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2. Das Evangelische Gottesdienstbuch (EGb) im Spiegel des gemeinsamen Gebets oder: Gelingen und Scheitern eines Projekts
2.1 Integration als das große Thema des EGb und die Problematik der Struktur

Die Agende I als erstes Stück der Agendenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstand lutherisch 1955 und uniert 1959. Sie war – im Bild gesprochen – wie eine schön gestaltete Schatulle, in die man den evangelischen Gottesdienst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu sperren versuchte: fern von den Gefährdungen einer natürlichen Theologie, fern von den Anfechtungen einer Anpassung an den Zeitgeist.

Aber die Schatulle bekam Risse, das gottesdienstliche Leben ließ sich nicht einsperren. Nach und nach wurde es bunt und unübersichtlich. Das «Amt» vermochte den Gottesdienst nicht mehr zu normieren, die Agende ihn nicht mehr zu |46| regeln. Stattdessen entstand eine Vielfalt, die mit Kritik an der verordneten Restauration der Nachkriegsagende einherging. Neue Experimente begannen: Familiengottesdienste, Gottesdienste in freien Formen, Gottesdienste mit neuer Musik, Politische Gottesdienste. Die traditionelle «Liturgie» wurde vielfach als Problem empfunden, als das, was man «absingen» muss, bevor dann mit der Predigt der Gottesdienst «eigentlich» beginnt. Auf der liturgischen Wiese blühte es vielfältig. Und der Gottesdienst nach Agende I war nicht der normierende und die Kirche verbindende Zusammenschluss, sondern lediglich ein Gottesdienst unter vielen anderen. In dieser Zeit regte sich erstmals der Wunsch vieler nach Übersicht in der verwirrenden Pluralität. Was ist Gottesdienst? Gibt es (noch) eine kirchliche Einheit, die sich gottesdienstlich greifen lässt?

«Integration» war das große Thema auf dem Weg zum Evangelischen Gottesdienstbuch – ein Weg, der von den Vorüberlegungen Anfang der 70er Jahre bis zu dem fertigen Buch 1999 beinahe 30 Jahre dauerte.132 Frieder Schulz, einer der wesentlichen Protagonisten, hätte wohl nicht von «Integration» gesprochen, sondern eher von «Konvergenz»133 – das Ziel ist das gleiche.

Faktisch war der Weg zum Evangelischen Gottesdienstbuch die Fortsetzung des Projekts der Agende I mit anderen Mitteln. Versuchte die Agende I mit einem normierenden Textbestand und zahlreichen Rubriken den einen evangelischen Gottesdienst (konfessionell gebunden als entweder lutherischen oder unierten!) darzustellen, so schien dieser Weg angesichts der faktischen Vielfalt und angesichts der Ablehnung der restaurativen Normierung verbaut. Die Alternative sah man in einer formalen Reduktion, in der im Rückblick durchaus genialen, aber eben auch extrem problematischen Vokabel der «Struktur». Nicht mehr die Textgestalt des Gottesdienstes und seine rubrizierte Leibgestalt sollte festgelegt werden, sondern nur noch dessen Syntax. Die Idee einer «schmiegsamen Liturgie» stand damit im Raum – und manche waren von dieser Überlegung so beeindruckt, dass sie – wie Joachim Stalmann – von einem liturgischen «Prager Frühling» sprachen.134 Es war eine Entdeckung, dass man angesichts der Fülle von neuen Gottesdiensten erkannte, dass diese alle der gleichen Grundstruktur folgen – einer Struktur, die sich in der Geschichte der Kirche seit dem zweiten Jahrhundert und in der Ökumene nachweisen lässt und selbstverständlich auch die evangelischen Liturgiefamilien miteinander verbinden kann. |47|

Faktisch können die meisten der sieben Kriterien, die der Entstehung des Evangelischen Gottesdienstbuches zugrunde liegen, auf dem Hintergrund des Anliegens der Integration gelesen werden: stabile Struktur und freie Ausgestaltung (Kriterium 2), traditionelle und neue Texte im Miteinander (Kriterium 3), der Kontext der Ökumene (Kriterium 4), verbindende, niemanden ausgrenzende Sprache (Kriterium 5), Leib und Geist im Wechselspiel (Kriterium 6).

Schon bald allerdings wurden die Probleme eines abstrakten Strukturbegriffs gesehen und kritisiert. Genügt es tatsächlich zu sagen, der Gottesdienst bestehe aus (1) Eröffnung und Anrufung, (2) Verkündigung und Bekenntnis, (3) Abendmahl, (4) Sendung und Segen? Was ist damit tatsächlich erreicht, außer festzustellen, dass zwischen Anfang und Ende auch noch verkündigt und das Abendmahl gefeiert wird? Läuft irgendwie ähnlich nicht jede Party ab, so fragte Manfred Josuttis 1991?135 Man kommt zusammen, das Ganze wird eröffnet, die «Festlegende» wird erzählt, es wird gegessen und getrunken, man verabschiedet sich und geht auseinander? Es war die Michaelsbruderschaft, die bereits 1974 an das Berneuchener Buch (1926) erinnerte – und betonte, dass alles «Lebendige» «Gestalt» sei, «die Leibhaftigkeit besitzt und fordert».136 Auch Karl-Heinrich Bieritz wehrte sich mit beachtlichen Argumenten gegen die Ontologisierung der Struktur, die er in den Vorüberlegungen zum Evangelischen Gottesdienstbuch erkannte. Struktur «gibt» es nicht, meinte er zu Recht; sie sei etwas, das gestaltet (also: gemacht) und gegebenfalls erkannt werde (oder auch nicht!).137

Wie wenig die Strukturierung des Evangelischen Gottesdienstbuchs im Blick auf die Rezeption funktioniert, wird m. E. vor allem an den Übergängen deutlich. Das «Gebet des Tages» (eine Formulierung, in der Kollekten- und Eingangsgebet verschmolzen sind) steht klassisch als Abschluss des ersten Teils «Eröffnung und Anrufung». Im Blick auf seine liturgische Tradition bündelt es die Gebete des Eingangsteils des Gottesdienstes. Die Unsicherheit von Studierenden über den Charakter dieses Gebets, die ich regelmäßig in homiletischen und liturgischen Seminaren erlebe, zeigt, dass Ort und Funktion unklar geworden sind. Weit stärker als der Einschnitt nach dem Kollektengebet wird von den Gottesdienstfeiernden wohl der Beginn der Predigt erlebt. Jetzt ist die Eingangsliturgie am Altar bzw. am Lesepult erst einmal vorbei – und die Predigt beginnt (in aller Regel auf der Kanzel). Innerhalb der Struktur des Gottesdienstbuches aber ist dieser Einschnitt nicht |48| vermerkt; sowohl die Lesungen als auch Credo und Predigt gehören zu «Verkündigung und Bekenntnis».

Die Gestalt des Gottesdienstes, zu der Form und Inhalt gehören, wurde – ausgerechnet in einer Zeit, in der ästhetische Paradigmen mehr und mehr das praktisch-theologische Nachdenken bestimmten – in den Strukturüberlegungen auseinandergerissen. Beachtet wurde zunächst die Form, die sich in der Struktur abbildet und vom Strukturpapier «Versammelte Gemeinde» (1974) bis zur Endfassung des Evangelischen Gottesdienstbuches (1999) die Diskussionen bestimmt.138

Müsste und könnte die Einheit des evangelischen Gottesdienstes nicht anders gesucht werden? Etwa in der Ausrichtung am «gemeinsamen Gebet», an einem Wort-Wechsel, den «wir» als Menschen nicht machen können, den Gott eröffnet und in den er uns einlässt? Einen Wort-Wechsel, der sich als Leben verändernd, aufrüttelnd, heilsam erweist, weil er die Begegnung mit Gott bedeutet? Ein Wort-Wechsel, der die feiernden Menschen als Sünder identifiziert und zugleich die Gnade Gottes zuspricht? Ein Wort-Wechsel, der die verschiedenen Menschen, die sich versammeln, so (und nur so!) zur Gemeinde als Gemeinschaft der voneinander Verschiedenen verbindet und als Kirche Jesu Christi konstituiert? Ein Wort-Wechsel, der keineswegs nur verbal abläuft, sondern auch musikalisch, auch leiblich, gestisch? Ein Wort-Wechsel, der ohne konkrete Gestalten nicht auskommt, wie die Reformatoren wussten, die ihn an das Wort der Bibel und an die Zeichengestalten von Abendmahl und Taufe banden und dies gegen jeden Spiritualismus einerseits, gegen jeden Objektivismus andererseits verteidigten?

2.2 Zwischen Agende und Gottesdienstbuch

Seit 1999 prägt ein Buch die evangelischen Gottesdienste, das eine merkwürdige Zwitterexistenz führt, die sich bereits in dem Miteinander von Titel und Untertitel ausdrückt. «Evangelisches Gottesdienstbuch» heißt das Werk. Der Untertitel aber spricht von einer «Agende». So sehen kirchliche Kompromisse aus! Aber lässt sich durch einen kreativen Umgang mit der Titelei das Problem der Verbindlichkeit |49| eines liturgischen Buches wirklich umgehen? Wer immer dies und jenes zugleich sein will, ist am Ende wohl weder dies noch jenes.

Und so kam es, dass das Gottesdienstbuch sehr unterschiedlich eingeführt wurde. Ich erwähne nur exemplarisch die beiden Kirchen, die ich aus eigenem intensiven Erleben näher kenne: die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern und die evangelisch-lutherische Kirche in Sachsen. Beide sind Kirchen, die an der Entstehung des Evangelischen Gottesdienstbuches beteiligt waren. Beide sind, das kommt hinzu, Gliedkirchen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). In Bayern aber wurde das Evangelische Gottesdienstbuch faktisch nicht eingeführt. Die Synode nahm es zwar zur Kenntnis, aber in Bayern war man schneller. In der Mitte der 1990er Jahre brachte die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern in Ringbuchform eine eigene, blaue, bayerische Liturgie auf den Markt und in alle Gemeinden. Das Evangelische Gottesdienstbuch kam danach – und wurde und wird von den Pfarrerinnen und Pfarrern eher als Anregung und Textsammlung gesehen und verwendet. In Sachsen wurde das Evangelische Gottesdienstbuch zwar ebenfalls durch einen Synodalbeschluss eingeführt. Dort allerdings wurden zeitgleich so detaillierte Ausführungsbestimmungen erlassen und kurz darauf in einem eigenen Heft publiziert, dass Sachsen (äußerst geschickt!) das Evangelische Gottesdienstbuch zwar nach außen eingeführt hat, faktisch aber eine sächsische Agende beschlossen hat, in der der Gottesdienst (bis in Rubriken hinein!) nach wie vor sehr genau geregelt ist.

So hat das Evangelische Gottesdienstbuch eine Erwartung ganz deutlich nicht erfüllt. Es ist nicht zum einigenden Band der Kirchen der Union und der lutherischen Kirchen in Deutschland geworden, als das es eigentlich gedacht war. Die 2011 erschienene Rezeptionsstudie zum Evangelischen Gottesdienstbuch zeigt zwar, dass es durchaus den meisten Pfarrern bekannt ist und genutzt wird (83% der befragten Pfarrerinnen und Pfarrer geben an, es zu kennen und es zu nutzen oder benutzt zu haben), für die allermeisten (72%) dient es aber als «Fundgrube für Texte», beinahe ebenso viele benutzen es als «liturgisches Nachschlagewerk», weniger als die Hälfte (44 %) gibt an, es als «Altaragende» zu gebrauchen.139 Darin spiegelt sich eine Entwicklung, die seit den 1960er Jahren ohnehin greifbar ist, die das Evangelische Gottesdienstbuch aber sicher noch weiter befördert hat: Pfarrerinnen und Pfarrer sehen den Gottesdienst als ihre Gestaltungsaufgabe und keineswegs als einigendes Band der Kirche!140 |50|

Gegenwärtig erlebe ich im evangelischen Bereich in Deutschland eine polare Ausdifferenzierung, wenn es um die Frage geht, wie wir agendarisch weiter verfahren könnten. Da gibt es die, die eine deutliche Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Agende artikulieren. Wir bräuchten, so sagen viele, ein Musterbuch für den traditionskontinuierlichen Gottesdienst: ein Werk, das Texte von so hoher sprachlicher Dignität und traditioneller Verwurzelung bietet, dass es zugleich «Archiv» in kulturwissenschaftlichem Sinn als auch konkretes Werk für die Nutzung im Gottesdienst sein kann. Ein solches Buch brauche nicht durch kirchenamtliche Normierung verbindlich gemacht werden, sondern müsse schlicht überzeugen, weil es so gut sei.141

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die einen solchen Schritt für völlig utopisch halten, die aber zugleich das Evangelische Gottesdienstbuch mit seinem Integrationsanliegen für gescheitert erklären. Im Gegenteil zeige die zunehmende Pluralisierung liturgischer Milieus, dass jede Idee einer Vereinheitlichung scheitern müsse. Je nach Individualität der Gemeinde, je nach Persönlichkeit des gestaltenden Liturgen und je nach Milieusituation im gesellschaftlichen Umfeld müsse und werde Gottesdienst äußerst unterschiedlichen Logiken folgen und daher auch äußerst unterschiedliche Gestalten hervorbringen. Natürlich könne es dazu Anregungen geben – aber weder ein «Musterbuch» wäre da hilfreich noch eine am Strukturbegriff orientierte Agende.

Brauchen wir in dieser Situation, so frage ich, vielleicht ein Book of Common Prayer? Ein Buch, das nicht einfach nach dem Lego- oder Baukastensystem mit unterschiedlichen Strukturen spielt, sondern Textzusammenhänge im Kontext schlüssiger Feierdramaturgien bietet, die durch ihre sprachliche und theologische Qualität überzeugen? Und dies gleichzeitig nicht in einer Form tut, sondern in mehreren, jeweils in sich logischen und aufeinander bezogenen Formen?

2.3 Gemeinschaft der Kirchen und individuelle Feiergestalt

Mit dem Evangelischen Gottesdienstbuch geschah liturgiehistorisch Bedeutsames. Zum ersten Mal gab und gibt es eine gemeinsame Agende der Unierten und der Lutherischen Kirchen in Deutschland – und gleichzeitig ein Gottesdienstbuch, das im vierten Leitkriterium bewusst von dem Zusammenhang des evangelischen Gottesdienstes mit den anderen Kirchen in der Ökumene spricht.

Wollen kann man das mit Sicherheit, aber ist es faktisch möglich? Ich habe eben schon die Klugheit kirchenleitender Organe bei der höchst unterschiedlichen |51| Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuchs erwähnt. Nun blicke ich aus der Perspektive der Rezipienten. Und aus dieser gilt: Gottesdienst wird nicht in Strukturen erlebt, sondern in Gestalten! Die Berneuchener, die ich oben mit ihrer ästhetisch formatierten Kritik an einem formalen Strukturbegriff zitiert habe, haben m. E. Recht.

An dieser Stelle eine persönliche Beobachtung: Ich war in den vergangenen drei Jahren berufsbedingt ein Wanderer zwischen drei verschiedenen Landeskirchen – und damit: drei verschiedenen Gottesdienstkulturen –, in denen sämtlich das «Evangelische Gottesdienstbuch» gilt und eingeführt ist. Aus Bayern kommend, einer lutherischen Landeskirche, ging ich nach Wittenberg, der Lutherstadt, die aber nicht auf dem Boden einer lutherischen Landeskirche liegt, sondern auf dem Boden der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), die in sich wiederum die alte thüringische lutherische Landeskirche und die unierte Kirche der sogenannten Kirchenprovinz Sachsen aufgenommen hat. Von dort zog ich knapp 70 km weiter südlich nach Leipzig – und befinde mich nun auf dem Boden der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens. Drei Kirchen, ein Gottesdienstbuch – und drei völlig verschiedene Gottesdienstkulturen, die dann natürlich jeweils am Ort nochmals völlig unterschiedlich wahrgenommen werden, wenn ich in der Thomaskirche in Leipzig, in der Schlosskirche in Wittenberg, in der Lorenzkirche in Nürnberg oder in einer kleinen Dorfkirche irgendwo am Stadtrand oder in der Provinz feiere, wenn fünf Menschen anwesend sind oder 200, wenn ein älterer Pfarrer als Liturg agiert oder eine Vikarin. In Sachsen beginnt der Gottesdienst vielfach noch immer mit dem gesungenen (!) Votum. Auch ein gesungenes Kollektengebet und ein gesungener aaronitischer Segen gehören häufig dazu. In Bayern und in Wittenberg wäre dies undenkbar – und meine bayerischen Freunde, die mich besuchen, reagieren in einer Mischung aus amüsiert, verwundert und berührt auf diese Eigentümlichkeit. Die gleiche Struktur des Gottesdienstes spielt da keine Rolle. David Plüss hat in einem 2003 erschienenen Beitrag den Begriff der Stiltypen hilfreich eingeführt, um das, was ich mit diesen Beobachtungen umschreibe, näher zu bestimmen. Erlebt werden weit weniger unterschiedliche «Theologien» des Gottesdienstes oder unterschiedliche «Konfessionen», sondern unterschiedliche Stile, zu denen das Ensemble von Texten und Gestalten gehört.142

Gottesdienst lebt nicht in Strukturen, sondern in Gestalten. Struktur ist im Unterschied zu Gestalt ein analytischer Begriff. Strukturen werden nicht wahrgenommen, |52| sondern analytisch ermittelt. Helmut Schwier schreibt: «[…] als Gegenbegriff zu ‹Gestalt›, als das[,] was zu sehen ist, ist ‹Struktur› das, was nicht zu sehen ist».143

Schon allein aus diesem Grund sollte uns – so meine ich – jeder Vereinheitlichungsfuror und jede «von oben» gesteuerte Normierung fern liegen. Wir könnten uns dabei auf Luther berufen, der schon im 16. Jahrhundert eine gewisse Gelassenheit zeigte: «Denn ich nicht der Meinung bin, das ganze deutsche Land so eben müßte unser wittenbergische Ordnung annehmen. Ists doch auch bisher nie geschehen, daß die Stifte, Klöster und Pfarren in allen Stücken gleich wären gewesen; sondern fein wäre es, wo in einer jeglichen Herrschaft der Gottesdienst auf einerlei Weise ginge und die umliegenden Städtlein und Dörfer mit einer Stadt gleich bardeten; ob die in andern Herrschaften dieselben auch hielten oder was besonders dazu täten, soll frei und ungestraft sein.»144

Was wir bräuchten und was uns evangelischerseits verbinden könnte, wäre wohl eher eine Haltung (ich könnte moderner sagen: eine Spiritualität) des gemeinsamen Gebetes, auf die ich im folgenden Punkt näher eingehe.

2.4 Beteiligung der Gemeinde – aber welche?

Das erste (!) leitende Kriterium für das Evangelische Gottesdienstbuch lautet: «Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert.»145 Hingewiesen wird im ausführenden Text auf das «Priestertum aller Getauften», auf die Verantwortung der Gemeinde und die Vielfalt der Geistesgaben. Mit allen diesen Gaben solle sich die Gemeinde «am Gottesdienst beteiligen».146 Das Kriterium wird so wichtig, dass der erste Band der «Neuen Folge» des liturgiewissenschaftlichen Standardwerks Leiturgia den Titel erhält: «Gemeinde hält Gottesdienst» – und damit das Verb «halten» dem Amtsträger entzieht und auf die Gemeinde bezieht.

Immerhin, so ließe sich mit einem Augenzwinkern sagen: Mehr als 30 Jahre, nachdem «Sacrosanctum Concilium» (SC), die erste Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, die «participatio actuosa», die aktive Beteiligung, zum grundlegenden Prinzip erklärt hatte, tat dies dann auch die evangelische Kirche. In SC 14 heißt es: «Die Mutter Kirche wünscht sehr, alle Gläubigen möchten zu der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das christliche Volk, ‹das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, der heilige Stamm, das Eigentumsvolk› (1Petr 2,9) kraft der Taufe Recht und Amt besitzt» («plena, |53| conscia atque actuosa liturgicarum celebrationum participatio»). Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, seit den Anfängen der Liturgischen Bewegung, war die aktive Beteiligung eines der Leitworte der liturgischen Reform. Jetzt spielte es in «Sacrosanctum Concilium» eine entscheidende Rolle für die Neuausrichtung der Liturgie. Und gleichzeitig begann die Diskussion, was aktive Beteiligung eigentlich heißen und bedeuten solle. Als der vorige Papst dieses Amt noch nicht innehatte und einfacher Kardinal in Rom war, verfasste er sein Buch «Der Geist der Liturgie». Im Blick auf die participatio actuosa warnt er vor Veräußerlichungen und erkennt, dass es dabei nicht darum gehe, dass möglichst viele Aufgaben im liturgischen Kontext von möglichst vielen Teilnehmenden übernommen werden. Viel entscheidender sei die «wesentliche actio», «die Liturgie ausmacht», «die verwandelnde Macht Gottes, die durch das liturgische Geschehen hindurch uns selbst und die Welt verwandeln möchte».147 Es geht nicht um die Äußerlichkeit der Teilnahme, nicht um einen «liturgiefremden Aktionismus» (Benedikt Kranemann)148, sondern um die «Teilnahme am Handeln Gottes in der Eucharistiefeier».149 Aktive Teilnahme bedeutet eine Tiefenschicht unterhalb der sichtbaren Redeanteile.

Das ist klug erkannt – und dennoch läuft die evangelische Diskussion um die aktive Beteiligung von Anfang an auch in anderen Bahnen. Bereits Joachim Stalmann wandte sich gegen die «Einmanngottesdienst[e]», bei denen ein Pfarrer eben den ganzen Gottesdienst hält.150 Einmannshows hat man das auch genannt. Um das zu verhindern, lässt man dann also die Lesungen von einem Gemeindeglied oder Kirchenvorsteher halten. Man delegiert andere Redeanteile – wie die Begrüßung oder die Abkündigungen. Man bietet musikalisch begabten Flötenkindern die Möglichkeit, eine «Einlage» zu musizieren oder der Theatergruppe der Jugendlichen die Chance auf ein «Anspiel» vor der Predigt.

Die 2011 veröffentlichte Rezeptionsstudie zum Evangelischen Gottesdienstbuch fragte auf ähnliche Weise nach «Beteiligung» und erhielt auf die entsprechenden Fragen erstaunliche Antworten. So äußern sich zu dem Item «Wenn Gottesdienst gefeiert wird, muss immer die ganze Gemeinde dafür verantwortlich |54| und daran beteiligt sein» nur 6% voll und ganz zustimmend, 15,9% überwiegend; 13,3 % lehnen den Satz überhaupt, 31,7% weitgehend ab. 33% Unentschiedene gibt es.151 Bei der Frage, wie wichtig eine «möglichst hohe aktive Beteiligung der Anwesenden» ist, sagen 29,1 %, diese sei wichtig, 8,9% sehr wichtig, 1,6% völlig unwichtig, 18,9% unwichtig; unentschieden bleiben 41,5%.152 Bei der Frage, inwiefern der Pfarrer von sich sagt: «Ich leite die Gemeinde durch den Gottesdienst, gehe ihr voran» äußern sich 62,4% positiv; dies bedeutet aber nicht, dass sie sich theologisch als «stellvertretend für die Gemeinde vor Gott» sehen.153

Angesichts der Bedeutung der participatio actuosa im Diskurs des 20. Jahrhunderts sind diese Werte erstaunlich. Oder eben auch nicht, wenn man bedenkt, wie einlinig und einseitig hier nach «Beteiligung» gefragt wurde. Beteiligung bedeutet auch in dieser Befragung faktisch: mitmachen! Und das wollen durchaus nicht alle – und halten nicht alle für sinnvoll. So spricht auch Wolfgang Ratzmann von den «Grenzen des Bedürfnisses nach Kommunikation durch Interaktion».154 Und Michael Meyer-Blanck entdeckt zu Recht ein Partizipationsdilemma: «Das Dilemma besteht darin, dass die Erweiterung an Partizipation gleichzeitig zu einer Verengung auf bestimmte Gruppen tendiert. Schon länger wissen wir: Je mehr sich der Gottesdienst an einer bestimmten Zielgruppe orientiert, desto mehr schließt er andere aus. Je stärker ein Gottesdienst von Gemeindeaktivitäten geprägt wird, desto mehr verliert er seinen Öffentlichkeitscharakter und wird zur Versammlung bestimmter Gemeindegruppen.»155

Noch grundlegender erkennt Klaus Raschzok: Die aktivwerdende Gemeinde wird primär in der Rolle als Leserin und Leser von Texten in den Blick genommen. «Damit treten auch die engagierten Gemeindeglieder in der Gottesdienstgestaltung in die immer noch attraktive Pfarrer-Rolle ein und es kommt so zu einer unbeabsichtigten Prolongation der Theologen-Dominanz in der Gottesdienstgestaltung. Daran wird deutlich, dass sich die Einbeziehung der Laienperspektive eben gerade nicht auf die Eroberung der Bereiche des geistlichen Amtes beziehen darf.»156 So werde die Spaltung der Gemeinde in diejenigen, die den Gottesdienst |55| vorbereiten und für andere halten, und in diejenigen, die als Rezipienten der Veranstaltung der anderen beiwohnen, nur vertieft.157

Stattdessen gilt es in den Blick zu nehmen, wie vielfältig Menschen am Gottesdienst partizipieren, wie etwa eine empirische Ermittlung von Katharina Stork-Denker oder die Studie von Uta Pohl-Patalong zeigen158: durch Mitsingen, aber auch wenn sie «einfach nur da sitzen und sich anrühren und ansprechen lassen», durch «Sehen und Zusehen», durch das «Hören der Predigt», durch das «Mitbeten».159

Dieser letztgenannte Punkt erscheint mir entscheidend: durch das Mitbeten. Ist unser Gottesdienst ein gemeinsames Gebet? Oder wird er zur pädagogischen Veranstaltung, zur amüsant-unterhaltsamen Mitmachshow, zum hochkulturell-musikalischen Ereignis? Ich habe nichts gegen Pädagogik, nichts gegen Unterhaltung und nichts gegen gute Musik – aber Gottesdienst ist Wort-Wechsel zwischen Gott und Mensch oder er ist nicht Gottesdienst. Gottesdienst heißt Eintauchen in das Wechselspiel, das die hebräische Wurzel barak in ihren unterschiedlichen Wortbedeutungen «segnen» und «loben» zum Ausdruck bringt.

Als der Lutheraner Wilhelm Löhe in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Wege der Reform des Gottesdienstes nachdachte, meinte er, es gebe keine Chance zu einer Wiedergewinnung der Feier des Gottesdienstes, «keine rechte Liturgie ohne ein betendes, zum Gebete lustiges, durchs Gebet erfreutes Volk». Darum sei es heute nötig, «im Volke de[n] Geist des Gebets» zu wecken.160 So kann es zur Beteiligung kommen, zur Beteiligung am Gott-menschlichen Wortwechsel, an Lob und Klage, Bitte und Dank. Beteiligung am göttlichen Wort, das es zu schmecken und zu sehen gibt. Liturgische Reform bleibt immer auf halbem Wege stehen, wenn sie sich nicht zugleich auch versteht als Arbeit an der Spiritualität – oder altertümlicher: an der Frömmigkeit! – und Liturgiedidaktik als Spiritualitätsdidaktik konzipiert. Gottesdienst ist «Körperarbeit am Leib Christi», so Rainer Volp und Klaus Raschzok.161 Diese gilt es einzuüben.

Für die Arbeit an einer neuen Agende/einem erneuerten Gottesdienstbuch scheint mir auf diesem Hintergrund eine Überlegung wichtig. Das Book of Common Prayer der anglikanischen Kirche war als Buch für den gemeinsam gefeierten |56| Gottesdienst gedacht, aber eben auch (etwa im Blick auf die Morgen- und Abendgebete) als Buch für das Gebet zu Hause. Ähnlich ist es bis heute im Judentum. Dort gibt es kein wirkliches Äquivalent für das, was wir «Gottesdienst» nennen. Das gemeinsame Gebet wochentags oder am Schabbat in der Synagoge ist bis auf einige Einschübe und Wendungen eigentlich nichts anderes als die individuell von jedem und jeder auch zu Hause zu betende Tefillah: das vorliegende Gebet am Morgen, am Nachmittag oder am Abend. Der Siddur, der das jüdische Gebet ordnet, kann sowohl zu Hause verwendet werden als auch in der gemeinsamen Feier. Wäre das eine Richtung für ein neues Gottesdienstbuch, das dann gegebenenfalls auch die Aufgabe hätte, das Gebet des Einzelnen und das Gebet in den Familien, das Gebet in Gemeinschaften und im Gottesdienst zu verbinden? Weil es genauso zum gemeinsamen Gebet hinführen und aus diesem wiederum seine Kraft nehmen würde? Weil es so eine Chance gäbe, das Gebet des Einzelnen im Wechselspiel mit dem «Gebet der Kirche» zu halten? Und weil auf diese Weise die formative Kraft des Gottesdienstes nicht nur behauptet werden könnte, sondern im Alltag der Glaubenden Gestalt gewinnen würde?

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