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[…] weil ihre Genealogie eine von der Wahrheit des Textes her als solche erkennbare falsche Genealogie, das heißt, ein Betrug ist. Die Juden sind falsch, juristisch falsch, wie gefälschte Schriftstücke; sie sind die falschen Nachkommen Abrahams, sie haben den Text falsch verstanden, die Formel Abrahams ‚et semen eius‘ falsch interpretiert.114

In dieses Schema der „legitimen Erbschaft“ gehörte auch die Frage der Blutslinie. Um Anspruch auf die jüdische Erbschaft zu erheben, legten die Christen mehrere Erzählungen der Hebräischen Bibel als Prophetien aus, in denen die Ankunft des Messias in der Gestalt von Jesus Christus angekündigt wurde.

Durch ein paar abenteuerliche Deszendenzkonstruktionen wurde Jesus Christus zum legitimen Erben des davidischen Throns, also des Königs der Juden, erklärt. Allerdings gab es ein entscheidendes Problem: Der Thron Davids wurde in männlicher Linie vererbt – und das matrilineare Prinzip, das die Rabbinen aus den Tora-Bestimmungen abgeleitet und als göttliches Gesetz legitimiert hatten, widersprach dem. Wie konnte sich das Christentum unter diesen Umständen der Rechtsnachfolge sicher sein? Indem es eine männliche und eine weibliche Deszendenlinie für Jesus Christus entwickelte. Die männliche Abstammung entsprach den Stammeslinien der Bibel und wurde darüber hinaus durch die göttliche Herkunft Christi, in eine Art von „geistiger Vaterschaft“ überführt, die ab dem 3. Jahrhundert auch für seine göttliche Herkunft stand. Für die weibliche Linie war dagegen die Jungfrau Maria die richtige Lösung: Erstens war sie ein „Sprössling“ aus dem Hause Davids, und da zweitens kein leiblicher Vater ins Spiel kam, handelte es sich eindeutig um eine weibliche Deszendenz, zumindest was die „menschliche Natur“ Christi betraf.115 Ob die Rabbinen die Absicht hatten, den Christen durch die Matrilinearität die Erbschaft ihrer Heiligen Schrift streitig zu machen oder nicht: Rückblickend kann man sich zumindest fragen, ob es ohne die Einführung der Matrilinearität auf jüdischer Seite überhaupt zu den christlichen Lehren der Jungfrauengeburt und dem Dogma der unbefleckten Empfängnis gekommen wäre.

Viele Differenzen zwischen rabbinischem Judentum und frühem Christentum betrafen Fragen der Sexualität und Fortpflanzung. „Die neue Denkweise, die im 2. Jahrhundert in christlichen Kreisen aufkam“, so Peter Brown, „verschob den Schwerpunkt des Denkens über die Natur menschlicher Schwachheit vom Tod auf die Sexualität. Denn die Sexualität wurde nicht mehr als freundliches Mittel gegen den Tod dargestellt.“ Vielmehr wurde sie „privilegiertes Symptom dafür, daß die Menschheit in Knechtschaft verfallen war“.116 Das christliche Ideal der Askese und die hohe Bewertung der Jungfräulichkeit117 waren der jüdischen Religion fremd: Am Schabbat hat der jüdische Mann „die Pflicht“ mit seiner Frau Geschlechtsverkehr zu haben; die sexuelle Vernachlässigung wurde von den Rabbinen als Grund akzeptiert, wenn eine Frau sich von ihrem Mann trennen wollte. Auch war ein Rabbi, im Gegensatz zu den christlichen Geistlichen, immer ein verheirateter Mann. Der ganzen antiken Welt war der christliche „Boykott des Schoßes“118 fremd. Die Sexualität galt Griechen wie Römern und Juden als Tribut, den Männer und Frauen für den Erhalt der Gemeinschaft zu erbringen hatten.

Das christliche Askese-Ideal übte allerdings eine hohe Anziehungskraft auf Frauen aus, weil es zugleich Geschlechtergerechtigkeit und Zugang zu einem geistigen Leben versprach. Diese Frauen genossen im frühen Christentum ein hohes Ansehen. Doch ab dem 4. Jahrhundert – d. h. in der Zeit, in der sich die christliche „Staatskirche“ allmählich herausbildete – verzog sich das Askese-Ideal in die Klöster, und in der Welt „draußen“ setzte sich eine traditionelle Geschlechterordnung durch: 34 der 81 canones, die die im Jahre 306 in Elvira versammelten Bischöfe erließen, betrafen Fragen der Ehe und sexueller Vergehen, ein Viertel aller Entscheidungen beinhaltete eine verstärkte Kontrolle der Frauen der christlichen Gemeinschaft.119

Dieser Wandel ging mit einem verschärften Antijudaismus einher. Auf dem Konzil von Elvira wurden auch die ersten kirchlichen Regeln erlassen, die sich ausdrücklich gegen das Judentum richteten – Regeln, die später in staatliches Recht überführt wurden. Vier der 81 canones von Elvira sahen eine Distanzierung vom Judentum vor: Ehen mit jüdischen oder heidnischen Partnern wurden verboten; Großgrundbesitzern wurde untersagt, ihre Feldfrüchte von Juden segnen zu lassen, und Gläubige sollten keine Tischgemeinschaft mit Juden pflegen. Auf der anderen Seite hatte sich zu dieser Zeit aber auch das rabbinische Judentum etabliert – und mit ihr die Halacha, der Verhaltenskodex für gläubige Juden. Zwar galt dies zunächst nur für Palästina (die Verbreitung der neuen Lehre in der erweiterten Diaspora sollte noch einige Jahrhunderte auf sich warten lassen, und erst im 8. Jahrhundert erreichte die Halacha Spanien und Italien, das Rheinland sogar erst im 9. Jahrhundert), doch mit der Halacha war ein Instrument geschaffen worden, „das in der Lage war, den wechselnden historischen Herausforderungen entsprechende Antworten zu geben“.120

Mit dem Übertritt von Konstantin dem Großen zum Christentum zu Beginn des 4. Jahrhunderts fiel im Römischen Reich das Verbot gegen die christliche Religion. Fortan wurde aus dem religiösen Konflikt ein politischer. Waren Judentum und Christentum im vorkonstantinischen Römischen Reich gleichermaßen Außenseiter, so erhielt nun die christliche Gemeinschaft durch die Verbindung mit der kaiserlichen Macht politisches Gewicht – und das veränderte die Rivalität zwischen den beiden Religionsgemeinschaften beträchtlich. Als im Jahr 380 das Christentum im Römischen Reich zur offiziellen Religion wurde, wurden Juden zu doppelten Außenseitern: der Religionsgemeinschaft wie des Staates. Im Jahre 438 dekretierte der Codex Theodosianus den Ausschluss von Juden von öffentlichen Ämtern und das Verbot der Mission unter römischen Bürgern oder Sklaven.121

So wie sich die jüdische Ablehnung des Christentums zunächst vor allem gegen die Abtrünnigen in den eignen Reihen richtete, hatte auch der christliche Antijudaismus oft innerreligiöse Hintergründe und Auswirkungen – und dieses Wechselspiel zog sich bis in die Moderne. Die antijüdische Literatur des 7. Jahrhunderts z. B. stand in enger Beziehung zum Bilderstreit, der innerhalb der christlichen Religion tobte, als dort neben die traditionelle Rechtfertigung der Kreuzesverehrung die Rechtfertigung des Bildes im christlichen Gebrauch trat.122 Andersherum verschärfte sich mit der Entwicklung der christlichen Bilderverehrung das jüdische Bilderverbot (siehe hierzu auch den Beitrag von Inka Bertz, S. 399).123 Die kirchlichen Debatten des 11. und 12. Jahrhunderts um die Bedeutung von Brot und Wein bei der Messe wurden auf dem Laterankonzil von 1215 zugunsten der Transsubstantiationslehre entschieden. Zugleich wurde die Bestimmung erlassen, dass Juden einen gelben Fleck zu tragen hatten. Während bei der Messe aus dem Symbol Brot und Wein das reale Fleisch und Blut Christi wurde, verwandelte die Markierung den „Juden“ in einen sichtbaren, physiologischen Anderen. Die Fixierung auf die andere Religion zog sich durch die gesamte Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehung: vom 1. Jahrhundert über das Mittelalter bis in die Moderne. Andersherum war auch die Haskala, die jüdische Aufklärung, eine Reaktion auf die Aufklärung des christlichen Kulturraums, wie auch die jüdische Orthodoxie, die sich dieser Entwicklung verweigerte (siehe hierzu auch den Beitrag von Julius H. Schoeps, S. 289).

Neue jüdische Identitäten

Mit der Entstehung des Staates Israel im Jahre 1948 änderte sich die Situation des Judentums grundlegend. Zum ersten Mal seit fast 2000 Jahren gab es neben der Diaspora auch einen festen Ort, ein „jüdisches Territorium“. Die jüdische Bevölkerung wurde 1945 auf 11 Millionen Personen geschätzt und umfasst heute 14,1 Millionen.124 Während der Diaspora 1945 noch ca. 10,5 Millionen Personen zugerechnet wurden, sank dieser Teil der jüdischen Weltbevölkerung auf heute 8,1 Millionen. Die meisten von ihnen leben in den USA. In demselben Zeitraum wuchs die jüdische Bevölkerung Israels von einer halben auf 6,1 Millionen Personen an.125 Israel hat heute die USA als größte jüdische Gemeinde verdrängt. 2050, so die Prognose, werden 57 Prozent aller Juden in Israel und 34 Prozent in den USA leben. Der europäische Anteil werde in demselben Zeitraum von 9 Prozent (1,2 Millionen) im Jahr 2006 auf sechs Prozent (0,8 Millionen) im Jahr 2050 zurückgehen.126 Man rechnet also mit einem weiteren Wachstum zugunsten von Israel und zulasten der Diaspora. Würde die jüdische Bevölkerung der USA nach halachischen Kriterien bemessen, wäre die Disproportion noch größer.127

Israel bedeutet nicht zwingend eine Zunahme der religiösen Definition des Judentums. Schon die zionistische Emigration nach Palästina war mehrheitlich säkular oder sogar atheistisch und plante einen „säkularen jüdischen Nationalstaat“, in dem die Religion „nur ein Bestandteil des nationalen kulturellen Erbes“ sein sollte – eine Vision, die von den religiösen Zionisten freilich nicht geteilt wurde.128 Zu einem religiösen Gebilde entwickelte sich der israelische Staat eigentlich erst seit dem Sechstagekrieg von 1967, der die Notwendigkeit einer einheitsstiftenden Kraft deutlich machte – und für diese kam in erster Linie die Religion in Frage (siehe hierzu auch den Beitrag von Micha Brumlik zum Thema Zionismus, S. 371). Dennoch bezeichnet sich noch heute eine deutliche Mehrheit (60 Prozent) der Israelis als säkular. Allerdings lebt diese Mehrheit, wenn auch nicht explizit, nach einem reformjüdischen Modell: Sie bekennt sich zum Judentum und hält sich an Rituale und Feiertage wie Schabbat, Beschneidung, Bar Mitzwa, Pessach, Jom Kippur etc. Diese werden aber nicht unbedingt als Rituale der jüdischen Religion wahrgenommen, sondern als „Bestandteile der Kultur in der israelisch-jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Insofern heißt säkular leben, insbesondere in Israel, immer auch durch Sprache und Kultur dem Judentum verbunden bleiben“.129 Die meisten areligiösen Israelis, so Amos Oz, seien „Reformjuden, ohne es zu wissen“.130 Auch der „säkularste“ Israeli sei täglich mehr „Jiddischkeit“ ausgesetzt, als es ein orthodoxer amerikanischer Jude je sein wird; allein die hebräische Sprache sei eine stete Erinnerung an die eigenen Wurzeln.131 Was Israel also garantiert, ist die „Selbstverständlichkeit“ des Jüdisch-Seins – eine Erkenntnis, zu der viele Israelis erst kommen, wenn sie im Ausland zum ersten Mal erleben, dass ihre jüdische Identität minoritär ist.

Die Entstehung des Staates Israel bedeutete für einen Teil der jüdischen Weltbevölkerung das Ende der Diaspora. Das gilt heute nicht nur für Israelis, sondern auch für Juden in anderen Ländern. Für sie ist Israel zu einem Ort der Sicherheit im Fall von Verfolgung geworden. Er bedeutet die Bindung an ein Land, auch wenn sie nicht dort leben. Israel hat nicht die Bibel als Mittel der Kohäsion ersetzt; der Staat hat nicht das „portative Vaterland“ verdrängt. Doch das „Heilige Land“ ergänzt die „Heilige Schrift“. Dadurch besteht nicht mehr in demselben Maße die Notwendigkeit, den weiblichen Körper zur „Heimstätte“ des Judentums zu machen. Zwar gilt auch in Israel das matrilineare Prinzip jüdischer Identität, doch in der Praxis wird es teilweise durchbrochen, etwa durch die Immigrationsgesetze von 1970, die auch die Ehepartner, Kinder und Enkel eines Juden, den Ehepartner des Kindes eines Juden und den Ehepartner eines Enkels eines Juden in das Rückkehrrecht einbeziehen. Dadurch sollte explizit die Einheit von Familien, in denen es zu religiös gemischten Familien kam, bewahrt werden. Eigentlich ist es erstaunlich, dass Israel an der mütterlichen Linie festhält, obwohl diese eine Erfindung der Diaspora und durch die Diaspora bedingt war. Mit der Entstehung eines jüdischen Staats mit eigenem Territorium wäre das „Ersatzterritorium“ Mutter eigentlich verzichtbar. Wenn der Staat Israel dennoch daran festhält, so mag dies daran liegen, dass die Frage der Territorialität weiterhin als prekär empfunden wird.

In vielen Ländern, in denen noch 1970 Juden lebten, gibt es heute so gut wie keine jüdischen Gemeinden mehr – darunter Belarus, Moldawien, Usbekistan, Iran, Rumänien, Georgien, Marokko, Aserbaidschan. In anderen, wo 1970 kaum Juden lebten, gibt es jetzt jüdische Gemeinden – darunter Deutschland, Mexiko, Belgien, Niederlande, Italien, Chile, die Schweiz, Uruguay. Was die Diaspora betrifft, „deutet alles auf eine Verwestlichung des globalen jüdischen Kollektivs“.132 Die Verlagerung innerhalb des Judentums von Religion zu Kultur ist zugleich ein Phänomen der Diaspora. Unter den „säkularen“ Juden ist die Rate der Mischehen wiederum besonders hoch: Ca. 50 Prozent aller Juden außerhalb von Israel gehen Mischehen ein. Ist die Mutter jüdisch, so besteht wiederum eine 37-prozentige Chance, dass sich die Kinder als Juden betrachten; ist dagegen der Vater jüdisch, so übernehmen nur 15 Prozent der Kinder seine Erbschaft. In Ehen, wo beide Eltern jüdisch sind, liegt der Prozentsatz bei 92 Prozent. Bei den Enkeln weitet sich die Schere noch.133 Hinzu kommen die generell niedrigeren Geburtenraten, vor allem in Europa. Die Kombination von niedrigen Geburtenraten und hoher Rate an „Mischehen“ führt insgesamt zu einem Rückgang der jüdischen Bevölkerung in der Diaspora, die noch erheblich verstärkt würde, sollte sich die von der Orthodoxie geforderte Einschränkung auf das Prinzip der Matrilinearität überall durchsetzen. Sie bewirkt laut Olmer, dass „das jüdische Volk täglich um 150 Personen schrumpft“.134 An sich kann nicht wirklich von einer Abnahme der jüdischen Bevölkerung die Rede sein, nicht einmal, wenn man den großen Verlust an Menschen durch den Holocaust bedenkt. Die jüdische Weltbevölkerung betrug 1900 10,5 Millionen, im Jahr 1939 16,5 Millionen; nach dem Holocaust wurde sie auf 11 Millionen geschätzt. Bis zum Jahr 2014 wuchs sie wieder auf 14,2 Millionen an. Der größte Teil des Wachstums fand unmittelbar nach 1945 statt. In nur 13 Jahren wuchs die jüdische Bevölkerung um eine Million Menschen, „aber es bedurfte weiterer 47 Jahre, um eine weitere Million hinzuzufügen“.135 Seit 1970 stagniert das Wachstum. Allerdings verdreifachte sich die Weltbevölkerung von 1945 bis 2014, und der Rückgang des jüdischen Anteils stellt in der Tat eine Gefahr für den Bestand des Judentums dar.

So wundert es nicht, dass viele Juden, vor allem in der Diaspora, nun fordern, auch Kinder von jüdischen Vätern als Juden anzuerkennen. Diese Entscheidung, die sich – außer in Israel – durch keine staatliche Gesetzgebung bestimmen lässt, kann nur von den jüdischen Gemeinden selbst getroffen werden. Heinrich C. Olmer, der inzwischen verstorbene Vizepräsident des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, veröffentlichte 2010 ein Plädoyer für die Zulassung der „jüdischen Vaterschaft“. Er konstatiert, dass das Judentum heute vor ähnlichen Fragen steht wie das Rabbinat vor 2000 Jahren – nur in Umkehrung. Olmer fragt: Können die alten Gesetze, die damals das Überleben des Judentums sicherten, heute noch diese Funktion erfüllen? Sind das Matrilinearitätsprinzip, das Verbot der Mischehe, die Verknüpfung von Religion, Ethnizität und Nationalität, der heutigen Situation noch angemessen? Seine Antwort:

Es ist fraglich, ob mit dieser Position in der globalisierten, säkularen Welt des 21. Jh., eines pluralen Judentums und einer immens ansteigenden Mischehenrate die Menschen, die dem Judentum verbunden sind, aber von der Orthodoxie mit der starren Definition „Wer ist Jude?“ von der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden, die Zukunft des jüdischen Volks gesichert werden kann.136

In Deutschland plädiert, neben Heinrich Olmer, auch der Pädagoge und Judaist Micha Brumlik dafür, die patrilineare Abstammung als hinreichendes Kriterium der Zugehörigkeit zum Judentum wiedereinzuführen.

Wenn es historischen Umständen geschuldet war, im 2. Jahrhundert gegen die biblischen Abstammungsregeln der Mischna die Matrilinearität einzuführen, sollte es gemäß dem Geist des rabbinischen Pragmatismus doch heute möglich sein, die Matrilinearität zwar nicht abzuschaffen, sie aber doch um die Patrilinearität zu ergänzen.137

Die jüdische Gemeinde in Deutschland setzt sich heute zu einem großen Teil aus Juden zusammen, die nicht den halachischen Kriterien entsprechen: Seit 1990 kamen 220.000 sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Israel, die USA und Deutschland nahmen 92 Prozent aller russischen ImmigrantInnen auf. Seit 2001 ist Deutschland das wichtigste Zielland, noch vor den USA und Israel.138 Die aus Russland immigrierten Juden machen heute 80 Prozent der deutschen Juden aus – das ist weltweit einmalig. Der Mitgliederbestand der jüdischen Gemeinden hat sich wegen dieser Immigration seit den 1990er Jahren verdreifacht. Die alteingesessenen Juden, die die neuen eigentlich „integrieren“ sollten, bilden heute eine Minderheit. Man vermutet, dass inzwischen 200.000 Juden in Deutschland leben, hat aber keine genauen Zahlen, weil viele (man schätzt ca. 100.000) keiner Gemeinde angeschlossen sind.139 Das liegt vor allem daran, dass die meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland an den halachischen Gesetzen festhalten, sich die religiöse Zuordnung in Russland jedoch nach dem Vater richtete.140 Von den deutschen Behörden dagegen werden die immigrierten Juden als Juden anerkannt – eine widersprüchliche Situation, die für die Betroffenen vollkommen unverständlich ist.

Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft unterliegt also Kriterien, die sich von einem Land zum anderen unterscheiden können. Aus solchen Überlegungen heraus sind viele reformjüdische Gemeinden in den USA und Großbritannien sowie liberale Gemeinden in Deutschland dazu übergegangen, Kinder, die nur einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben, zu Bar Mitzwa und Bat Mitzwa zuzulassen, sofern sie jüdisch erzogen wurden. Am 15. März 1983 fasste das Committee for Patrilineal Descent der amerikanischen Reformgemeinden einen Beschluss, in dem es heißt: „Die Central Conference of American Rabbis erklärt, dass das Kind eines jüdischen Elternteils unter der Vermutung einer jüdischen Abstammung steht.“ Diese „Vermutung“ (es ist interessant, dass hier derselbe Begriff wie für die „Vaterschaftsvermutung“ verwendet wird) soll allerdings durch den Akt eines öffentlichen Bekenntnisses zum jüdischen Glauben und eine entsprechende Unterweisung ergänzt werden.141 Nahezu alle Gemeinden, die der World Union for Progressive Judaism angehören, haben die Positionen des amerikanischen Reformjudentums übernommen.142 „Jüdische Identität war nun weniger gegeben als wählbar. Kinder mit einem jüdischen Elternteil optierten für die jüdische Identität. […] Die Betonung verschob sich von der Geburt auf die bewusste Entscheidung.“143 Sogar in konservativen Gemeinden zeigen Umfragen, „dass 68 Prozent aller Befragten die patrilineare Abstammung unterstützen würden“.144 Insgesamt offenbart sich das Aufkommen einer neuen, „mehr individualistisch empfundenen jüdischen Identität außerhalb der etablierten jüdischen Strukturen“.145 Ähnliche Entwicklungen gelten auch für Großbritannien und Frankreich. Je nachdem, wie die jüdische Identität definiert wird – halachisch oder nach den Kriterien des Reformjudentums –, ergeben sich so erhebliche Differenzen in der Bevölkerungsstatistik.

Für Kinder von jüdischen Vätern und nichtjüdischen Müttern findet immer öfter der Begriff „Halbjude“ Verwendung. Er erinnert natürlich an die nationalsozialistischen Bezeichnungen, doch während diese ausschließlich die „Blutslinie“ meinten, sind mit diesen „Halbjuden“ neue kulturelle Identitäten gemeint, die sich stärker an der Frage der jüdischen Erziehung orientieren. 2006 hat eine Gruppe um Robin Margolis das „halbjüdische Netzwerk“ ins Leben gerufen.146 Es fand bereits Anerkennung beim US-Reformjudentum und bei den „Rekonstruktionisten“ (siehe hierzu auch den Beitrag von Michael A. Meyer, S. 277).147 Eine Studie konnte nachweisen, dass im Großraum Boston 60 Prozent der Kinder aus Mischehen als Juden erzogen werden. Sie galten bisher als „halbjüdisch“, könnten nun aber ihren Einfluss auf eine neue Definition von „jüdisch“ geltend machen.148 Die französische Historikerin Esther Benbassa schreibt dazu: Die exogame Ehe bedeutet „nicht notwendigerweise den Austritt aus dem Judentum, sondern die Erfindung einer neuen jüdischen Identität, die es erlaubt, exogam zu heiraten, gleichzeitig Mitglied einer Gemeinde zu bleiben und diese Identität seinen Nachkommen weiterzugeben“.149 Manche reformjüdischen Gemeinden gehen inzwischen so weit, bei Mischehen die jüdische Mutter als Zugehörigkeitskriterium auszuschließen, wenn die Familie keine Erziehung zum Judentum garantiert. Eine solche Einstellung bedeutet potentiell, dass zwei völlig unterschiedliche, ja sogar konträre Definitionen von Judentum entstehen: eine halachisch-orthodoxe gegenüber einer kulturellen. Zum ersten Mal seit 2000 Jahren wird der gemeinsame Nenner aller jüdischen Gemeinden – das Prinzip der Matrilinearität – in Frage gestellt.

Damit steht möglicherweise die Idee der Blutslinie überhaupt zur Disposition – eine Entwicklung, die sich schon im 19. Jahrhundert, mit dem Säkularisierungsprozess angebahnt hatte und ihren Ausdruck in neuen, weder religiösen noch ethnischen Definitionen jüdischer Identität fand. Im Zusammenhang mit Freud spricht Yerushalmi vom „psychologischen Juden“. Den klassischen jüdischen Texten entfremdet,

spricht der psychologische Jude gern von unveräußerlichen jüdischen Zügen. Befragt man ihn weiter, so nennt er als typische jüdische Eigenschaften unter anderem Intellektualität und geistige Unabhängigkeit, höchste ethische und moralische Normen, Sinn für soziale Gerechtigkeit und Unbeirrbarkeit angesichts der Verfolgung.150

Andere sprechen von „kulturellen Juden“, die zwar auch religionsfern sind, deren jüdische Herkunft aber dennoch eine wichtige Rolle spielt. Diesen „kulturellen Juden“, repräsentiert etwa durch Aby Warburg, Ernst Cassirer, Georg Simmel, Walter Benjamin oder Franz Kafka, verdankte das geistige Klima der Jahrhundertwende in Wien, Berlin oder Prag Impulse, die im Kontext einer geistigen Tradition des Judentums zu sehen sind; Impulse, die Ausbildung der Kritik- und Denkfähigkeit bedeuteten.151 Sie hatte viel mit der Tradition der mündlichen Exegese gemein, der Fähigkeit, verschiedene Interpretationen der Tora nebeneinander stehen zu lassen und den Widerspruch zu ertragen.

Im Moment scheint noch die Orthodoxie über die „Norm“ zu bestimmen, aber das gilt schon längst nicht mehr für die USA, und auch in England dürfte bis 2020 die Reformbewegung zur größten jüdischen Strömung geworden sein.152 Auch in den anderen Ländern der Diaspora bilden sich zunehmend nichtorthodoxe jüdische Gemeinden. Die Pluralisierung gilt auch für Deutschland, wo sich mittlerweile mehrere Strömungen herausgebildet haben, die von orthodox über konservativ bis zum liberalen Judentum reichen. Manche von ihnen werden in ein und demselben Rabbinerseminar ausgebildet. Über Jahrhunderte definierte sich das Judentum durch die Orthopraxie, die über Alltag wie religiöses Leben bestimmte. Dieser Aspekt des Judentums scheint nicht mehr den Bedürfnissen zu entsprechen. Jeshajahu Leibowitz (1903–1994) geht sogar so weit zu fragen, „ob das jüdische Volk vom halachischen Standpunkt aus überhaupt noch existiert.“153 Er sieht „ziemlich gute Überlebenschancen für bestimmte orthodoxe jüdische Gruppierungen, aber ich bezweifle doch, dass man darin die Fortexistenz der großen Geschichte des jüdischen Volkes sehen kann“.154 Die moderne Orthodoxie habe keine Antwort auf die aktuellen Probleme des jüdischen Volkes; sie habe „eigentlich kein Verständnis für diese Probleme“.155 Die Conclusio dieses großen Gelehrten, der einerseits moderner Naturwissenschaftler war und andererseits orthodox lebte und in Israel für eine strenge Trennung von Religion und Staat eintrat:

Wenn ich meine Worte zu diesem Thema zusammenfassen soll, dann muss ich sagen, dass die Zukunft des jüdischen Volkes mir wirklich nicht klar ist, nicht in Israel und nicht in der Diaspora. Möglicherweise gibt es für die innere Krise, die im 19. Jh. begonnen hat, wirklich keine Lösung.156

Allerdings, so muss man sagen, hat ein Gutteil jüdischer Denktraditionen auch in nichtjüdischer Umgebung Fuß gefasst – in der Philosophie gilt dies etwa für die Tradition der „Dekonstruktion“, für die vor allem der französische Philosoph Jacques Derrida stand. Und es gilt auch für die kulturtheoretischen Aspekte der Psychoanalyse.157 Auf beiden Gebieten stehen Widerspruch, Uneindeutigkeit, Flexibilität der Auslegung, wie sie für den Talmud bezeichnend sind, im Vordergrund. Auch das vernetzte Wissen des Internets, das sich aus Querverweisen und widersprüchlichen Informationen zusammensetzt, weist eine ähnliche Struktur wie der Talmud auf.

Zu den verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums kommen noch die Unterschiede zwischen dem Judentum in Israel und dem in der Diaspora. In Israel selbst ist keine einheitliche Definition jüdischer Identität zu erkennen: Laut einer Erhebung sind zehn Prozent der israelischen Juden ultraorthodox, elf Prozent „nationalreligiös“, jeder vierte bezeichnet sich als gemäßigt traditionell, vier von zehn als säkular.158 Da jedoch in Israel auch die Säkularen eher dem Reformjudentum zuzuordnen sind, kann hier noch von einer gewissen Zuordnung die Rede sein. Das gilt nicht für die Diaspora. Die Mehrheit der Juden in der Diaspora hat sich überhaupt keiner Denomination angeschlossen. Viele unter ihnen – in manchen US-Städten der überwiegende Teil – gehören keiner Synagogengemeinschaft an. In New York sind es nur 39 Prozent. „Man schätzt, dass ca. 2 Millionen amerikanischer Juden in Haushalten leben, die sich als nichtjüdisch identifizieren.“159 Daneben gibt es aber auch viele, die sich wegen ihrer Herkunft als „jüdisch“ oder aus anderen Gründen mit dem Judentum verbunden fühlen.

Das säkulare Judentum stellt die meist verbreitete Form moderner jüdischer Identität dar. So Adam Chalom, der den Versuch unternommen hat, diese Vielfalt zu definieren.160 Im Vordergrund dieses säkularen Judentums stehen ethische Definitionen wie etwa der Humanismus.161 Auf der Webseite der Society for Humanistic Judaism heißt es, dass viele Juden ihre jüdische Identität nicht in der Religion, sondern in „der historischen Erfahrung des jüdischen Volkes“ finden: „Das humanistische Judentum verschreibt sich einer Mensch-zentrierten Philosophie, die jüdische Kultur ohne übernatürliche Untermauerung feiert. Humanistische Juden schätzen ihre jüdische Identität und jene Aspekte jüdischer Kultur, die einen wahrhaftigen Ausdruck zeitgenössische Lebens bieten.“ So feiere man auch die jüdischen Feiertage und Zeremonien des Lebenszyklus, doch geschehe dies jenseits traditioneller Symbole und Liturgien.162 Das Recht, darüber zu entscheiden, wer Jude ist, gehöre den Juden selbst – eine Formulierung, die über die Paradoxie hinwegsieht, dass man nicht weiß, wer überhaupt ein Anrecht darauf hat, dieses Recht auszuüben. Oder aber die Formulierung will besagen: Jude ist, wer Jude sein will. Genau das war die Antwort, die Ben-Gurion erhielt, als er 1950 einen Fragebogen an Intellektuelle verschickte, in dem er sie nach der jüdischen Identität befragte. „Die Mehrheit der Befragten war der Ansicht, dass jeder, der sich als Jude oder Jüdin betrachtet, Teil des jüdischen Volkes sei.“163 Das Reformjudentum der Diaspora scheint sich weiter in diese Richtung zu bewegen. Symptomatisch dafür ist einerseits die Entstehung des Verbandes Circle of Secular Jews mit seinen Jews of no Religion, andererseits aber auch die Tatsache, dass laut einem Pew Report von Mai 2015 heute jeder sechste erwachsene Jude in den USA ein Konvertit ist.164 Die Konvertiten bezeichnen sich selbst als Jews by Choice – „Wahljuden“. Die Jerusalem Post, die im Mai 2015 über die Ergebnisse des Pew Reports berichtete, illustrierte die Nachricht mit einem Bild von Juden aus Brooklyn, die Purim feiern, sich also „verkleidet“ haben.165 Offenbar sollte mit dieser Illustration unterstellt werden, dass es sich bei der hohen Zahl von Konvertiten um „unechte Juden“ handelt.

Rabbi Walter Jacob, der 1930 in Augsburg als Sohn einer bedeutenden Rabbinerfamilie geboren wurde und 1938 mit seiner Familie in die USA floh, wo er zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten des liberalen Judentums wurde, konstatiert, dass die überwältigende Mehrheit der Juden in Nordamerika, Israel und dem Rest der Welt nur in einem ganz losen Sinne jüdisch ist. Dennoch formen diese Menschen

eine neue, in ethnischer Hinsicht unverwechselbare Jüdischkeit. Sie teilen ein kollektives, kultur-sittliches Gedächtnis und obwohl sie Maimonides, Buber oder dem Gaon von Wilna fernstehen, sind sie doch nicht verloren. Sie entwickeln eine jüdische Kultur, die auf losen Verbindungen zwischen Freunden beruht, auf dem Internet und einer unbestimmten Spiritualität. Diese Spielart der Jüdischkeit hält sich seit Generationen, vielleicht schon ein Jahrhundert lang.166

Er beschreibt damit ein kulturelles und psychologisches Verständnis von jüdischer Identität, das mit einer matrilinearen Blutslinie so gut wie nichts mehr gemein hat, aber Ausdruck eines neuen Verständnisses von Judentum sein könnte.

Für Simon Dubnow deckte sich die moderne Religionsvielfalt mit den unterschiedlichen Einstellungen des frühen 20. Jahrhunderts zu Diaspora und Zionismus: Während die Reformer in der Diaspora einen Vorteil sahen, der zur Verbreitung eines „ethischen Monotheismus“ beigetragen habe, beschwörten Orthodoxe den messianischen Gedanken, laut dem das jüdische Volk ohne eine Heimstatt in Palästina zum Untergang verdammt sei.167 Diese Zuordnung – Reformjudentum der Diaspora, Orthodoxie dem Zionismus – hat sich mit der Entstehung des Staates Israel zunächst nicht bestätigt (der Großteil des Zionisten war nicht religiös, geschweige denn orthodox), nimmt heute aber zunehmend Gestalt an. In den letzten 20 Jahren setzte sich in Israel zunehmend das Gedankengut der Orthodoxie durch, und es übt inzwischen auch Druck auf den majoritären Teil der Bevölkerung aus, der sich als säkular begreift oder einer liberalen Interpretation der Religion nahesteht.168 In der Diaspora ist die Entwicklung genau gegenläufig: In den USA und auch in England wächst die Reformbewegung und dürfte bald zur größten jüdischen Strömung geworden sein.169 Ähnliches gilt auch für die anderen Länder der Diaspora.

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9783846387122
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