Читать книгу: «Geist & Leben 4/2016», страница 2

Шрифт:

Mit dem evangelisierenden Lebenszeugnis hat einherzugehen, ja diesem sogar vorwegzugehen, der stellvertretende Glaubens- und Gebetseinsatz für die Menschen, unter denen der Christ lebt. Hier lautet eines der markantesten Worte Bruder Karls: „Wenn wir die Seele eines Nichtglaubenden retten, dann – wenn es so erlaubt ist zu reden – retten wir Jesus vor der Hölle und geben ihm den Himmel (…) Die Heiligung des Volkes dieser Region ist in meine Hände gelegt! Es wird gerettet, wenn ich ein Heiliger werde. Und es ist Jesus, den ich vor der Hölle rette und dem ich den Himmel öffne, wenn ich ein Heiliger werde.“9

Dieses Charakteristikum foucauldscher Spiritualität „Evangelisierung durch (wortloses) Glaubenszeugnis und Stellvertretung“ spielt in der seit Papst Johannes Paul II. inaugurierten Bewegung für eine „Neuevangelisierung“ sowie bei heutigen Reflexionen über die Zukunft der Kirche, so weit zu sehen ist, keine große Rolle, obwohl diese An-Regung nach wie vor von allerhöchster Bedeutung sein dürfte.

Neuentdeckung des Laien

Bei Überlegungen zur Evangelisierung geht Bruder Karl ein weiteres auf: Da er vergeblich nach Brüdern sucht, die mit ihm gemeinsam die Aufgabe der „Präevangelisierung“ und „Evangelisierung“ übernehmen könnten, bricht sich in ihm der Gedanke Bahn, Laien, vorbildliche Christen, dafür zu gewinnen, sich unter den Moslems Afrikas als „Landwirte, Siedler, Kaufleute, Handwerker, Grundbesitzer usw.“ niederzulassen. „Sie sollen durch ihr Beispiel, ihre Güte, ihre Kontaktfreudigkeit den Ungläubigen den christlichen Glauben anziehend machen“10 und „durch ihr Beispiel eine lebendige Predigt sein: Der Unterschied zwischen ihrem Leben und dem der Nichtchristen muss Aufsehen erregen, wie es der Wahrheit entspricht. Sie sollen ein lebendiges Evangelium sein: Die Menschen, die Jesus fern sind, vor allen Dingen die Ungläubigen, sollen ohne Bücher und ohne Worte durch den Anblick ihres Lebens das Evangelium kennenlernen.“11

Foucauld ist davon durchdrungen: „Überzeugte Christen, die unter den Ungläubigen leben, wird brüderliche Gemeinschaft zu einer Art Laienmissionaren machen.“12 „Wir brauchen Priszillas und Aquilas [Mitarbeiter des Apostels Paulus; Anm. GG]; sie müssen eins sein untereinander; sie müssen einander kennen – geheimnisvolles Priestertum des Gläubigen, der sich zum Opfer darbringt und Jesus als Opfer darbringt.“13 Auf der gleichen Linie liegt auch folgender vorwärtsweisender Text: „Die Welt der Kirche und die Welt der Laien wissen so wenig voneinander, dass neben den Priestern Laien gebraucht werden, die sehen, was der Priester nicht sieht, die dorthin vordringen, wohin er nicht vordringen kann, die zu denen gehen, welche ihn fliehen, die durch einen wohltätigen Kontakt evangelisieren, durch eine auf alle überströmende, eine immer hingabebereite Liebe.“14

Zur Gründung einer solchen missionierenden Laiengemeinschaft – damals eine unerhört neue Idee – reiste Bruder Karl verschiedentlich nach Frankreich. Allerdings umfasste die Gemeinschaft bei seinem Tod nur 49 Mitglieder, die zwar in seinem Anliegen beten und opfern wollten, sich jedoch zu einer Niederlassung in Afrika nicht berufen fühlten.

Zwar wurde die „Entdeckung“ des Laien seitens Foucaulds durch das II. Vatikanische Konzil noch ein ganzes Stück weitergeführt. Doch dürften die diesbezüglichen konziliaren Aussagen, die zu einem Großteil von französischen Theologen (Yves Congar u.a.) inspiriert waren, nicht ohne Einfluss von Bruder Karl zustande gekommen sein.

Neueinschätzung der Ehe

Zugleich mit der Neueinschätzung des Laien wird auch die Ehe von Bruder Karl neu bewertet. Über weite Strecken der Kirchen- und Glaubensgeschichte hinweg galt sie als Lebensform im Vergleich zu der der Ehelosigkeit bzw. Jungfäulichkeit als geringwertiger und als dem Evangelium weniger entsprechend. Auch hier zeichnet sich bei Bruder Karl ein radikaler Umbruch ab und zwar in der Beziehung zu Louis Massignon (1882–1962).15 Dieser erste große Islamwissenschaftler der Neuzeit war bei seinen Marokko-Studien auf die frühen Forschungsarbeiten Foucaulds gestoßen. Davon fasziniert, übersandte er ihm seine Diplomarbeit und erhielt dafür von ihm ein kurzes Dankesschreiben, das mit der Gebetszusage Bruder Karls schloss. Nach dieser ersten schriftlichen Begegnung entfaltet sich ab 1909 zwischen beiden ein lebhafter Briefwechsel, in dem Foucauld so etwas wie die Rolle eines Geistlichen Begleiters übernimmt. Mehr noch: Foucauld versucht, Massignon mit allen Mitteln dafür zu gewinnen, nach Tamanrasset zu kommen und mit ihm das Leben zu teilen, ja gewissermaßen sein „Nachfolger“ zu werden.

Aber Massignon kann sich nicht entscheiden und bleibt hin und her gerissen, bis er sich schließlich im Spätsommer 1913 in eine Ehe „stürzt“. Paul Claudel, der gleichfalls in Briefwechsel mit Massignon steht, bringt seine maßlose Enttäuschung zum Ausdruck. Um den Kontrast zwischen dessen Reaktion und der von Foucauld zu ermessen, hier seine Worte: „Warum sollte ich nicht mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass sie Ihrerseits diesen Weg der Mittelmäßigkeit [gemeint ist die beabsichtigte Ehe; Anm. GG] einschlagen, durch den wir alle waten. Ach, von Ihnen hätte ich anderes erwartet! (…) Wirklich und wahrhaftig, es bereitet mir Kummer, wie Sie den platten, mittelmäßigen Weg einschlagen, den ich selber gehe. Ich war so glücklich bei dem Gedanken, dass Sie über mich hinausschreiten, dass es Seelen gibt, die stärker sind als ich und Gottes weniger unwürdig.“16 In diesen Worten äußert sich nachdrücklich der damalige Mainstream der katholischen Eheeinschätzung („Weg der Mittelmäßigkeit“). Aber auf diesem Hintergrund erhält gerade auch die ganz andersartige Einstellung und Reaktion Charles de Foucaulds ihr volles Relief. Man bedenke: Dieser hatte seine ganze Hoffnung auf das Kommen Massignons gesetzt, nachdem schon so viele andere Versuche, Brüder für ein gemeinsames Leben zu finden, fehlgeschlagen waren. Verärgerung oder wenigstens Ausdruck von Enttäuschung wären mehr als verständlich gewesen. Aber Bruder Karl reagiert ganz anders. Im seinem ersten Brief nach Kenntnis der Entscheidung Massignons heißt es:

„Auch ich rate Ihnen, die Möglichkeit der Heirat ernsthaft in Betracht zu ziehen. Das einzig Notwendige, das einzig Vollkommene besteht darin, den Willen Gottes zu tun, worin immer er besteht. Man muss nach dem Willen Gottes suchen und danach handeln. Gott will, dass viele Menschen in der Ehe leben. Er will, dass sie darin heilig werden, dass sie sich darin vereinen und mit ihm aufs Innigste eins werden (…) Der heiligste, der schönste, vollkommenste und glücklichste Stand für uns ist der, den Gott für uns will, worin immer er auch besteht.

Wenn Gott will, dass Sie in der Ehe leben, finden Sie in diesem Stand den besten Weg für Ihre Heiligung, für die Verherrlichung Seines Namens, für das Mitwirken an der Ankunft Seines Reiches in Ihnen und in den anderen, für die Erfüllung Seines Willens auf Erden, so wie die Engel ihn im Himmel erfüllen.

Wie groß und schön ist doch die Berufung des Ehegatten, der seine Gattin auf dem Lebensweg zur ewigen Seligkeit begleitet, der ihr beisteht bei der Geburt von Kindern mit unsterblichen Seelen, die selbst wieder Eltern unsterblicher Seelen sein werden, die sie durch ihre Erziehung zu Gott und zum Himmel hinführen …

Ich meinerseits denke, dass Sie für die Ehe gemacht sind. Ich glaube, dass Sie auf diesem Weg die tiefste Einheit mit Gott und die größte innere Reinheit finden werden. Lassen Sie sich durchdringen von der Reinheit und Frömmigkeit derer, an die Sie sich binden werden. Mit einem Leben im Ausstrahlungsfeld einer so schönen, reinen und frommen Seele werden Sie den Menschen am meisten Gutes tun können. Die Ehre Gottes, unser aller Ziel, besteht in Ihrer Heiligung und im Wohl der Menschen. In liebender Verbundenheit im Herzen Jesu fr. Ch. de Foucauld.“17

Die Art und Weise, wie Foucauld sich hier im religiösen Sprachstil seiner Zeit ausdrückt, ist nicht mehr die unsrige; es kommt hinzu, dass der „alte Soldat“ Foucauld über keine „elegante“ Sprache verfügte. Dennoch: Man wird lange suchen müssen (und dabei vielleicht nicht einmal fündig werden), um in der damaligen Zeit ähnlich positive, ja höchste Worte über die Ehe zu finden. Entgegen der bisherigen Tradition ist für Foucauld die Ehelosigkeit nicht mehr einfach das gegenüber der Ehe Höhere, sondern alles kommt auf den „Willen Gottes“ an, d.h. auf das Erkennen und Befolgen der je persönlichen Berufung. Das und nichts anderes ist „das Höchste“.

Und weiter: Ihren hohen Wert erhält die Ehe nicht allein von der gemeinsamen Liebe und ihrer Fruchtbarkeit im Kind her, sondern von ihrer gemeinsamen Sendung für das Reich Gottes (vom „Mitwirken an der Ankunft Seines Reiches“) und vom gemeinsamen Gehen auf das letzte Ziel (von der „Berufung des Ehegatten, der seine Gattin auf dem Lebensweg zur ewigen Seligkeit begleitet“). Diese damals höchst ungewohnten Gedanken werden im weiteren Briefwechsel häufig wiederholt und vertieft. Kein Wunder, dass Massignon trotz seiner Ehe, oder gerade weil Foucauld seine Ehe in solch geistlicher Tiefe sieht, diesem zutiefst verbunden bleibt. „Die Berufung zur Ehe ist von wunderbarer Größe“, so lässt sich die Einstellung des ehelosen Foucauld zur Ehe zusammenfassen, eine Einschätzung, mit welcher er, wie in so in vielen anderen Punkten, seiner Zeit um Jahrzehnte voraus und Wegweiser für neue Perspektiven war.

Ein Wegweiser hat dann seine Aufgabe erfüllt, wenn Menschen mit seiner Hilfe ihren Weg gefunden haben und weitergekommen sind. Eben diese Aufgabe dürfte Bruder Karl in hohem Maß erfüllt haben. Eins seiner bevorzugten Schriftworte ist Jes 56,10 entnommen. Hier heißt es:

„Die Wächter des Volkes sind blind, / sie merken allesamt nichts. Es sind lauter stumme Hunde, / sie können nicht bellen. Träumend liegen sie da / und haben gern ihre Ruhe.“

In Bezug darauf formuliert Bruder Karl häufig: Ich will kein stummer Hund sein. In der Tat: Er war es auch nicht, und sein „wachsames Bellen“ wurde in der Kirche gehört und beachtet.

1 J.-F. Six (Hrsg.), Charles de Foucauld, Aufzeichnungen und Briefe. Freiburg i. Br. 1962, 70.

2 C. de Foucauld, Die geistlichen Schriften, dt. Wien – München 1963, 155f.

3 Ders., Brief an seine Schwester vom 17. 1. 1902. – Im Folgenden entstammen zahlreiche Passagen meinem Buch: G. Greshake, Spiritualität der Wüste. Innsbruck – Wien 2002, 135–154.

4 D. Barat (Hrsg.), Charles de Foucauld. Œuvres Spirituelles. Paris 1958, 457f.

5 J.-F. Six, Abenteurer der Liebe Gottes, 80 unveröffentlichte Briefe von Ch. d. Foucauld an L. Massignon. dt. hrsg. und eingeleitet v. G. Greshake.Würzburg 1998, 216.

6 U.a. wurde es von den sog. Jerusalem-Gemeinschaften aufgegriffen, die 1974 durch P. Pierre Marie Delfieux gegründet wurden. Der „innere Kreis“ dieser geistlichen Bewegung möchte ein monastisches Leben verwirklichen, und zwar in der als „Wüste“ verstandenen Stadt. Während jedoch in der geistlichen Foucauld-Familie die „Stadt“ eine, wenn auch besonders eindringliche Weise und Ausdrucksform der Wüstenexistenz unseres Lebens ist, nimmt diese in den Jerusalem Gemeinschaften eine fast exklusive Bedeutung an.

7 C. de Foucauld, Brief an H. de Castries vom 17. 6. 1904.

8 Ders., Directoire, art. 28.

9 Ders., Retraite à Beni-Abbès (1902), in: D. Barret (Hrsg.), Ch. de Foucauld – Oeuvre spirituelles. Anthologie. Paris 1958, 538.

10 Ders., Brief an Abbé Caron vom 11 .3. 1909.

11 Ders., Directoire, art. 28.[s. Anm. 8].

12 Ders., Brief an Abbé Caron vom 9. 6. 1908.

13 Ders., Brief an Joseph Hours vom 3. 5. 1912.

14 Ebd.

15 Siehe dazu J.F. Six, Abenteurer der Liebe Gottes, 32f. [s. Anm. 5].

16 Zit. nach ebd. 130.

17 Ebd., 128f.


Meredith Secomb | Melbourne (Aus)

geb. 1951, PhD theol., M.A. Psych., Theologin, klinische Psychologin

msecomb@gmail.com

Small Matters1

Kontemplatives Leben und soziale Gerechtigkeit

Seit einiger Zeit geht mir ein inspirierendes Seminar, an dem ich 2014 teilgenommen habe, durch den Kopf, das sich mit bahnbrechender Arbeit an der Schnittstelle von Kunst und Gesundheitswesen auseinandersetzte.2 Der Vortragende, ein Ethnomusikologe, Menschenrechtsaktivist und Musikprofessor engagiert sich u.a. dafür, die Künste in einen peruanischen Slum und ein US-amerikanisches Gefängnis zu bringen. Seine Arbeit stellt die sowohl in materieller als auch in spiritueller Hinsicht zutiefst verarmten Menschen unserer Welt in den Mittelpunkt. Sie transformiert das Leben der Menschen, deren Selbstwahrnehmung und Gefühl von Bedeutung und Wert. Es handelt sich hier um eine Form von Arbeit, die zu sozialer Gerechtigkeit beiträgt.

Das Seminar hat mich aufgerüttelt und mich zur Frage gebracht, welchen Beitrag meine Arbeit, als jemand, der sich als kontemplativ versteht, zur Verringerung der hoffnungslosen Ungleichheiten und des Schmerzes der Welt leistet.3 Während ich in der Vergangenheit sowohl beruflich als auch privat versuchte, das Leiden anderer zu lindern, schien jeweils mit dem Ende dieser Aktivitäten auch die Erfüllung aufzuhören, die von meiner Bemühung herrührte, mein kontemplatives Gebetsleben mit der liebenden Sorge für andere zu verbinden.4

Deshalb ist meine derzeitige Frage: Wie kann ich authentisch als kontemplativer Mensch, offen für Gott und das Leiden meines Nächstens, inmitten der Annehmlichkeiten einer westlichen Vorstadt leben? Einige Annahmen sind implizit in dieser Frage enthalten. Die erste, die ich bejahe, ist, dass wir berufen sind, andere zu lieben und ihnen zu dienen; die zweite, die ich untersuche, ist, dass ein Leben, das das kontemplative Gebet in den gewöhnlichen Umständen der gewöhnlichen Welt priorisiert, zulässig ist; die dritte, die ich zurückweise, ist, dass wir alle „große“ Dinge bewerkstelligen müssen, um dem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und Liebe für unseren Nächsten gerecht zu werden.

Zunächst möchte ich den Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit innerhalb der christlichen Tradition legen, verweise dabei kurz auf die Hl. Schrift und anschließend auf die Arbeit von Theolog(inn)en. Sie folgen einem Ruf, Taten zu setzen. Dabei handelt es sich auch um solche Taten, die soziale Strukturen, welche Ungerechtigkeiten aufrechterhalten, infrage stellen. Diesem aktivistischen Engagement steht das scheinbar inkompatible Leben des gewöhnlichen Kontemplativen gegenüber, der ein einfaches Leben in der Vorstadt verbringt. Danach schlage ich eine Annäherung vor zwischen dem dringenden Bedürfnis aller Christen, aktives Mitgefühl zu leben angesichts des Leids anderer und der genuinen Begrenzungen von Menschen, die ein alltägliches Leben innerhalb der Bedingungen der entwickelten Welt führen. Im Einklang mit der kontemplativen Tradition ist aus meiner Sicht diese Annährung in der Wertschätzung der kleinen Wege, in denen Liebe für die Bedürftigen um uns ausgedrückt werden kann, zu finden.

Soziale Gerechtigkeit als christliches Gebot

Das Thema der sozialen Gerechtigkeit ist ein wesentlicher Teil der christlichen Tradition. Im Alten Testament ist es womöglich am schönsten bei Micha zusammengefasst, der unmissverständlich festhält, dass der Herr uns auffordert, „Recht [zu] tun, Güte und Treue (zu) lieben (und) in Ehrfurcht den Weg (zu) gehen mit deinem Gott“ (Mi 6,8). Im Neuen Testament ist Jesus sogar noch direkter, da er darauf besteht, dass wir nicht in das Reich Gottes kommen, wenn wir nicht den Hungrigen und den Durstigen zu trinken gegeben, Fremde willkommen geheißen, die Nackten bekleidet und die Kranken oder Gefangenen besucht haben (Mt 25,31–40). Christus befiehlt uns, unseren Nächsten zu lieben (Mk 12,30f.); und die Parabel des barmherzigen Samariters (Lk 10,30–37) zeigt uns, dass uns unser Nächster in verschiedenen Gestalten begegnen kann. Als Christen, ja als Menschen, sind wir alle berufen, Gottes Liebe für die Armen und Bedürftigen, die Kranken und Verletzten in irgendeiner Weise zu offenbaren. Darüber hinaus sind das Lindern des Schmerzes unseres Nächsten und die Entwicklung unserer eigenen authentischen Menschlichkeit untrennbar miteinander verflochten, da wir unseren Nächsten wie uns selbst lieben sollen (Mk 12,31). Jon Sobrino besteht darauf, dass Menschen nur dann tatsächlich menschlich sein können, wenn sie die Befreiung derjenigen, die Unterdrückung und Niederlage erleiden, unterstützen.5

Die vielen Theolog(inn)en, die sich damit beschäftigt haben, wie unsere Liebe für Gott eine nachweisliche Auswirkung auf die Bedürfnisse unserer Nächsten haben muss, insistieren, dass kontemplatives oder mystisches Gebet einen anteilnehmenden und barmherzigen Ausdruck in prophetischer, politischer oder ökonomischer Handlung haben muss.6 Oft ist es eine persönliche Begegnung mit extremem Leid, die solch eine theologische Reflexion hervorruft. So war es für Johann Baptist Metz und Jon Sobrino, die beide mit erschütternden Beispielen des Leides und der Unterdrückung konfrontiert wurden. Für Metz war es der Holocaust; für Sobrino die schreckliche Armut in Südamerika. Diese persönlichen Erlebnisse haben ihre Sensibilität für die schockierende Weltgeschichte der Gewalt und Unterdrückung gesteigert, und sie dazu geführt, darauf zu bestehen, dass wir größere Kenntnis von dem Leid der unschuldigen Opfer der Unterdrückung und Ungerechtigkeit haben müssen.

Dennoch, traurigerweise – schmerzlicherweise – nehmen so viele von uns deren Notlage nicht wahr. Obwohl die Hl. Schrift uns so oft aufruft aufzuwachen, sind wir oft zu bequem und selbstzufrieden auf den Ruf Christi, andere zu lieben wie uns selbst, zu antworten. Angesichts der Aufforderung an alle Christen, wachsam für die Forderungen sozialer Gerechtigkeit zu sein, stellt sich die Frage, wie wir verantwortlich dem Ruf eines relativ einfach Lebens folgen können, der das Gebet an die erste Stelle setzt. Laufen wir hier nicht Gefahr, ein im Grunde egozentrisches Dasein mit der Aufschrift „kontemplativ“ zu vertuschen? Könnte es nicht vielmehr eine faule Ausrede sein, die den „wirklichen“ Anliegen eines christlichen Lebens aus dem Weg geht?

Berufung oder faule Ausrede?

Schon in seinen frühen Aufzeichnungen in einem Zisterzienserkloster adressiert Thomas Merton die übliche, aber missverstandene Ansicht, dass das kontemplative Leben lediglich eine Strategie ist, um die profane und oft beschwerliche Realität des gewöhnlichen, alltäglichen Leben zu vermeiden. Mit Nachdruck behauptet er, niemand soll das Kloster als einen Ort rechtfertigen, wo es überhaupt kein Leid gibt und wo Menschen „keine Probleme haben“. Das ist ein Mythos, eng verwandt mit jenem anderen Mythos, dass Religion selbst alle Ängste der Menschen aus dem Weg schafft.7

Danach deutet Merton die Art der Mühen an, denen jemand, der ein kontemplatives Leben führt, begegnet: Glaube selbst impliziert ein bestimmtes Leid, und es ist ein Weg, innerem Leiden zu begegnen, keine magische Formel, um alle Probleme verschwinden zu lassen. Der Mönch bewältigt sein Leben nicht durch außergewöhnliche spirituelle Abenteuer oder dramatische und heldenhafte Großtaten. Das Kloster lehrt den Menschen, selbst Maßnahmen zu ergreifen und die eigene Gewöhnlichkeit zu akzeptieren; mit einem Wort, es lehrt ihn jene Wahrheit über sich selbst, die man „Demut“ nennt.8

Eine weitere falsch verstandene Auffassung über das kontemplative Leben ist, dass es selbstzentriert und individualistisch ist. An anderer Stelle lehnt Merton diese Idee ab und merkt an, dass das Gebet seine Ausübenden einer Selbstsuche und der „Täuschung und Demütigung des falschen Selbst, das danach strebt, für sich alleine zu leben und Gefallen an dem ‚Trost des Gebets‘ um seiner selbst willen findet“, aussetzt.9 Diejenigen, die zu so einem Leben berufen sind, antworten auf einen Ruf, nach innen zu reisen, dem Selbst angesichts der Forderungen des innigen Dialogs mit Gott zu begegnen. Sie antworten auf einen inneren Imperativ, der sie aufruft, ein kontemplatives Leben zu gestalten.

Mary Frohlich merkt an, dass die Authentizität dieses Imperativs durch sein Resultat sichtbar wird, durch das Ausmaß, in dem es schlussendlich in ein Leben, das Gottes Liebe ausdrückt, ausströmt.10 Während Zuschauer(innen) darauf warten, das Ergebnis zu bewerten, müssen sie geduldig sein und sich immer wieder daran erinnern, dass das kontemplative Leben ein herausforderndes ist, in dem Menschen des Gebets inneren Belastungen ausgesetzt sind, die jene, die mit profaneren Anliegen beschäftigt sind, nicht kennen. Egal, ob das kontemplative Leben in einem Kloster oder in gewöhnlichen Umständen außerhalb der Klostermauern gelebt wird, ist es keine faule Ausrede. Es ist ein Ruf. Es kann „einen Sinn für göttliche Unmittelbarkeit geben, einen Ruf, diese Unmittelbarkeit auszuleben und einen Sinn für alle Dinge und Geschehnisse als ein Durchscheinen der göttlichen Gegenwart“.11 Wie auch die physische Realität der Welt ein „Glashaus, transparent und durchscheinend für Gottes Gnade“ sein kann, so kann auch die spirituelle Realität des kontemplativen Lebens erfahren werden als etwas, das für Gottes gnädige Intervention transparent ist.12

Diejenigen, die innerhalb monastischer Mauern oder innerhalb aktiver Gemeinschaften, die kontemplatives Leben priorisieren, leben, haben die Unterstützung einer Gemeinschaft, eine Lebensregel, die Struktur und eine sozial erkennbare Etikette geben. Diese Dinge stellen einen institutionellen Rahmen zur Verfügung, der die Selbstidentität unterstützt. Menschen, die als Kontemplative „in der Welt“ leben, brauchen oft Mut, einen Lebensstil zu verfolgen, der normalerweise von dem der meisten Menschen um sie herum abweicht. Es gibt viele Faktoren, die Menschen zum Nachdenken darüber bringen, ob sie einen kontemplativen Ruf haben, wenn sie in gewöhnlichen Umständen der Welt außerhalb einer institutionellen Umgebung leben. Einige verweisen auf ihre kontemplative Erfahrung, andere auf ihre kontemplativen Praktiken, andere wiederum auf ihren kontemplativen Lebensstil. Für manche ist es einfach die stimmigste Form, ihr Selbstverständnis zu artikulieren, indem sie sich selbst ‚Kontemplative‘ nennen.13

Kathryn Damiano beschreibt die Erfahrung, ein kontemplatives Leben als zurückgezogene Person zu leben als eine von „relevanter Irrelevanz“.14 Das kontemplative Leben im Kontext der Ehe zu führen, erzeugt noch einmal andere Herausforderungen.15 Die kontemplative Dimension eines Lebens in einer Arche-Gemeinschaft offenbart weitere mannigfaltige Wunder dieses Lebensweges: „Auf der langsamen Spur wird man ermutigt, ein weiteres Mal hinzusehen, um die Details, die Köstlichkeit und sogar Schönheit von dem von uns als hässlich Erachteten ausfindig zu machen“.16 Nur ein Herz, das für Mitgefühl sensibilisiert und wachsam für die Schönheit in den gewöhnlichen Details des täglichen Lebens ist, kann auf diese Weise „sehen“. Ann Denham beschreibt ihr anfängliches Missverständnis eines intensiven Gebetslebens als Erwartung einiger „bequemer Plaudereien mit dem Herrn“. Lebhaft stellt sie ihre eigentliche Erfahrung des sich Öffnens für die Tiefen darin dar: „ein Durchstoßen ins Licht und eine Landschaft wie bei van Gogh; ein starker visueller Sinn für die vielschichtige Realität und ein heulender Angststurm aus einem klammen, schwarzen Loch“.17 Denham lässt jene Angst erkennen, die oft mit dem Aufgeben egobasierter Strategien einhergeht, wenn man in einen Dialog mit der Welt tritt und das Risiko auf sich nimmt, sich einem größeren Selbst zu öffnen, von dem das Ego lediglich ein Teil ist. Wie Merton konfrontiert Denham ihr inneres Leid und ihren seelischen Schmerz mit dem Glauben.

Frohlich merkt an, dass es eine solche Vielfalt kontemplativen Ausdrucks im „rohen Material von Begabungen, Gelegenheiten und Wahlmöglichkeiten“ gibt, dass man von keinem vorgefertigten Weg sprechen kann, um die Selbstidentifikation einer Person als „kontemplativ“ zu begründen.18 Was auch immer zu dieser Identifikation führt, ihr Ausdruck ist nicht weltverneinend; die Spiritualität, die aus dem authentischen, kontemplativen, in der Welt geführten Leben hervorgeht, ist noch immer „für die anderen“.19 Es kann viele Formen annehmen für eine gewöhnliche Person, die ein gewöhnliches Leben in gewöhnlichen Umständen von Heim und Arbeit lebt.

Transformierendes Gebet und der „kleine Weg“

Die Tendenz zu glauben, dass wir nur dann wertvoll sind, wenn wir große Dinge tun, ist allgegenwärtig. Menschen, die in Industrieländern leben und von extremem Leid verschont geblieben sind, verspüren eine subtile Schuld, die die Freude am Ruf zu einem kontemplativen Leben untergräbt und die andeutet, dass sie nicht genug tun, um die Last derjenigen, die in weniger günstigen Bedingungen als sie leben müssen, zu erleichtern. Die implizite, unbewusste Annahme ist, dass wir nur dann von Wert sind, wenn wir von anderen als jemand gesehen werden, der/die einen großen Beitrag für eine bedürftige Welt leistet. Für diejenigen mit Begabungen, Kapazitäten und der Kraft, strukturellen Wandel zu bewirken, sind solche Handlungen tatsächlich richtig und angemessen. Für die weniger Begabten verstecken allerdings solche Forderungen den Wert des Kleinen vor Gott, welches sie berufen sind, zu tun und tun können. Selbst für die Begabteren kann es Mut bedürfen, der Kritik einer Gemeinschaft standzuhalten, und den „kleinen“ mehr als den „großen“ sozialen Nöten Wert beizumessen – wie Mutter Teresa, die angesichts ihrer Konzentration auf die Bedürfnisse des Individuums dafür kritisiert wurde, die sozialen Strukturen Indiens nicht genügend anzufechten.

Für viele ist es ein langer Weg zur Selbstakzeptanz für das Geringe, das sie tun können. An einem bestimmten Punkt in seinem Leben dachte Parker Palmer, dass er „ein Leben wie Martin Luther King Jr. oder Rosa Parks oder Mahatma Gandhi oder Dorothy Day leben müsste, um der Anforderung eines ‚hohen Zieles‘ gerecht zu werden“.20 Auch der Hl. Johannes vom Kreuz hält fest, dass wir es als ein spezielles Leid empfinden können, wenn wir merken, dass wir nicht leiden.21 Was kann getan werden, um Menschen für den Wert der „kleinen“ Nöte vor ihnen zu sensibilisieren? Während es tatsächlich ein echtes Risiko gibt, dass die Annehmlichkeiten eines westlichen Lebensstils uns für das Leid blind machen, das von jenen, die weniger Glück im Leben hatten, erlitten wird, können uns diese gleichen Annehmlichkeiten und die oft unbewusste Schuld, die mit ihnen einhergeht, auch blind machen für den Wert der „kleinen“ Wege, in denen wir liebevoll denen um uns dienen.

Die Schwierigkeit, uns selbst für die Nöte anderer zu sensibilisieren, ist für Metz und Sobrino eine Frage, die in die Tiefen unserer Beziehung zu Gott reicht. Es ist eine Frage, die die Natur unserer Spiritualität herausfordert. Unsere Spiritualität ist nur authentisch, wenn wir wach, aufmerksam und ansprechbar für die Realität des Leidens sind. Wie soll das allerdings bewerkstelligt werden? Für Metz und Sobrino wie auch für Simone Weil, finden sich Antworten auf diese Frage im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Für sie ist dieses Gleichnis das „grundlegende biblische Narrativ“ für eine authentische Spiritualität, die mitfühlend und ansprechbar für das Leid anderer ist.22

Aus der Sicht von Metz und Sobrino sind der Priester und der Levit so beschäftigt mit scheinbar gewichtigen Angelegenheiten des Gesetzes, dass sie an dem Bedürftigen vorbeigehen.23 Sie sind der Meinung, dass ein intuitives Mitgefühl den Samariter motiviert hat, zu handeln. Seine Handlung beinhaltete ein kenotisches Aufgeben egozentrischer Bindungen an Komfort und Sicherheit. Solch ein gestaltgewordenes Mitgefühl, das uns auch zu handeln antreibt, ist leider sehr selten. Eigeninteresse und Ablenkungen lassen uns bereitwillig in einem selbstzufriedenen Schlummer zurück, der uns davon abhält, das Leid anderer zu sehen.24 Eggemeier hält eine asketische Praxis kontemplativen Gebets für notwendig, um die Augen des Herzens zu öffnen und um die damit einhergehende leibliche Sensibilität für die Nöte anderer zu entwickeln.25 Er zitiert Arbeiten von Sarah Coakley und Simone Weil, die aufzeigen, wie dieses Einfühlungsvermögen entwickelt werden kann. Coakley hat eindringlich über die transformierende Wirkung der kontemplativen Gebetspraxis und das darin liegende Vermögen geschrieben, eine prophetische Dynamik mitfühlenden Tuns zu entwickeln.26 Ihre Arbeit mit Häftlingen z.B. zeigte, dass regelmäßige Zeiten der Stille die Erfahrung des Selbst transformieren wie auch einen heilenden, alternativen Raum zu der unterdrückenden Umgebung bereit stellen können. Simone Weil stellt fest, dass eine kontemplative Disziplin für die fokussierte Aufmerksamkeit des barmherzigen Samariters essentiell war, um die Not des Mannes auf der Straße wahrzunehmen. Sie beschreibt diese Aufmerksamkeit als das Wissen, wie man eine Person auf eine bestimmte Weise ansieht: „Dieser Blick ist zunächst ein aufmerksamer Blick, wenn die Seele sich selbst leert von all ihrem Inhalt, um das Wesen, das sie ansieht, in sich aufzunehmen, genauso wie es ist, in all seiner Wahrheit. Es ist nur dazu fähig, wenn es zu Aufmerksamkeit fähig ist.“27

Praktiken, die das Aufgeben egozentrischer Bindungen stimulieren, sind notwendig, da wir ansonsten nicht natürlicherweise ein selbstaufopferndes Bewusstsein erlangen. Ein weiteres Zeugnis über die transformierende Kraft des Gebetes kommt von dem Theologen Sebastian Moore, der darauf besteht, dass das „Gebet die radikalste Therapie für unsere Kultur ist“28.

Eggemeier, Coakley, Weil und Moore sind nur einige der vielen Stimmen, die auf die Früchte des schweigenden Gebets verweisen, das wachsam für die Notwendigkeit mitfühlenden und liebevollen Tuns im Streben nach Gerechtigkeit macht. Darüber hinaus gibt es eine Fülle an empirischer Literatur, die die Auffassung dieser Denker(innen) unterstützt, dass meditative Praktiken notwendig sind, um neurophysiologische Veränderungen zu bewirken, die ein erhöhtes, verleiblichtes, intersubjektives Einfühlungsvermögen ermöglichen.29

Бесплатный фрагмент закончился.

967,16 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
198 стр. 14 иллюстраций
ISBN:
9783429062767
Редактор:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
176