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II. Relevanz der Unterscheidung von Verordnung, Richtlinie und Beschluss

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Unterschiedliche Rechtswirkungen

Erweist sich in einer ersten Annäherung die Unterscheidung von Gesetzgebungsakten, delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten als bedeutsam, so ist im Anschluss daran die Differenzierung von Verordnung, Richtlinie und Beschluss aufgrund der mit den einzelnen Rechtsaktformen gemäß Art. 288 AEUV verbundenen Rechtswirkungen und weiterer aus primärrechtlichen Regelungen folgender Zusammenhänge, insbesondere bezüglich der Individualnichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV, von ebenso großer Relevanz.[5] Ein Ansatz für die Systematisierung entsteht demnach in der Kombination der Kategorien der Rechtsakte (Verordnung, Richtlinie, Beschluss) mit der Funktionsrichtung der Rechtsakte (Gesetzgebungsakt, delegierter Rechtsakt, Durchführungsrechtsakt).[6]

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Steuerungsperspektive des Gesetzgebers

Die Frage nach dem Einsatz der geeigneten Handlungsform im Europäischen Verwaltungsverbund stellt sich zunächst für den Europäischen Gesetzgeber, der dem Vollzug auf der mitgliedstaatlichen Ebene in Form von Umsetzungsgesetzgebung und Verwaltung Rechnung tragen muss. Eine Aufgabe des Europäischen Verfassungsrechts besteht daher darin, methodisch die Perspektive der rechtsetzenden Organe einzunehmen und diese mit Blick auf Berechenbarkeit und Steuerungseffektivität über die Gestaltungsoptionen zu informieren.[7] Das Unionsrecht fungiert unter diesem Blickwinkel als administratives Steuerungsrecht.[8] Die Formen der Rechtsakte Verordnung, Richtlinie und Beschluss werden somit zunächst aus der Steuerungsperspektive des Europäischen Gesetzgebers betrachtet.[9]

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Steuerungsinstrumente des Gesetzgebers

Aus der Perspektive des Europäischen Gesetzgebers als Steuerungssubjekt stellt sich die Frage nach dem adäquaten Steuerungsinstrument für die Zielerreichung.[10] Zuerst zu betrachten sind die dem Gesetzgeber vom Unionsrecht zur Verfügung gestellten Steuerungsinstrumente in Gestalt der in Art. 288 AEUV verankerten Rechtsformen.[11] Eine steuerungswissenschaftlich angeleitete Analyse erfasst die in eine dieser für die Rechtsquellen des Unionsrechts vorgesehenen Formen gekleideten Rechtsnormen, die steuernd auf die Verwaltung einwirken.[12] Steuerungsobjekt ist somit die (insbesondere mitgliedstaatliche) Verwaltung, indem sie vom Europäischen Gesetzgeber durch den Erlass von Unionsrecht zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben befähigt und verpflichtet werden soll.[13] Die Koordinaten der in Art. 288 AEUV kodifizierten Rechtsformen sind in einem ersten Zugriff die für die Setzung und die Anwendung des in Verordnungen, Richtlinien und Beschlüssen geregelten Verwaltungsrechts zuständigen Organe und Personen.[14]

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Doppelauftrag: Effektive Verwaltung

Es folgt die Untersuchung der Rechtsaktformen mit Blick auf den Doppelauftrag des Verwaltungsrechts in Gestalt der Disziplinierung und Effektuierung des Verwaltungshandelns.[15] Das Verwaltungsrecht hat danach einerseits den Auftrag, das Verwaltungshandeln einzugrenzen, und andererseits den Bewirkungsauftrag, der administratives Handeln ermöglichen und seine Wirksamkeit sichern soll. Im Unionsrecht wird die Wirksamkeitskomponente klassischerweise durch die Figur des effet utile zum Ausdruck gebracht. Zur Geltung kommt dieser Gesichtspunkt vor allem in Bezug auf den indirekten Vollzug des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen, die an den Formen der Rechtsakte orientierte Einpassungen in die nationalen Rechtsordnungen vornehmen.[16]

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Doppelauftrag: Individueller Rechtsschutz

Die rechtliche Eingrenzung des Verwaltungshandelns findet durch die Aufnahme der Grundrechtecharta ins primäre Unionsrecht inzwischen eine ebenso prominente rechtliche Verankerung. Wichtige Ausprägungen sind die Grundsätze des fairen Verfahrens (Art. 41 GRCh) und des wirksamen Rechtsschutzes (Art. 47 GRCh).[17] Die unionalen Handlungsformen erlangen insbesondere im Rahmen des direkten Vollzugs durch die EU-Eigenverwaltung gegenüber natürlichen und juristischen Personen aus der Rechtsschutzperspektive der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger große Bedeutung.[18]

B. Die Steuerungsperspektive des Europäischen Gesetzgebers
I. Verordnung und Richtlinie als Instrumente der Gesetzgebung

1. Rechtsformerfordernis als Ausnahme, Ermessen als Regelfall

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Vorgaben im Primärrecht

Da die Rechtsformen der Verordnung, der Richtlinie und des Beschlusses als Gesetzgebungsakte fungieren können, kommen diese grundsätzlich für den europäischen Gesetzgeber als Steuerungsmittel der nationalen Verwaltungen in Betracht.[19] Mitunter finden sich in den Verträgen indes genaue Vorgaben für die Form des Rechtsaktes, der auf der Grundlage einer bestimmten Kompetenznorm erlassen wird.[20] So müssen Liberalisierungsmaßnahmen in Bezug auf Dienstleistungen in der Form der Richtlinie ergehen (Art. 59 Abs. 1 AEUV). Die Bedingungen, nach deren Erfüllung Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Recht haben, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben, sind hingegen durch Verordnung zu regeln (Art. 45 Abs. 3 lit. d AEUV). Die Vereinbarkeit bestimmter steuerlicher Maßnahmen seitens der Mitgliedstaaten mit dem Unionsrecht schließlich ist durch Beschluss festzustellen (Art. 65 Abs. 4 S. 1 AEUV). Gemäß Art. 314 AEUV kann die Präsidentin oder der Präsident des Parlaments durch besonderen Akt den endgültigen Erlass des Haushaltsplans festlegen.[21]

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Ermessen

Die Vertragsänderungen haben jedoch zu einer kontinuierlichen Zunahme derjenigen Rechtsgrundlagen geführt, die den Gesetzgeber nicht auf eine bestimmte Form des Rechtsakts festlegen.[22] Wird die Form des zu erlassenden Rechtsakts von den Verträgen nicht vorgegeben, so entscheiden die Organe darüber von Fall zu Fall unter Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 296 Abs. 1 AEUV). Klassische Ermächtigungsgrundlage ohne Spezifizierung der Rechtsform ist die in Art. 114 Abs. 1 S. 2 AEUV verankerte Kompetenz der EU zur Ergreifung von Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben („Binnenmarktkompetenz“). Entsprechendes gilt für Rechtsgrundlagen, in denen mehrere Rechtsaktformen genannt sind, wie beispielsweise in Art. 103 Abs. 1 AEUV („Verordnungen oder Richtlinien“).[23] Die Auswahlentscheidung hinsichtlich der beim Erlass eines Rechtsaktes zu wählenden Form obliegt demnach im Regelfall dem pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Organe unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.[24] Der europäische Gesetzgeber kann folglich sein Ermessen grundsätzlich frei durch den Erlass einer Verordnung anstelle einer Richtlinie ausüben.[25]

2. Verhältnismäßigkeit als Ermessensdirektive?

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Eignung der Rechtsakte

Nach dem kompetenzrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 4 EUV gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus.[26] Die übermäßige Einschränkung des Handlungsspielraumes der Mitgliedstaaten durch die Wahl einer bestimmten Form des Rechtsaktes ist mit Blick auf Art. 296 Abs. 1 AEUV im Regelfall keine Frage der Reduzierung des Auswahlermessens bezüglich der Rechtsform, sondern der Verhältnismäßigkeit.[27] Verordnung und Richtlinie sind somit grundsätzlich gleichermaßen Rechtsetzungsinstrumente, mit denen Kompetenzen ausgeübt werden, deren Reichweite jeweils aus der Ermächtigungsnorm folgt.[28]

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Beschluss als Gesetzgebungsakt

Der Beschluss eignet sich von vornherein nur sehr eingeschränkt als Rechtsform für Gesetzgebungsakte und scheidet daher regelmäßig unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit aus. Adressatengerichtete Beschlüsse können allenfalls in Bezug auf die Mitgliedstaaten abstrakt-generelle Wirkung entfalten[29] und nicht adressatengerichteten Beschlüssen kommt Rechtsnormqualität in der Praxis traditionell nur gegenüber Einrichtungen und Stellen der EU selbst zu.[30] So können Standards im Rahmen der Finanzmarktaufsicht von der Kommission als Verordnung oder nicht adressatengerichteter Beschluss verabschiedet werden.[31] In der Praxis wurden die technischen Standards indes bislang stets in der Rechtsform der Verordnung erlassen.[32] Als Instrumente der Gesetzgebung kommen demnach in erster Linie Verordnung und Richtlinie in Betracht.[33]

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Auswahlentscheidung zwischen Verordnung und Richtlinie

Ausgangspunkt der regelmäßig zwischen Verordnung und Richtlinie mit Blick auf die Erforderlichkeit als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu treffenden Auswahlentscheidung sind deren unterschiedliche Rechtswirkungen.[34] Während die Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (als Rechtsnorm) gilt (Art. 288 UAbs. 2 S. 2 AEUV), ist die Richtlinie lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel (Art. 288 UAbs. 3 AEUV). Die Verordnung als Standardform der Rechtsetzung in der EU zielt folglich auf eine Rechtsvereinheitlichung ab, die Richtlinie lediglich auf eine Rechtsangleichung unter Wahrung gewisser nationaler Unterschiede.[35] Der Verordnung wohnt danach die für die EU als „Rechtsunion“ prägende, einheitsstiftende Wirkung inne, während die Richtlinie daneben auch vielfaltswahrenden Charakter aufweist.[36] Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Verordnungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten – ohne dazwischentretenden Umsetzungsakt – grundsätzlich unmittelbar anwendbar sein können, während Richtlinien die Eignung zur unmittelbaren Anwendbarkeit grundsätzlich fehlt.[37] Der Vorteil der Verordnung gegenüber der Richtlinie für das Verwaltungsrecht liegt in der europaweiten, gleichförmigen Steuerung von Verwaltungsrechtsverhältnissen, der Nachteil in der fehlenden Einpassung in die mitgliedstaatliche Verwaltungsrechtsordnung.[38]

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Vorrang der Richtlinie?

Teilweise wird in der Literatur vor diesem Hintergrund von einem Vorrang der Richtlinie gegenüber der Verordnung ausgegangen.[39] So soll nach strenger Auffassung die Verordnung als die die mitgliedstaatliche Autonomie am weitesten einschränkende Maßnahme nur dann zu wählen sein, wenn den Mitgliedstaaten kein Umsetzungsspielraum ermöglicht werden kann, ohne den Zweck der Maßnahme zu vereiteln.[40] Da die Rechtsetzungstätigkeit der Union nicht über das erforderliche Maß hinausgehen dürfe, sei bei ansonsten gleichen Bedingungen eine Richtlinie einer Verordnung und eine Rahmenrichtlinie einer detaillierten Maßnahme vorzuziehen.[41] Mitunter wird auch mit dem Subsidiaritätsprinzip zugunsten des Einsatzes einer Richtlinie argumentiert.[42]

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Primärrechtliche Absage an Hierarchieverhältnisse

Für einen Regel-Vorrang des Erlasses einer Richtlinie vor einer Verordnung werden mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mehrere Gründe angeführt.[43] Da die Richtlinie im Unterschied zur Verordnung nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels, nicht aber in allen Teilen verbindlich ist, erlaube sie eine schonendere Anpassung des nationalen Rechts an unionsrechtliche Vorgaben. Die Richtlinie wird demnach als mildere Form mit schwächeren Rechtswirkungen charakterisiert.[44] Die Stimmigkeit des nationalen Rechts, wie sie insbesondere in Kodifikationen ihren Ausdruck finde, werde zudem durch die Richtlinie besser gewahrt.[45] Auch könne die Rechtsform der Richtlinie nicht als Ursache für mitgliedstaatliche Umsetzungsdefizite ausgemacht werden. Eine das nationale Recht überlagernde Verordnung könne die mitgliedstaatlichen Behörden vielmehr vor ebenso große Herausforderungen beim Vollzug stellen. In der Rechtsetzungspraxis[46] konnten sich derartige Erwägungen jedoch nicht durchsetzen. Primärrechtlich kann Art. 296 Abs. 1 AEUV als Absage an starre Rangverhältnisse zwischen den Rechtsaktformen gelesen werden.[47]

II. Verdrängung der Richtlinie durch die Verordnung in der Praxis

1. Furcht vor Umsetzungsdefiziten als Auslöser

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Befund: Verdrängung der Richtlinie

In der Rechtsetzungspraxis der Unionsorgane ist eine zunehmende Verdrängung der Richtlinie durch die Verordnung festzustellen.[48] So wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob „die gute alte Richtlinie ausgedient“ habe.[49] Der Unionsgesetzgeber treibe die Verwirklichung des Binnenmarktes nicht mehr nur mithilfe von Richtlinien, sondern auch durch den Einsatz von Verordnungen voran.[50] Dies wird darauf zurückgeführt, dass die Kommission bei der Ausübung ihres Initiativmonopols in wichtigen Politikbereichen, die bislang durch Richtlinien geprägt waren, auf das Instrument der Verordnung anstelle der Richtlinie zurückgreife.[51]

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Sichtweise der Kommission

Ursache der Tendenz zum Einsatz von Verordnungen anstelle von Richtlinien ist die seitens der Unionsorgane gehegte Befürchtung mangelhafter beziehungsweise divergierender Umsetzungen des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten.[52] Das Schlagwort des „Umsetzungsdefizits“ scheint somit derzeit das vorrangige Leitmotiv der Unionsorgane, vor allem der Kommission, bei der Auswahlentscheidung bezüglich der Rechtsform eines Gesetzgebungsaktes zu sein und dabei jeweils im Zweifel den Ausschlag zugunsten der Verordnung zu geben. Mit Blick auf die strukturelle Optimierung der Rechtsetzung zur Harmonisierung im Binnenmarkt[53] führt die Kommission dementsprechend in einer einschlägigen Mitteilung aus: „Als bevorzugtes Instrument für die Umsetzung der EU-Harmonisierungsvorschriften sollten Verordnungen anstatt Richtlinien dienen. Dadurch ließen sich EU-weit auftretende zeitliche Unterschiede beim Inkrafttreten der nationalen Rechtsvorschriften ebenso wie die Gefahr einer unterschiedlichen Umsetzung, Auslegung und Anwendung vermeiden. Ob dieses Vorgehen tatsächlich praktikabel ist, sollte allerdings in einer Einzelfallbewertung unter Berücksichtigung der Ziele der besseren Rechtsetzung sowie des Grundsatzes der Subsidiarität bestätigt werden.“[54]

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Kritik in der Literatur

Die Feststellung einer Bedeutungsverschiebung von der Richtlinie hin zur Verordnung wird im Schrifttum teilweise mit der Forderung nach einem Kulturwandel seitens der Kommission zugunsten eines verstärkten Einsatzes der Rechtsform der Richtlinie verbunden.[55] Insgesamt solle das Unionsrecht den kategorialen Unterschied zwischen der Verordnung und der Richtlinie wiederherstellen.[56] Die Ursprungsidee der Unterscheidung der beiden Handlungsformen liege in einem Kompromiss zwischen supranationalem und intergouvernementalem Prinzip, den die Europarechtspraxis zur allgemeinen Gewöhnung eingeebnet habe. Die Richtlinie wäre nach dieser Sichtweise (wieder) der Sekundärrechtsakt, mit dem die Union allein Politikziele verbindlich und mit Anwendungsvorrang beschließt, deren Erreichung und Durchsetzung jedoch den Mitgliedstaaten überlässt.

2. Analyse wichtiger Politikbereiche

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Datenschutzrecht

Prominent ist der Wechsel der Rechtsaktform von der Richtlinie zur Verordnung im Datenschutzrecht. Die Datenschutzrichtlinie[57] wurde durch die Datenschutz-Grundverordnung[58] ersetzt. Die Kommission begründete diesen Wechsel wie folgt: „Zur Regelung des Schutzes personenbezogener Daten in der Union ist eine Verordnung als Rechtsinstrument am besten geeignet. Aufgrund ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit nach Art. 288 AEUV trägt sie zur Rechtsvereinheitlichung bei und erhöht die Rechtssicherheit durch die Einführung harmonisierter Kernbestimmungen und durch einen besseren Grundrechtsschutz. Auf diese Weise sorgt sie gleichzeitig für einen besser funktionierenden Binnenmarkt.“[59]

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Verbraucherschutzrecht: Medizinprodukterecht

Mit der Medizinprodukte-VO (EU) 2017/745[60] wurde der Rechtsrahmen für Medizinprodukte, der bis dahin aus der RL 90/385/EWG und der RL 93/42/EWG bestanden hatte,[61] aktualisiert und harmonisiert.[62] Die unterschiedliche Umsetzung der Richtlinien in den Mitgliedstaaten hemmte laut Kommission den Binnenmarkt und führte zu unterschiedlichen Sicherheits- und Gesundheitsschutzniveaus, weshalb nun eine Verordnung mit einheitlichen Regelungen das geeignete Instrument zur Behebung der Vollzugsdefizite sei. Die Ersetzung der nationalen Umsetzungsmaßnahmen durch eine unmittelbar geltende Verordnung bringe zugleich eine Vereinfachung für die Wirtschaftsakteure mit sich, die sich nun auf ein einheitliches Regelwerk stützen könnten.[63] Gleichwohl finde keine vollständige Zentralisierung statt, die Mitgliedstaaten behielten vielmehr gewisse Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich des Verfahrens und Vollzugs.

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Verbraucherschutzrecht: Lebensmittelrecht

Ein weiteres Beispiel auf dem Gebiet des Verbraucherschutzrechts bildet die Lebensmittel-InformationsVO (EU) Nr. 1169/2011,[64] durch die mehrere Richtlinien ersetzt wurden. Auch hier begründete die Kommission den Wechsel der Rechtsform mit dem Argument, die Richtlinie habe uneinheitliche Vorgehensweisen in der Union zur Folge gehabt, die für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Industrie Rechtsunsicherheit gebracht hätten, während eine Verordnung der Industrie ein kohärentes Konzept vorgebe, an das sie sich halten könne und das den Verwaltungsaufwand der Unternehmen verringere, da sie sich nicht mit den einzelnen Regelungen in den Mitgliedstaaten vertraut machen müssten.[65] Diese Zielsetzungen spiegeln sich auch in den Erwägungsgründen 11 und 13 der Verordnung wider. Mangelnde regulatorische Spielräume der Mitgliedstaaten und die technische Natur der Normen standen beim Erlass der auf die Lebensmittelsicherheit bezogenen VO (EG) Nr. 1935/2004[66] im Vordergrund.[67] Eine Verordnung sei zur Regelung des betreffenden Rechtsbereichs zweckmäßiger als Richtlinien, denn die Mitgliedstaaten beschränkten sich in den meisten Fällen darauf, Richtlinien ohne formale oder inhaltliche Änderungen zu übernehmen. So enthielten die vormaligen Einzelrichtlinien rein technische Bestimmungen zur Durchführung der in der Rahmenrichtlinie festgelegten allgemeinen Grundsätze nach vorab festgelegten Kriterien und Verfahren, erforderten häufige technische Änderungen zwecks Anpassung an den rapiden technologischen Fortschritt auf dem fraglichen Gebiet und wiesen in den meisten Fällen unspektakuläre, sich wiederholende Bestimmungen auf.[68] Außerdem seien Verordnungen für eine einheitliche und zügige Anwendung der Vorschriften sowohl zum Nutzen der Verbraucherinnen und Verbraucher als auch im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft besser geeignet als Richtlinien.

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Wettbewerbsrecht: Marktmissbrauchsrecht

Auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts ersetzte die MarktmissbrauchsVO (EU) Nr. 596/2014[69] mehrere einschlägige Richtlinien. Eine Verordnung wurde auch in diesem Zusammenhang als das geeignetste Rechtsinstrument zur Festlegung des Unionsrahmens angesehen, da deren unmittelbare Anwendbarkeit die rechtliche Komplexität verringere, mit der Harmonisierung zentraler Regeln größere Rechtssicherheit biete und darüber hinaus einen Beitrag zum Funktionieren des Binnenmarktes leiste.[70] Die Argumentation zugunsten einer Verordnung anstelle von Richtlinien wird im Bereich des Marktmissbrauchs jedoch durch zusätzliche Gesichtspunkte ergänzt. Die Unterschiede zwischen den Vorschriften der Mitgliedstaaten, die auf Optionen und Ermessensspielräume zurückgingen, seien ein Grund für Wettbewerbsverzerrungen und Aufsichtsarbitrage und stünden somit einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts im Weg. Dies betraf insbesondere das Konzept der zulässigen Marktpraktiken (AMP), die Offenlegung von Insiderinformationen durch die Emittentinnen und Emittenten und die Verpflichtung der Führungskräfte von Emittentinnen und Emittenten, Eigengeschäfte mit Finanzinstrumenten zu melden.[71]

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Wettbewerbsrecht: Wertpapierrecht

Ähnliche Erwägungen führten zu einer Ersetzung der Prospekt-Richtlinie durch die ProspektVO (EU) 2017/1129.[72] Nachdem die Kommission eine uneinheitliche Umsetzung der Prospekt-Richtlinie aus dem Jahr 2003 auch nach ihrer Reform von 2010 feststellte, schlug sie die „Umwandlung“ der Richtlinie in eine Verordnung vor, um zu mehr Kohärenz und einer tieferen Integration im Binnenmarkt beizutragen und gleichzeitig die Zahl der EU-weit voneinander abweichenden und untereinander fragmentierten Regelungen im Einklang mit den Zielen der Kapitalmarktunion zu senken.[73] Ein einheitliches Regelwerk werde auch das Problem lösen, dass Emittentinnen und Emittenten sowie Anlegerinnen und Anleger, die Interesse an einer grenzüberschreitenden Kapitalbeschaffung oder -anlage hätten, selbst bei relativ geringfügigen Unterschieden zwischen den nationalen Rechtsvorschriften die einschlägigen Vorschriften vergleichen müssten, um sicherzugehen, dass sie diese verstanden hätten und ihnen entsprächen.

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Umweltrecht

Die Tendenz von der Richtlinie weg hin zur Verordnung zeigt sich auch im Umweltrecht. So ersetzte die REACH-VO (EG) Nr. 1907/2006[74] die vor deren Erlass vier wichtigsten Rechtsinstrumente der Gemeinschaft für die Regulierung von Chemikalien in Form von drei Richtlinien und einer Verordnung.[75]

Nach Erwägungsgrund 2 der VO (EG) Nr. 1907/2006 kann der Binnenmarkt für Stoffe nur dann wirksam funktionieren, wenn die Anforderungen in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht wesentlich voneinander abweichen. Die Wahl der Rechtsform der Verordnung begründete die Kommission mit deren homogenisierender Wirkung und der unmittelbaren Geltung, was sich gerade im Bereich technischer Rechtsetzung bewährt habe.[76] Ganz ähnlich verhielt es sich in Bezug auf die CLP-VO (EG) Nr. 1272/2008[77]. Diese Verordnung integriert die von den Vereinten Nationen ausgearbeiteten harmonisierten Kriterien für die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung (Classification, Labelling, Packaging) von chemischen Stoffen und Gemischen (Globally Harmonised System of Classification and Labelling of Chemicals) in die Unionsrechtsordnung.[78] Zugleich wurden auch einige Merkmale und Verfahren, die bereits in den zuvor geltenden Richtlinien vorgesehen waren, in die neue Verordnung übernommen. Die Entscheidung für eine Verordnung wurde mit deren direkter Anwendbarkeit und dem technischen Charakter der zu harmonisierenden Regelungen begründet.[79] Auch durch die DetergenzienVO (EG) Nr. 648/2004[80] wurden zahlreiche Richtlinien ersetzt. In Erwägungsgrund 2 wird statuiert, dass die Verordnung das geeignete Rechtsinstrument ist, weil sie den Herstellern unmittelbar genau definierte Verpflichtungen auferlegt, die in der gesamten Gemeinschaft (heute: Union) gleichzeitig und in gleicher Weise erfüllt werden müssen, und außerdem im Bereich der technischen Rechtsvorschriften eine einheitliche Anwendung in den Mitgliedstaaten notwendig ist, was nur durch eine Verordnung sichergestellt werden kann.

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Weitere Rechtsbereiche

Das Muster der Ersetzung von Richtlinien durch eine Verordnung lässt sich in weiteren Rechtsbereichen verfolgen, wie zunächst das Beispiel der Typengenehmigungs-VO (EU) 2018/858[81] zeigt. Die Kommission erachtete die Rechtsform der Verordnung als angemessen, weil sie zum einen die unmittelbare und harmonisierte Anwendung und Durchsetzung vorsehe und zum anderen nicht in nationales Recht umgesetzt werden müsse.[82] In der Literatur wird als Referenz für die Entwicklung hin zur Verordnung auch das Kapitalmarktrecht genannt.[83] Hinzuweisen ist schließlich auf die Bauprodukte-VO (EU) Nr. 305/2011.[84] Um dem Problem einer voneinander abweichenden Auslegung und Umsetzung durch die Mitgliedstaaten vorzubeugen, wählte die Kommission die unmittelbar geltende Verordnung anstelle einer vormals geltenden Richtlinie.[85] Die Wahl wurde damit begründet, dass die Binnenmarktziele sich wirksamer durch eine Verordnung als durch eine Richtlinie erreichen ließen. Die Erfahrungen mit der zuvor geltenden Richtlinie hätten gezeigt, dass es bei Inhalt und Zeitplan der Umsetzung in den Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede gegeben habe, was sich negativ auf das Funktionieren des Binnenmarktes für Bauprodukte ausgewirkt habe.

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