Vorgegeben statt aus einer Fülle von Angeboten gewählt?

In ihrer Familie war man nicht besitzgierig. „Habe ich so lange keinen Aal gehabt, brauche ich ihn jetzt auch nicht“, sagte ihre Großmutter, als sie das erste Mal dorthin fuhr, wo die Märkte überbordeten.

Sie holte tief Luft, als sie in die U-Bahn stieg.

Das untergründige Gefährt trug sie in Gefilde der Kindheit, sie sog den Geruch ein, der fest an den ledernen Polstern haftete.

Die fremde, große, die geteilte, ihr Teil Großstadt, die Hauptstadt ihres Landes verband sich damit. Für sie war das die weite Welt. Gewesen. Als Studentin lief sie die Straßen entlang und diese endeten abrupt.

Es war anders als das Sein am Meer. Wer wollte das durchschwimmen.

Daran dachte sie jetzt nicht. Sie hatte ein Ziel. Das tägliche Einerlei. Von A nach B. Wie immer werktags.

Draußen war es neblig, als sie die Treppe hochstieg. Sie erkannte die Gegend nicht. War das ihre Stadt? Wo war was?

Weder war sie zu A zurückgekehrt noch bei B angekommen.

Etwas anderes gab es nicht. Hatte es nicht gegeben.

Sie riss sich los aus den grau verhangenen Traumgespinsten, eilte hastig B entgegen.

Auf Arbeit erzählte sie von der irrealen Reise der Nacht.

„Das muss ein schöner Traum gewesen sein“, sagte eine.

„Nein“, erwiderte sie der älteren Kollegin.

„Es war alles fremd. Ich kannte mich nicht aus.“

Bald überquerte sie ihre Grenze.

Sie blieb, wo sie Jahre und Jahre wohnte, in derselben Stadt, derselben Straße, demselben Haus, auf derselben Etage in derselben Wohnung, und war doch in ein anderes Land hineingelangt.

Das Fremde wurde zum Eigenen.

Es war immer da gewesen.

Die Anreise hatte mehrere Stunden gedauert. Zum Glück war das Wetter gut und sie hatten Pausen eingelegt. In Cham zuletzt. Wie sich das ausspreche, hatte sie eine Kellnerin gefragt. „Kamm. Manche sagen auch ‚Tschamm‘“, hatte die geantwortet.

Das Spiel mit dem Dialekt. Nicht mit einer fremden Sprache. Nicht Ausland. Bundesland. Ein südlicher gelegenes. Der Süden war nicht ihre Herzensangelegenheit. Am mallorquinischen Hafen von Andracz plagte sie die schlechte Laune. Himmelsbläue und Sonnenschein. Sie war unweit eines Meeres zur Welt gekommen, jedoch nicht an südlich sonnigem Gestade vor azurblauem Meer.

Sie drehte sich vom Beifahrersitz herunter, stieß die Autotür auf und stakste dem Wirtshaus entgegen, das sie eine Gesundheitswoche lang beherbergen würde.

Bayrischer Wald also. Zum Glück kein Hochgebirge. Moderate Berglandschaft. Nicht erdrückend erschreckend in seiner Gewaltigkeit. Einfach Wald. Schön geschwungene Landschaft.

„Mit dem Basischen, das sehen wir hier nicht so eng. Also, wenn Sie etwas anderes möchten, können Sie das auch ankreuzen.“

Der Mann an ihrer Seite ging sofort darauf ein, erwies sich als richtiger Kerl, der angenommen wurde, wie er war, und ein Ansehen genoss. Sie wollte das Basische. Das vermittelte ihr gewiss nicht dieses plötzliche Gefühl von Angekommen-Sein.

Natürlich, sie war angekommen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Den Plan – Nordic Walking, Massage, Fußbäder, Vollbäder, Sole, Heu, energetisiertes Wasser – in der Hand, öffnete sie die Tür ihres Hotelzimmers. Es war geräumig, hatte einen Balkon mit Holzfußboden und ein Mobiliar, wie es in den achtziger Jahren einmal modern gewesen sein mochte, indessen mittlerweile nicht nur hinsichtlich der modischen Ausrichtung gelitten hatte. Sie rief einen Freund an. Immer sonntags telefonierte sie mit ihm. Davon ging sie möglichst auch auf Reisen nicht ab. Das Menschenleben brauchte Struktur und Gewohnheit.

„Du bist so ruhig. Im Urlaub angekommen. Entspannt.“

Tatsächlich. Ungeheuer ruhig und entspannt war sie.

Im Bayrischen Wald überkam sie ein heimeliges Gefühl. Sie fühlte sich regelrecht zu Hause. Das Gefühl blieb. Trotz des baumlosen Friedhofs und der schwülstigen Gemälde im schönen weißen Barockbau der Kirche.

Der Dialekt schien ihr nicht fremd, das Zusammenleben und die Art, sich den Lebensunterhalt zusammenzustoppeln, vertraut, das war sie als Freiberuflerin gewohnt.

Am Ende kannte sie auch die dörflichen Konflikte ebenso wie die der Wirtsfamilie. Im Ort hatte man sich alles geschaffen, was man hier brauchte: Apotheke, Arzt- und Zahnarztpraxis, Physiotherapie, Kosmetik, Frisör, Feuerwehr, Schule, Rathaus, Freiluftmuseum, ausgewiesene Wanderwege durch den Wald, Brunnen mit Trinkwasser vor Kreuz und Marienbild. Mitten im Wald unter von Naturkräften übereinandergeschobenen, -geschichteten, -gestülpten Riesensteinen eine Höhle, an deren einer Wand ein Kreuz befestigt wurde, davor und drum herum allerlei Mitbringsel, ein bisschen unordentlich, aber ganz eigene Dinge, umgekippte Lichter, ein Stein mit der Aufschrift „Ich vermisse dich“.

„Die Leute brauchen ihren eigenen Ort. Wie sie den gestaltet haben“, meinte die Wanderleiterin bewundernd. Eine der zwei Wirtstöchter war das, Gastronomin, einen Hof mit Pferden und Hirschen hatte sie in der Nähe des väterlichen Gasthauses. Abends sah man sie am Computer (über den Bilanzen?) brüten. Sie werde anschließend noch zu ihrem Hof fahren, Pferde und Hirsche füttern.

Ihre schwere Art zu sprechen, ihr Nachdenken.

„Die arbeiten wollen, lässt man nicht.“ Sie sprach von einem Ägypter, der von seiner deutschen Frau verlassen worden wäre, sein Kind nicht sehen dürfe und nur eine Duldung, keine Arbeitserlaubnis hätte. In der Gastwirtschaft könnten sie den brauchen.

Ansonsten, die Jungen wollten nicht in die Gastronomie. „Studieren lieber. Aber es bleiben wieder mehr im Dorf. In der Stadt die Häuser sind teuer und die Mieten hoch.“

„Die finden hier Arbeit? Oder pendeln dann?“

„Die bleiben einfach.“

Ob bleiben würde, was das Dorf sich geschaffen hatte?

Die jüngere Schwester der Wanderleiterin würde bald das väterliche Unternehmen führen. Die hatte jetzt schon die Physiotherapie im oberen Teil des Hauses mit Bäder- und Massagebereich aufs Feinste erneuert. Es würde ein anderes Haus werden. Empfände sie das Heimelige noch bei einer Wiederkehr?

Ihr übersteigertes Sensorium für das Vergängliche des Seienden.

Man kehrte immer wieder zum Gewesenen zurück, weil man sich selbst nicht entrann. Das Gewesene hatte merkwürdigerweise die Züge der Jetztzeit übernommen. Oder war es umgekehrt? Heftete sie dem Augenblicklichen Züge des Gewesenen an?

Sich dem überlassen, was der 700-Seelen-Ort nun zu bieten hatte: Wanderungen durch den Wald. Passau mit der hoch über Donau, Ilz und Inn gelegenen Burg, erst vom neben der Burg gelegenen Parkplatz bergab zur Stadt, rückwärts klomm sie den Berg hinan.

Wo sie fast immer gewohnt hatte. Dieselbe Stadt? Ja. Mit allen Schmerzen, die dieses steinerne Ungetüm erfahren hatte, mit den Narben, die das der Trennung Vorhergehende hinterlassen hatte, wie auch mit denen des getrennt und im steten Widerspruch zueinander Gewachsenen.

Nicht ihr Geburtsort, war diese Stadt doch ihre Heimat.

Warum?

Nur weil sie seit Jahrzehnten hier lebte?

Das Herkommen nicht überbewerten.

Nicht alles darauf zurückführen.

Es in sich tragen.

Mit sich.

Wie eine Schnecke ihr Haus.

Es aufbauen.

Ja, es aufbauen, denn es änderte sich mit der Gestalt derer, die es in sich, auf sich trugen, und das Erinnern und Wissen war nichts ein für alle Mal Feststehendes.

Das Werten schaffte den Plan.

Aufwerten. Abwerten. Bewerten.

Wertschätzen.

Nur was angenommen wurde, konnte sich ändern.

Vergangenes sollte sich ändern?

Alles, was war, ist. Abgenutzte Phrase. Trotzdem. Mit dem Vergehen, Bestehen umgehen. Miteinander umgehen. Die Heimaten mischten sich. Zerrissenes verband sich, Hinzukommendes wollte aufgenommen sein. Willkommen heißen. War das illusionär? Da man nicht alles Dazukommende schätzte, wie auch, man schätzte auch nicht alles lange Vorhandene, wertschätzen, abschätzen, bewerten, nein, annehmen das Aufgenommene und schauen, was daraus werden konnte, wie das Ganze dann aussah, wie es einem gefiele, wie es sich im Erhalten und Verändern gestaltete. Ach ja. Geben und Nehmen. Wie?

Vom Schicksal gebeutelte Menschen willkommen zu heißen bedeutete nicht, alles Mitgebrachte so, wie es war, dem Eigenen zuordnen zu wollen.

Sie erinnerte sich eines syrischen Jungen. In der Schule daheim sei ihn der Anti-Semitismus gelehrt worden. Ein Opfer. Opfer. Täter. Als ob das die Zeiten hindurch ein für alle Mal voneinander geschieden wäre.

Am Anfang war das Wort.

Geben und Nehmen.

Sich mit Vergangenem im Gegenwärtigen auseinandersetzen.

Eine gemeinsame Aufgabe, die angenommen sein wollte, die andere Gesellschaft, die andere Schule, das schützte nicht vor Denkgeburten, die das Grausige des Geschehens der Vorzeit der Teilung nicht, ja, was nicht, nicht darum wussten, es leugneten oder für richtig hielten, da sie selbst sich zu dessen Meistern aufschwingen wollten.

Ein Durchdenken.

Sich in das vor Ort Geschehene einfühlen.

Das ging nicht.

Wie denn?

Zuhören.

Sich selbst erklären.

Fühlte sie sich als Migrantin? Als Flüchtling gar?

Wie konnte sie das sein, da sie ihren Wohnort nicht verlassen hatte?

Sprache war unvollkommen.

Dem nachzuspüren hieß, sich des eigenen unvollkommenen wie vollkommenen Seins bewusst zu werden. Universum Mensch. Mit Flora und Fauna, Kontinenten und Gewässern, Rinnsalen, Flüssen, Gasansammlungen. Gelegentlich ein Vulkan, der alles Mögliche aus sich herausschleuderte. Gewaltige Wortbrocken etwa. Wer davon getroffen-betroffen wurde, laborierte für gewöhnlich an stärkerem Verletzt-Sein.

Half es, demselben Sprachgebiet anzugehören?

In einer fremden Sprache bewegte sie sich sehr sorgsam.

Der geringere Wortschatz begünstigte den Small Talk, den die meisten Deutschen nicht beherrschten, wie eine amerikanische Kollegin, die an der Viadrina Englisch unterrichtete, ihr gegenüber auf der Zugfahrt von Frankfurt (Oder) gen Berlin behauptete. Sehr nett war es gewesen, dass sie ihr Oxford-Englisch bescheinigt hatte. Small Talk eben. Gerade Studierende in die Semesterferien verabschiedet, die dem Amerikanischen huldigten und Grammatik für altmodisch Verknöchertes hielten. Da war die lautkundemäßig von Minderwertigkeitskomplexen gepeinigte, mehr oder weniger nur mit Schulkenntnissen versehene, dessen aber bewusste, Kollegin sicher ungemein erfrischend gewesen. Sie konnten locker herumradebrechen und sich dabei köstlich amüsieren.

Schul-Englisch, Minderjährige belustigte der ungelenke Slang. Ach, wie schön war doch Small Talk.

Muttersprache.

War Heimatsprache nicht treffender?

Oder wenigstens von Eltern und Großeltern vererbte Vokabel-, Grammatik- und Aussprachekenntnisse und -gewohnheiten.

Das Gewohnte.

Kommen zwei Teile Deutschlands zusammen. Der eine größer als der andere, Jahrzehnte gut gefördert von Uncle Sam. Der andere, kleinere, gerade von Djadja Iwanuschka gelöst, einem Onkel, den er eine Zeit zuvor im Verein mit dem anderen am Leibe beschädigt hatte und der trotzdem zum Onkelchen geworden war, vom großen Bruder wurde gesprochen, nicht vom Onkelchen. Väterchen. Stalin. Ein kleines Mädchen war sie, als das starb. Eine Mitschülerin weinte, als sie von Stalins Tod hörte.

In ihrer Familie sprach man nicht von den Freunden. Kritisches auch nicht. Eine Tante in Fünfeichen. 17 oder 18 Jahre alt, von einem, der Waffen gehortet hatte, der Zugehörigkeit zum Werwolf bezichtigt, zusammen mit sechs weiteren jungen Mädchen, sie wäre wieder freigekommen wie die anderen, starb im Lager an Typhus. Eine der Schwestern der Mutter war das. Krieg hinterließ Entsetzen. Auf jeder Seite. Auch auf der Seite der Täter. Sicher. Wahrheiten. Die älteste Schwester des Vaters vergewaltigt. Diese Tante wurde sehr alt, führte eine glückliche Ehe, blieb kinderlos, sprach nicht von dem vor der Ehe Geschehenen. Niemand in der Familie sprach davon.

Die Freunde.

Selbst hungernd Kindern Essen gegeben. Verwaltung des täglichen Lebens organisiert.

Freunde.

Der Unterschied. Wer was wie am eigenen Leibe erfahren hatte.

20 Millionen Tote auf sowjetischer Seite. Wiedergutmachung. Annäherung. Verständnis füreinander. Aus einem Stockholm-Syndrom resultierte das nicht.

Ein Großonkel war Panzerfahrer gewesen. Splitter im Kopf. Amerikanischer Kriegsgefangener. Kein Erbarmen nirgends in seinem Erinnern. Doch, eine Krankenschwester, Katholikin, seine spätere Frau, pflegte ihn, ertrug seine Schmerzen, die körperliche und seelische Verwundung. Wie klang das jetzt? Als wolle sie Vergangenes reinwaschen. Das stimmte nicht. Die kausale Kette. Eins folgte aufs andere. Aus dem einen ins andere. Krieg. Nachkrieg. Sie hatten alles in allem Glück gehabt, denn die Siegermächte hatten sich, da nur für eine Seite zuständig, für diese in Konkurrenz zueinander verantwortlich gefühlt. Die zerrissenen Familien konnten nun wieder zueinanderfinden. Fanden sie?

Die endlich gefundene gültig gedachte Gestalt. Keine Experimente. „Die hatten wir genug.“ Hatten sie? Vorgegebenes, das meinte, wissenschaftlich vorhersagbar der Zukunft die menschengemäße Form geben zu können. Niemand solle Not leiden. Die Arbeiterklasse als Garant dessen in der Zeit, in der es noch nach Leistung ginge, nicht vor allem nach den Bedürfnissen der einzelnen Individuen. Letzteres so weit die Leistung der einzelnen Individuen und Gesellschaften es zuließen. Logisch.

Heimat. Das große Versprechen. An das geglaubt wurde. Der Heimat musste man glauben. Mehr oder minder.

Das Glauben hatte Schaden genommen.

Das Glauben wurde geübt.

Nicht zu verwechseln mit der religiösen Konkurrenz.

Alle trugen ihre Heimaten in sich.

Trugen sie in die Heimaten anderer hinein.

Wie sonst? Es muss gemischt werden, damit es weitergeht. Artenvielfalt bedeutete, vergleichen, sich entwickeln, gestalten zu können.

Die erste gemeinsame Lesung nach der Wende aus einem Nach-Wende-Buch, an dem sie selbst beteiligt gewesen war. Deutsch-deutsche Geschichten.

Das war ein Teil der Wahrheit.

Nicht, weil es auf der einen Seite ausländische Studierende, in ihren Ländern politisch Verfolgte (Chilenen flohen vor Pinochet hier- wie dorthin) und Gastarbeiter gegeben hätte und auf der anderen nicht.

Richtung und Dimension unterschieden sich.

Festgelegt sein.

Von Gastarbeitern hatte man auf ihrer Seite nicht gesprochen. Das waren Menschen, die aus befreundeten Ländern kamen, um hier beim Aufbau zu helfen und selbst zu lernen, das Gelernte in die eigenen Länder mitzunehmen und dort anzuwenden.

Hilfe leistende Abgesandte verbündeter Länder also.

Einen Rassisten schimpfte sie ihren Bruder, der sich ärgerte, die Angolaner nähmen den Deutschen bei der Disko die Mädchen weg.

Zwang zur Liebe. Zum Lieben kann man nicht gezwungen werden.

Hinter der Hand wurde geschimpft, die Hinzugekommenen würden mit Wohnraum bevorzugt. Mangelware. Auch, wenn er billig vermietet wurde und Hochhäuser gebaut wurden.

Wie sollst du existieren ohne Liebe? Da du doch selbst ihr Produkt bist. Ihre Fortführung. Modifizierung. Mehr daran gebunden als die Schnecke an ihr Schneckenhaus.

Du wirst das nicht loswerden, was dich hervorgebracht hat.

Du verteidigst, was du nicht verteidigen wolltest.

Du bist, wie du nicht sein wolltest.

Nein, das war keine kausale Kette. Sie konnte sich selbst annehmen und sie konnte sich ändern, in diesem Ändern bestätigen.

Worum ging es? Um Heimat? Oder um ein Modell des Zusammenlebens? Das eine war vom anderen nicht zu trennen.

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