Читать книгу: «Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen»

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IGW-Publikationen

Hg. Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW)

Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien)

Die Reihe wird gemeinsam vom Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) und dem Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien) herausgegeben. Die beiden Schwesterinstitute wollen damit im deutschen Sprachraum einen Beitrag leisten zum öffentlichen fachlichen Diskurs unter Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten sowie bei gegebenem Thema auch unter Personen, die andere Therapieansätze vertreten. Als Autorinnen und Autoren treten Lehrende und Graduierte der beiden Institute auf, aber auch andere Kolleginnen und Kollegen.

Verantwortlich für die Reihe sind:

Peter Schulthess, Zürich (IGW), und Heide Anger, Wien (IGWien)

Herausgeberin und Herausgeber dieses Bandes

Heide Anger, Jg. 1953, Dr. med.; Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, Gestalttherapeutin, Sexualmedizinerin, Ausbildnerin im Institut für Gestalttherapie Wien (IGWien), Lektorin an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien (SFU), Herausgeberin.

Thomas Schön, Jg. 1964, Dipl.-Soz.Päd. (FH); Psychotherapeut/Integrativer Gestalttherapeut (Ausbildung FPI/ÖAGG), Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (BRD), Systemischer Coach; seit 1992 klinische Tätigkeit in den Bereichen Suchttherapie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie; seit 1994 freie Praxis für Psychotherapie, Supervision und Coaching in Wien; Lehrtherapeut/Lehrsupervisor und Weiterbildungsleiter (Integrative Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen) am Institut für Gestalttherapie Wien (IGWien). Gründungsmitglied der Österreichischen Vereinigung für Gestalttherapie (ÖVG); Autor; verheiratet und Vater zweier Kinder.


© 2012 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp.biz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagentwurf: Uwe Giese

– unter Verwendung eines Bildes (Ausschnitt) von Manfred Pasieka (o.T.) –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin

Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

ISBN 978-3-89797-904-8(Print)

ISBN 978-3-89797-562-0 (EPub)

ISBN 978-3-89797-563-7 (PDF)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort von Herausgeberin und Herausgeber (Heide Anger / Thomas Schön)

1. Teil Die Entwicklungsperspektive der Gestalttherapie

Entwicklungstheoretische Ansätze in der Gestalttherapie

Entwicklungsbewegungen der Gestalttherapie (Wolfgang Wirth)

Wachstum, Reifung und Entwicklung (Nicolai Gruninger)

Gestalttherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen verschiedener Lebensalter

Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Therapie, Aspekte gestalttherapeutischer Behandlung bei prä, -peri- und postpartalen Belastungen (Agnes Salomon)

Der Blick auf Kindheit aus gestalttherapeutischer Sicht (Thomas Schön)

Adoleszente Entwicklung und Psychotherapie auf dem Hintergrund von Lewins Feldtheorie (Marc McConville)

2. Teil Die Umwelt-Feld-Perspektive der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

Settinggestaltung in der Therapie mit Kindern – Ein Literaturüberblick mit Beispielen (Elke Rehm und Alain Schmitt)

Auf der Suche nach dem genügend guten Feld – Überlegungen zu einem gestalttherapeutischen Konzept für die Arbeit mit Eltern (Manon Hansen)

Wenn Systeme Angst gestalten – Gestalttherapie mit einem ängstlichen Jungen und seiner Familie (Elke Rehm)

Hanna – Das eigene Leben (wieder)entdecken – Gestalttherapeutische Begleitung einer Jugendlichen mit einem psychisch kranken Vater (Barbara Mayer)

3. Spezielle Herausforderungen

Gestalttherapie mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen (Wolfgang Wirth)

Gestalttherapie mit extremen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft (Dieter Bongers)

Exzessives Computerspielen als neue Herausforderung in der Psychotherapie mit Jugendlichen (Gerhard Hintenberger)

4. Techniken der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

Spielen im Dialog – Überlegungen zum Spielen in der Gestalttherapie mit Kindern (Hanna Fak)

Der Kinderwelttest – ein gestalttherapeutisch orientiertes Verfahren (Volkmar Baulig)

Familienbrett und Fingerpuppen – Eine experimentell, experienziell und existenziell nutzbare Technik (Alain Schmitt)

Das Sandspiel in der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen (Rudolf Liedl)

Autorinnen und Autoren

Anmerkungen & Literatur

Vorwort

Der Bedarf an Psychotherapie für Kinder und Jugendliche ist in den letzten Jahren enorm angestiegen, die gesellschaftlichen Bedingungen von Kindheit und Jugend haben sich weitgehend verändert. Fünfzehn bis zwanzig Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden laut des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (2009) an psychischen Erkrankungen. Die Anzahl an Einrichtungen für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie muss, um die Versorgung sichern zu können, dringend erhöht werden, ebenso die Anzahl an Psychotherapieplätzen bei niedergelassenen Spezialistinnen1 für diese Altersgruppe.

Psychotherapeutinnen jeglicher Methodenzugehörigkeit, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, sind ausgebucht, die Wartelisten sind lang, Eltern und Pädagoginnen oftmals verzweifelt. Daher lässt sich der berufliche Einsatz bis an die Grenzen der Belastbarkeit als Erklärung für die noch geringe Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen verstehen.

Umso dankbarer sind wir denjenigen Autorinnen, die einen Artikel für diesen Band verfasst haben und uns hiermit Einblick in ihre Arbeit gewähren und einen Beitrag zum aktuellen Diskurs leisten.

Der lang geübte Vorwurf, Gestalttherapie im Allgemeinen und Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen im Besonderen seien nicht eben theoriefreundlich, ist bei genauer Betrachtung und Vertiefung in die vorliegenden Texte nicht haltbar. Gerade in den letzten Jahren sind wichtige Schritte zu einer fundierten Weiterentwicklung der Gestalttherapie-Theorie erfolgt. (Fuhr et al. 2001; Hartmann-Kottek 2004; Spagnuolo-Lobb/Amendt-Lyon 2006)

Auch für die Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen gibt es eine Reihe von Publikationen. Violet Oaklander gilt als die Pionierin der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen. Ihr Buch Windows To Our Children erschien seit der Erstveröffentlichung 1978 in bisher 15 Auflagen, es wurde in mindestens acht Sprachen übersetzt, darunter 2009 ins Deutsche unter dem Titel Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen (Wintsch 1998). Dieses Werk wurde zu einem Klassiker in der Gestalttherapie-Literatur. Der durchschlagende Erfolg des Buches führte dazu, dass Violet Oaklander weltweit zu Seminaren eingeladen wurde, um ihre spezielle Form der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen vorzustellen. Dies trug auch wesentlich zur Verbreitung der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen bei. Mehr als drei Jahrzehnte führte sie in Santa Barbara/Kalifornien zweiwöchige Trainingsprogramme durch. Peter Mortola begleitete diese Trainings zehn Jahre lang und legte 2006 ein Praxisbuch zum Violet-Oaklander-Training vor (dt. Mortola 2011). 2006 erschien mit Hidden treasure. A map to the child’s inner self (dt. 2009: Verborgene Schätze heben. Wege in die innere Welt von Kindern und Jugendlichen) ein weiteres fundamentales Buch von Violet Oaklander. Es ist die Quintessenz ihrer gestalttherapeutischen Tätigkeit, ein praxisnahes Buch, das aber auch wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der Gestalttherapie-Theorie beinhaltet. 2001 erschien im Anschluss an eine gestalttherapeutische Tagung »The heart of development«, ein zweibändiges Werk, in dem die Herausgeber Gordon Wheeler und Marc McConville die Tagungsbeiträge, den Lebensaltern Kindheit und Jugend zugeordnet, zusammenfassen. Violet Oaklander lieferte das Vorwort und einen Textbeitrag. Schon 1995 hatte Marc McConville sein Buch Adolescence publiziert. Im englischsprachigen Raum erschienen darüber hinaus Arbeiten von Mortola (2001), Lambert (2003), Blom (2004), Fernandes, Cardoso-Zinker et al. (2006) und McConville (2007). Im deutschsprachigen Raum erschien 1990 Salonias (übersetzter) Beitrag zur Entwicklungsperspektive in der Gestalttherapie. 1997 wurden unabhängig voneinander zwei Bücher zur gestalttherapeutischen Gruppenarbeit mit Kindern präsentiert (Franck 1997; Rahm 1997). 1999 erschienen zwei Texte von Alain Badier und Felicitas Carroll im Handbuch der Gestalttherapie (Fuhr et al. 1999). 2002 legten Ingeborg und Volkmar Baulig ihre Praxis der Kindergestalttherapie vor, das erste gestalttherapeutische Grundlagenbuch im deutschsprachigen Raum, mit einem Einführungstext von Gordon Wheeler. 2006 erschienen (übersetzte) Beiträge von Ruella Frank und Sandra Cardoso-Zinker.

Alle im vorliegenden Band vertretenen Autorinnen arbeiten seit vielen Jahren sowohl in Institutionen als auch in eigener Praxis mit Kindern und Jugendlichen und zeigen sich in ihren Texten mit einem reichen praktischen Erfahrungsschatz sowie umfassender theoretischer Fundierung. Ihr breiter Gestalthintergrund wird in ihrer dialogischen Haltung, Beziehungsgestaltung, deren Reflexion sowie daraus resultierender Theorieentwicklung deutlich sichtbar.

Der inhaltliche Bogen der Beiträge reicht von entwicklungstheoretischen Überlegungen über Fallgeschichten mit unterschiedlichen Altersgruppen bis hin zur anschaulichen Darstellung gestaltspezifischer Techniken in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aus deren reichem Fundus hier berichtet wird.

Im ersten Teil des Bandes setzen sich Wolfgang Wirth und Nicolai Gruninger in umfassender Weise mit Gestaltliteratur vieler Jahrzehnte auseinander und extrahieren daraus entwicklungstheoretische Ansätze. Während Wirth mithilfe einer großen Fülle an Literaturmaterial einen Anstoß zur Suche nach eigenem Verständnis von Entwicklung gibt, stellt Gruninger in seinem Überblick eine Verbindung zwischen allgemeiner psychologischer Entwicklungstheorie und Ansätzen einer gestaltspezifischen Entwicklungstheorie her.

Agnes Salomon stellt das psychoanalytische Phasenmodell und die Piaget’schen Entwicklungsstufen in Beziehung zum gestalttherapeutischen Entwicklungskonzept sowohl der beiden Perls’ als auch jüngerer Arbeiten von Oaklander, Wheeler und McConville. Vor diesem Hintergrund stellt sie ihre Arbeit mit Säuglingen, Kleinkindern und deren Eltern dar.

Mit den veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren und damit, welche Auswirkungen dies auf ihre Entwicklung hat, befasst sich Thomas Schön in seinem Text. Er hält ein Plädoyer für Kindheit als zu schützenden Raum mit spezifischer Erlebens- und Ausdrucksweise und die Bedeutung dessen für die psychische Entwicklung.

Marc McConville stellt in seinem Beitrag das Lebensalter der Adoleszenz vor dem Hintergrund von Lewins Feldtheorie dar. Damit leitet er zum zweiten Teil des Bandes über, in dem die Umwelt-Feld-Perspektive beleuchtet wird.

Die Gestalttherapeutin Elke Rehm gibt gemeinsam mit dem systemischen Familientherapeuten Alain Schmitt einen umfassenden Literaturüberblick zur Settinggestaltung, reich illustriert durch Fallbeispiele.

Diese Illustration erfährt in einem zweiten Text eine Vertiefung, in dem Rehm die Psychotherapie mit einem ängstlichen Buben und seiner Familie vorstellt.

Von umfangreicher Literaturrecherche ausgehend reflektiert Manon Hansen die Bedeutung von Setting und Elternarbeit für den psychotherapeutischen Prozess mit einer Mutter mit Migrationshintergrund.

Barbara Mayer schildert in berührender Weise die herausragende Support-Funktion der Psychotherapeutin in der Arbeit mit einer Jugendlichen, die den Alltagsbelastungen durch einen psychisch kranken Elternteil ausgesetzt ist.

Im dritten Teil des Bandes kommen die Themen Trauma, Gewalt und Sucht zur Sprache.

Wolfgang Wirth widmet sich in seinem Grundlagentext der gestalttherapeutischen Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen.

Dieter Bongers schaut mit »loving eyes« auf gewaltbereite Jugendliche und beweist, wie viel Veränderung und Entwicklung durch das Eingehen einer engagierten Beziehung auch bei dieser schwierigen Klientel möglich ist.

Gerhard Hintenberger, Gestalt- und Integrativer Therapeut, erweitert den Bereich der aktuellen Themen um einen höchst informativen Beitrag über exzessives Computerspielen von Jugendlichen.

Im vierten und letzten Teil über spezifische gestalttherapeutische Techniken findet sich der Text von Hanna Fak, der die enorme Bedeutung der dialogischen Beziehung auch im psychotherapeutischen Spiel hervorhebt.

Weiters haben Volkmar und Inge Baulig 2006 den Kinderwelttest entwickelt, ein diagnostisches Verfahren, das – aus gestalttherapeutischer Arbeit heraus entstanden – von Volkmar Baulig in seinem Textbeitrag ausführlich erläutert wird.

Alain Schmitt erweitert die systemische Technik der Arbeit mit dem Familienbrett durch den Einsatz von Fingerpuppen zur Erlebnisaktivierung und Unterstützung des Ausdrucks von Kindern und Jugendlichen.

Im abschließenden Text von Rudolf Liedl finden wir die ausführliche Beschreibung des gestalttherapeutischen Sandspiels, das als Weiterentwicklung verschiedener bekannter Ansätze präsentiert und anhand lebendiger Fallbeispiele illustriert wird.

Dieser Überblick verdeutlicht den breiten Rahmen, innerhalb dessen Gestalttherapeutinnen sich mit Kindern und Jugendlichen befassen und eine eigenständige Spezialisierung entwickelt haben. Diese Spezialistinnen entlasten Eltern und Pädagoginnen und arbeiten oft in Helferteams zur Unterstützung der Entwicklungs- und Genesungsprozesse betroffener Familien und größerer Systeme.

Gerade in Zeiten, in denen der Individualismus (Wheeler 2006) und die Vereinzelung von Kindern und Jugendlichen kritisiert werden, liegt eine wichtige gesellschaftspolitische Antwort in der Förderung von Verbundenheit und Zugehörigkeit (Polster 2009). Diese muss erlernt und geübt werden. Gerade wenn Eltern und Lehrerinnen an ihre Grenzen stoßen, brauchen wir noch mehr Psychotherapeutinnen für die Kinder und Jugendlichen.

Die Gestalttherapie war ursprünglich vor allem eine Gruppentherapie, somit liegt es nahe, an diese Tradition anzuknüpfen und auch für Kinder und Jugendliche mehr entsprechende Angebote zu schaffen. Die flächen- und bedarfsdeckende psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen wie auch die Erwachsener lässt jedoch noch zu wünschen übrig.

Wir wünschen uns, dass die vorliegenden Texte orientieren, inspirieren und motivieren mögen, die Theorieentwicklung in der Gestalttherapie weiter voran zu treiben. Und auch, dass möglichst viele Kolleginnen die eine gestalttherapeutische Weiterbildung absolvieren,2 sich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu widmen und so dazu beitragen, die benötigte Grundversorgung mit zu sichern.

Mit Bedauern mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass wir zum Thema Sexualität und zu Gender keine Texte bekommen konnten.

Wir danken allen Autorinnen von ganzem Herzen.

Heide Anger / Thomas Schön

1. Teil Die Entwicklungsperspektive der Gestalttherapie

Wolfgang Wirth
Entwicklungsbewegungen der Gestalttherapie
1. Implizite Entwicklungstheorien der Gestalttherapie

Menschliche Entwicklung ist ein vielschichtiger Prozess. Dieser Prozess kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Dieser Artikel ist eine subjektive Auswahl von Einflussthemen für eine gestalttherapeutische Entwicklungstheorie, die in einer Überblicksarbeit nur kursorisch betrachtet werden können. Innerhalb der Gestalttherapie sind unterschiedliche Entwicklungsvorstellungen in impliziter Form wirksam. Sie sollen im Folgenden exemplarisch herausgearbeitet und explizit gemacht werden. Im Anschluss wird ein an der aktuellen Entwicklungsforschung orientiertes Modell von Entwicklung vorgestellt. Darüber hinaus wird es jedoch notwendig sein, die Vielzahl an Entwicklungssträngen zu bündeln, um zu einer aktuellen gestalttherapeutischen Perspektive von Entwicklung zu gelangen.

1.1 Lore Perls

Entwicklung ist bei Lore Perls besonders durch das Kontakt-Support Modell geprägt (Votsmeier 2005, Amendt-Lyon 2005). »Kontakt ist nur möglich, wenn genug Stütze vorhanden ist und wir lernen uns selbst zu stützen (Amendt-Lyon 2005, S. 6)«. Laura Perls steht für ein eher auf Bindung und Verbindung (»Commitment«, Perls 1989) sowie ein sensibles Wechselspiel zwischen Kontakt und Stützung ausgerichtetes therapeutisches Vorgehen. Dieser Ansatz erscheint sehr vielversprechend innerhalb der Gestalttherapie, besonders für die Therapie mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Menschen, die Entwicklungstraumata erfahren haben. Ein weiteres Element entwicklungspsychologischen Denkens ist Lore Perls Betonung der »respons-ability«, der Fähigkeit, eine Reaktion oder Antwortbereitschaft auf spezifische Feldbedingungen herzustellen. Dieses Prinzip findet sich in Teilen im Konzept der Feinfühligkeit von Ainsworth wieder als wechselseitiges Antwortverhalten (Reziprozität). Wichtig ist auch Laura Perls Commitmentkonzept, das im Deutschen mit Bejahung, Verbindlichkeit, Verbundenheit und Gemeinschaftlichkeit beschrieben werden kann. Das Praktizieren von Commitment, von Gemeinsamkeit und Verbundenheit, ist das dialektische Gegenstück zu Fritz Perls’ Superautonomie, welches sich auch im realen Leben der Perls abbildete.

1.2 Fritz Perls

Perls veröffentlichte 1947 »Das Ich, der Hunger und die Aggression«. Es ist problematisch, dieses Werk Fritz Perls alleine zuzuschreiben, da Lore Perls in dem Film »Leben an der Grenze« (2005) ihren Anspruch auf Mitautorschaft deutlich gemacht hatte und äußerte, dass Fritz einige der von ihr ausgearbeiteten Kapitel und aufgezeichneten Kinderbeobachtungen verfertigte, ohne sie als Mitautorin zu nennen. Daher werden zumindest die Beobachtungen zur dentalen Aggression Lore Perls mit zugeschrieben. Die Perls (1947) betonen die gleichwertige Bedeutung des Hungertriebes für die Ich-Entwicklung des Kindes im Gegensatz zu der von Freud postulierten Dominanz des Genitaltriebes und der Libidotheorie. Die Perls (1947, S. 92) sind vor allem mit der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse beschäftigt und stellen in Abgrenzung zu Freud folgende Entwicklungsabfolge auf: Bereits im Fötus entwickle sich ein alimentäres und ein urogenitales System. Assimilation und Entleerung werden als normale, lustvolle Aktivitäten angesehen, die keiner weiteren sexuellen Aufladung bedürfen. Darüber hinaus stellen die Perls fest: »Eine Neurose (…) ist eine Störung der Entwicklung und der Anpassung. Neurosen sind das Ergebnis eines Konfliktes zwischen Organismus und Umwelt. Sie kritisieren die Verwendung des Libidobegriffs als aufgebläht, ungenau, vieldeutig in verschiedensten Kontexten.« (1947, S. 89) Die Perls schließen sich Rank (1924) an, wenn sie schreiben: »Die Geburt ist die ursprüngliche Trennung, die das Kind erleiden muss.« (1947, S. 94) Sie sehen das Kind z.B. im Spiel immer in einem Feldkontext: Ein Kind, das einen Löwen spielt, ist ein Löwe, und es kann von seinem Spiel so in Anspruch genommen sein, dass es wütend wird, wenn man es ins Alltagsleben zurückruft.

2 504,11 ₽
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0+
Объем:
707 стр. 30 иллюстраций
ISBN:
9783897975620
Редактор:
Правообладатель:
Bookwire
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