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Mit diesen Erwägungen soll nicht behauptet werden, kapitalistische Verhältnisse führten in der subjektiven Verarbeitung immer und automatisch bei jeder und jedem zu als depressiv klassifizierten oder sonstigen als klinisch eingestuften Symptomen. So gibt es schließlich auch Menschen, die beispielsweise über den Verlust ihres Arbeitsplatzes anders denken, als sich selbst eine lähmende Schuld für ihr Scheitern zuzuschreiben – sei es, dass es ihnen (ob nun mit psychologischer Hilfe oder ohne) immer wieder gelingt, ihre Ansprüche herunterzuschrauben und ihre persönlichen Anstrengungen zu intensivieren, in den bestehenden Verhältnissen so erfolgreich wie eben möglich zu sein, oder sei es, dass sie sich anstatt in Selbstkritik in der Kritik ebenjener Verhältnisse üben, die sie überhaupt erst in Abhängigkeit von Lohnarbeit zum Zwecke der Existenzsicherung bringen. Es ist also prinzipiell sowohl möglich in Anbetracht der Widrigkeiten und Versagungen dieses Lebens immer wieder zu dem falschen Schluss zu gelangen, man selbst sei eben nicht für diese Welt gemacht, als auch im Gegenteil den richtigen Schluss zu ziehen, dass die Welt, so wie sie jetzt ist, eben nicht für einen gemacht ist. Es bleibt festzuhalten, dass ein vermittelter Zusammenhang zwischen individuellem Leid und objektiven Bedingungen besteht, den Psychiatrie und Psychologie sich nach Kräften abzuleugnen und zu verschleiern bemühen. Noch die schäbigsten Verhältnisse versuchen sie den unter ihnen Leidenden als »Herausforderungen« zu verkaufen, selbst die Bedrohung der materiellen und sozialen Existenz wird zur »Entwicklungschance« umgelogen. Die Psychiatrie erfüllt also die Aufgabe, die Menschen fit und willig für ebenjene Verhältnisse zu erhalten und zu machen, an denen sie sich täglich – teils eben bis zum Verrücktwerden, teils »nur« unter normalen Verschleißerscheinungen – abzuarbeiten haben.

Das Anliegen des Staats

Das psychiatrische Versorgungssystem und alle daran angeschlossenen Angebote sind Teil des staatlich finanzierten Gesundheitswesens. Dessen Zweck ist es, einen gesunden Volkskörper zu erhalten, damit dieser den Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise zur Verfügung steht. Nicht die Interessen und Bedürfnisse der Einzelnen sind der Maßstab, sondern die Erhaltung einer arbeitsfähigen Bevölkerung, die sich tagtäglich an den widrigen Bedingungen dieser Gesellschaft abzuarbeiten und sich ständig den Quellen ihrer Zerstörung auszusetzen hat. Die staatliche »Fürsorge« gilt der Erhaltung des Menschenmaterials, welches es braucht, damit die nationale Geldvermehrung klappt. Denn ohne genügend gesunde und qualifizierte Arbeitskräfte kann das nationale Kapital sich nicht verwerten. Als ideeller Gesamtkapitalist regelt der bürgerliche Staat die kapitalistische Produktionsweise, damit sie stattfindet. Der Rücksichtslosigkeit des Kapitals gegen Mensch und Natur müssen Schranken gesetzt werden, damit dessen Verwertung auch morgen noch stattfinden kann. Dass sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit in der Welt befindet, garantiert der Staat durch die gewaltsame Aufrechterhaltung des Privateigentums. Alle ihm Unterworfenen sind gezwungen, die ausschließende private Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum anzuerkennen. Innerhalb dieses Rahmens dürfen und müssen die Einzelnen ihren Kampf um Selbsterhaltung und Wohlergehen abwickeln. Diejenigen, die über nichts Weiteres verfügen als über ihre Arbeitskraft, sind darauf verwiesen, diese der Vermehrung des Eigentums anderer zur Verfügung zu stellen. Und umgekehrt: Damit die Eigentumsvermehrung klappt, braucht es genügend nützliche Arbeitskräfte. Eine möglichst erfolgreiche nationale Geldvermehrung ist das entscheidende Mittel in der Staatenkonkurrenz.

Die Zurichtungsinstitutionen und Abteilungen zur (Wieder-)Herstellung der Brauchbarkeit und Nützlichkeit lässt sich der Staat, hauptsächlich finanziert durch die etablierten Zwangssolidarsysteme, wie etwa Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung, einiges kosten. Die physischen und psychischen Schäden der Menschen an den verschiedenen Positionen innerhalb dieser Gesellschaft sind bereits einkalkuliert, damit die Wiederherstellung erneuter Brauchbarkeit derjenigen, die ständig ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen müssen, in ausreichendem Maße gesichert ist. Das fröhliche Mitmachen innerhalb dieser Gesellschaft heißt dann, sich diesen Zwecken zur Verfügung zu stellen und den freiheitlichen Rahmen, den der Staat mit Hilfe seiner Gesetze setzt, nicht zu überschreiten. Überschreitet ein abweichendes, unerwünschtes Verhalten den staatlich gewährten Freiheitsrahmen, etwa bei einem Suizidversuch, greift der Staat mit seinem Gewaltmonopol auf die Person zu. Während Personen, bei denen noch Hoffnung auf Wiederherstellung der Arbeitskraft und Wiederaufrichtung des Willens zum fröhlichen Mitmachen besteht, zumeist mehr oder weniger freiwillig von psychologisch-psychiatrischen Angeboten Gebrauch machen und/oder das psychologisch-psychiatrische System zumindest nach einer gewissen Zeit wieder verlassen, laufen diejenigen, bei denen keine oder nur wenig Aussicht auf Wiederbrauchbarmachung attestiert wird, Gefahr, unter Zwang aufgegriffen und der staatlichen Verwahrung zugeführt zu werden. Dieses Vorgehen wird mit entsprechenden Diagnosen legitimiert und den davon Betroffenen gegenüber als »zu ihrem eigenen Besten« verklärt, welches sie (wiederum begründet mit ihrer psychischen Störung und aus »mangelnder Krankheitseinsicht«) angeblich nicht mehr selbst einschätzen können. Der Staat schafft damit nicht nur den funktionierenden Normalbürger_innen Menschen aus den Augen, deren Anblick sie an die eigene Angst vor der Möglichkeit von Abstieg und Scheitern erinnern bzw. diese Möglichkeit überhaupt (erst) ins Sichtfeld rücken könnte. Auch stellt er Angehörige mit diesem Zugriff von der Aufgabe frei, sich im Privatumfeld um diese Betroffenen kümmern zu müssen, damit diese Zeit und Kraft haben, sich stattdessen selbst im Rahmen anderer Reproduktions- oder Lohnarbeit ausbeuten und verwerten zu lassen. Auch die in geschlossenen Anstalten oder Pflegeheimen verwahrten »hoffnungslosen Fälle« müssen, soweit sie physisch und psychisch dazu noch irgendwie in der Lage sind, im Rahmen von Werkstattarbeit und Ergotherapie irgendwelchen Beschäftigungen nachgehen und die Tagesstruktur lohnabhängig beschäftigter Normalfunktionierer_innen imitieren, auf dass die Illusion aufrechterhalten werden kann, überhaupt irgendwie tätig zu sein sei menschliches Grundbedürfnis und ein jeder und eine jede könne »es« mit ein bisschen Mühe und Hilfe nochmal schaffen – ganz nach dem Motto »we leave no man behind«.16

Die vorherigen Kapitel haben deutlich gemacht, dass es der Psychiatrie und Psychologie nicht auf die Erklärung ihres Gegenstandes ankommt, sondern sie diesen im Vergleich zu dem, was sie unter psychischer Gesundheit verstehen will, zu bestimmen versuchen. Die Abweichung von diesem festgelegten Soll-Zustand, der modifizierten funktionalen Norm, wird den psychisch Auffälligen als ihr Wesen verklärt. Damit ist nichts über den Inhalt der jeweiligen Geistestätigkeit gesagt, sondern lediglich ihr Verhältnis zu dem gewöhnlichen fröhlichen Mitmachen vom parteilichen Standpunkt aus beschrieben. Mit der Diagnose »unbrauchbar« für die Zumutungen, die diese Gesellschaft für die Einzelnen bereithält und der Erklärung, die Unbrauchbarkeit müsse an einem Defekt in der Person liegen, wird der Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen, die an das Individuum gestellt sind, an denen es sich abzuarbeiten hat und an denen es auch scheitern und verzweifeln kann, und dem psychischen Leiden des Individuums ausgeblendet. Wie ein Mensch sich zu seiner kapitalistischen Vernutzung und zur staatlichen Betreuung seines Lebens zu stellen hat, ist bereits vorab entschieden. Über alle methodischen und theoretischen Debatten hinweg gilt eines als gesichert: Für verrückt gilt diejenige, die am Maßstab der Funktionalität für das normale Leben als untauglich gilt. Anhand dieses Maßstabes werden die Debatten geführt, was (noch) als normal gelten kann und was bereits als Störung gilt, die das Individuum daran hindert, seinem scheinbaren natürlichen Auftrag nachzukommen. Die Aufnahme einer produktiven Tätigkeit als das therapeutische Ziel schlechthin verweist direkt auf den Zweck, den das psychiatrisch-psychologische System zu erfüllen hat. Fitte und leistungsbereite Menschen, die sich auf den Arbeitsmarkt werfen und/oder die Reproduktion des Menschenmaterials sichern, sich an den von Staat und Kapital gesetzten Bedingungen abarbeiten und verschleißen lassen und dabei die richtige positive Einstellung mitbringen, sind das gesetzte Ziel der psychologisch-psychiatrischen Interventionen. In der Diagnoseerhebung, in den wissenschaftlichen Fehlannahmen über die Gründe geistiger Tätigkeiten der Individuen und den daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden sowie deren Zielen zeigt sich das prinzipielle Einverständnis des psychologisch-psychiatrischen Systems mit den Zwecken seines staatlichen Förderers und erweist sich als eine weitere Abteilung zur Aufrechterhaltung dieser Gesellschaft.

Quellenverzeichnis

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Psychopathologisierung und Rassismus in Deutschland. Eine feministische Perspektive

Esther Mader

We believe the juxtaposition of the black and white races has resulted in a massive psycho-existential complex. By analyzing it we aim to destroy it. (Fanon 2008 [1952]: xvi)

In seinem Buch Black Skin, White Masks analysiert Frantz Fanon 1952 den Zusammenhang von Kolonialismus und Rassismus und arbeitet dabei die psychologischen Folgen für kolonialisierte und koloniale Subjekte heraus. Diese Folgen wirken sich auch bis heute noch erkennbar, unter anderem in der Psychopathologisierung, aus. In den vergangenen Jahrhunderten und insbesondere im Zuge der Kolonisation und der Aufklärung haben sich bestimmte Vorstellungen, Bewertungen und Repräsentationen »der Anderen« formiert. Darüber werden nicht nur nicht-normgerechtes Verhalten erklärt und Machtverhältnisse legitimiert, sondern immer auch das idealisierte Selbst hervorgebracht und letztendlich die vorherrschende Norm selbst. Das Selbst und »das Andere« stehen daher stets in einem dialektischen Verhältnis: sie bringen sich gegenseitig hervor. Hier zeigen sich Parallelen in der Hervorbringung des (bürgerlichen) Subjekts – als ein weißes, abled,1 männliches Subjekt – und der Konstituierung von Kollektiven, Nationen oder der westlichen Welt.

Mit Michel Foucault fallen die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, eine gesteigerte Auseinandersetzung mit dem »Selbst« und dessen Gefährdung sowie die Geburt der Psychiatrie zusammen (vgl. Foucault 1973). Die Vernunft wird über die Abgrenzung zum Wahnsinn, die Hetero- über die Homosexualität wie auch – und das vergisst Foucault überwiegend – die weiße über die Schwarze »Rasse«2 definiert. Durch diese Abgrenzungen entsteht das männliche, heterosexuelle – aber auch weiße – Subjekt3 als idealisiertes Selbst. Zentral ist daher auch die Abgrenzung des Westens vom »Orient«. Denn das Erforschen des »Orients« dient der Konstituierung einer westlichen Welt und erschafft das »Andere« zugleich mit (vgl. Said 1994). Was Foucault in seinen Ausarbeitungen daher außen vorlässt, ist der den Wissenschaften immanente Eurozentrismus; es ist die Verwobenheit von gesellschaftlichen Strukturkategorien wie Geschlecht, »Rasse« und Klasse.4 Als in Europa am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert begonnen wurde, wissenschaftlich eine Differenz zum »Anderen« zu beschreiben, wurde über diese Kategorisierung und Diagnostik definiert, was als »normal« und »wahnsinnig« verstanden werden soll. Die Psychiatrie mit der Praxis der Pathologisierung spielte daher eine tragende Rolle für dieses Entstehen des »Anderen«. In den wissenschaftlichen Diskursen verschränken sich die Forschung über (Psycho-)Pathologie, »Rasse« und anderen Herrschaftskategorien und führen zur Entstehung rassistischer, sexistischer, antisemitischer und anderer hierarchischer Kategorisierungen (vgl. Ernst/Harris 1999).

Im Folgenden wird der Zusammenhang von Psychopathologie und »Rasse« im Mittelpunkt stehen. Es steht die These im Zentrum, dass Psychopathologisierung am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eine ausschlaggebende Praktik bei der Zuschreibung von körperlichen, kulturellen und psychischen Differenzen war und rassifiziertes Wissen hervorbringt. Daher ist auch die psycho-soziale und psychiatrische Praxis heute nie frei von Rassismus. Das damals produzierte Wissen findet sich in teils veränderter Form, teils in sehr ähnlichem Gewand heute noch in Diskursen um »Rasse« und Kultur und erzeugt rassistische Zuschreibungen, Bewertungen und Handeln. Auch heute noch rekurriert Rassismus auf kolonialen Vorstellungen. Es ist daher wichtig, sich die historische Verwurzelung von rassistischem Denken und Verhaltensweisen zu vergegenwärtigen (vgl. Ayim 1995: 101).

Der vorliegende Beitrag teilt sich grob in drei Teile: Nachdem ich im ersten Schritt die Begrifflichkeiten und Schreibweisen umreiße, steht im nächsten Schritt der Zusammenhang von Psychopathologisierung und dem Konzept »Rasse« im Fokus. Hierbei werde ich mit einem feministischen Blick herausarbeiten, wie die Entstehung des Konzepts »Rasse« in der wissenschaftlichen Forschung und der beginnenden Psychopathologisierung zusammenfallen. Im letzten Teil fokussiere ich heutigen Rassismus in Psychiatrien.

Begriffe

Bevor wir zur Konstruktion der »Anderen« durch die Differenzkategorie »Rasse« kommen, ist es zunächst nötig die Verwendung der Begrifflichkeiten zu klären. Denn sehr problematisch ist hier, dass die Verwendung und eine unkritische Wiederholung von rassistisch (oder anders diskriminierenden) aufgeladenen Begriffen einerseits zur Gewöhnung, Normalisierung oder Billigung ihrer Verwendung führen kann, was gegen ihre Verwendung spricht. Andererseits geht es in diesem Beitrag darum das Konzept »Rasse« mit seinen historisch diskursiv hervorgebrachten Implikationen zu erfassen, was die Benennung bestimmter Begrifflichkeiten, rassistischer Zuschreibungen und Stereotype erforderlich macht, um sie als solche zu markieren. Im vorliegenden Beitrag findet sich daher die Verwendung rassifizierter und rassistischer Begriffe und Konstruktionen, die durch Anführungszeichen markiert sind.

Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff der »Rasse« seit der Vernichtung unzähliger Menschen auf Grundlage dieses Konzeptes in der Zeit des Nationalsozialismus in der Regel nicht mehr verwendet (vgl. Adams 2013: 44). Die Verbindung des Begriffs »Rasse« mit biologisch-genetischen Merkmalen ist auch in heutigen Diskursen noch häufig anzutreffen. Der Begriff der Rassifizierung beschreibt demgemäß einen Prozess der Kategorisierung, durch den ein_e »Andere_r« (meist, aber nicht ausschließlich) über somatische Merkmale definiert und darüber eine Gruppe gebildet wird. Dieser Prozess ist hierbei jedoch nie abgeschlossen, sondern muss stets aufs Neue wiederhergestellt werden. Die konstruierte Gruppe wird schließlich explizit und implizit als eine vermeintlich naturgegebene und sich biologisch reproduzierende Einheit verstanden (vgl. Miles 1991: 101). Es findet folglich eine Naturalisierung dieses konstruierten Kollektivs als »anders« statt. D.h. es wird über eine Differenz zur Norm definiert, worüber sich zugleich eben diese Norm – die weiße Norm – manifestiert. Naturalisierung heißt hier, dass die Differenz als inhärente Eigenschaft der »Natur« dieses Kollektivs erscheint und über die Biologie begründet wird. Dies dient letztendlich als Schablone stereotyper Vorurteile. Ähnlich verhält es sich auch bei dem Konzept der »Ethnie«, jedoch lässt sich hierbei ein Kulturessentialismus konstatieren, der ähnliche Effekte aufweist, sich jedoch weniger über somatische Merkmale einschreibt als vielmehr auf zugeschriebene kulturelle Aspekte. Hervorzuheben ist hier ebenfalls, dass die Konstruktion von »Rasse« neben biologischen immer auch sozial-kulturelle Argumente benötigt, um als plausibel zu gelten. Auch wenn das Konzept stets biologisch gedacht wurde, treten rassifizierte Argumentationsstränge gemeinsam mit Differenzierungsfaktoren wie Sprache, Religion, Nationalität etc. in Verbindung auf (vgl. Adams 2013: 13). Das Konzept der »Rasse« spielte eine entscheidende Rolle in der Wissenschaft seit der Aufklärung. Da es darum geht, diesen historischen Zusammenhang und dessen Kontinuum bis in heutige Argumentationsstrukturen (die heute eben über »Ethnie« sprechen) herauszustellen und eben nicht verschwinden zu lassen, werde ich den Begriff der »Rasse« hier verwenden.5 Es geht folglich um die Herausarbeitung der Formierung dieses Konzeptes mit seinen historisch spezifischen Implikationen. Mit meiner Analyse geht folglich zugleich eine Kritik daran einher. Der Begriff der »Ethnie« gewann im deutschsprachigen Raum erst nach dem Nationalsozialismus an weitläufiger Popularität,6 sodass teilweise andere Konnotationen an ihm haften. Heute zielt das Konzept »Ethnie« eher auf die kulturelle, soziale und historische Einheit eines Kollektivs (vgl. Ferrante 1995: 350f.) und stellt dieses durch die Benennung zugleich mit her. Auch das Konzept der »Ethnie« impliziert kulturelle, historische sowie genetische Gemeinsamkeiten unter den Mitgliedern – auch wenn hierbei der biologische Aspekt zu Gunsten des Kulturellen in den Hintergrund zu treten scheint. Handlungsorientierend wird die Zugehörigkeit zu »Ethnien« vor allem dann, wenn die Mitglieder tatsächlich an ihre Existenz und vor allem an klare Grenzen zwischen verschiedenen »Ethnien« glauben (vgl. Lentz 1995: 181). Klar ist daher, dass die Konzepte »Rasse« und »Ethnie« – wie auch Geschlecht – nicht transhistorisch, sondern diskursiv, sozial und kulturell hervorgebracht sind.7 Es sind soziale Deutungsmuster, die im Zuge der Neuorganisierung des Denkens während der Epoche der Aufklärung entstanden sind (vgl. Adams 2013: 44) und auch heute noch dort entstandene rassistische Implikationen in sich tragen.

Zudem sei hier erwähnt, dass ich die Schreibweise »Schwarz«, »Schwarze Menschen«, mit Großschreibung gewählt habe, da ich mich hier auf die politisch gewählte Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen beziehe und nicht mit zugeschriebenen Begrifflichkeiten arbeite. Des Weiteren verwende ich den Begriff »People of Color« und »Women of Color«,8 der als politischer Kampfbegriff von rassistisch marginalisierten Communities als anti-rassistische Selbstbezeichnung verwendet wird (vgl. Hà 2009). Den Begriff weiß setze ich dagegen kursiv, da damit immer eine privilegierte Position in der Gesellschaft einhergeht und ich diese Privilegierung nicht unmarkiert lassen will. Denn im westlichen Denken wird Schwarz-Sein und Weiß-Sein stets in Abgrenzung zueinander gedacht und Schwarze Menschen werden zum »Anderen«. Sie sind sichtbar, während Weiß-Sein unsichtbar, unmarkiert, bleibt und die Norm darstellt. Dies stellt Noah Sow (2008) in ihrem Buch Deutschland Schwarz Weiß: der alltägliche Rassismus heraus und zeigt auf, dass Weiß stets hierarchisch über Schwarz steht,9 sodass sich in diesen Farben ein Gewaltverhältnis ausdrückt, in welchem weiße Menschen stets die privilegierte Position, also die Machtposition, haben. Zugleich soll mit der Kursivschreibung darauf hingewiesen werden, dass dieser Begriff ebenfalls eine soziale Konstruktion ist und keine rassistische Beschreibung darstellt, die auf körperliche Merkmale wie die Hautfarbe abzielt (vgl. Eggers et al. 2009: 12f.).

Ich wurde als weiße Person erzogen, nehme die Welt durch eine weiße Perspektive war und bin nicht von Rassismus betroffen. Daher kann ich nicht aus der Perspektive von Betroffenen von Rassismus schreiben. Allerdings kann ich meine eigene Position selbstreflektieren, kritisieren und zugleich aber meine privilegierte Position nutzen, um in diesem Beitrag auf Rassismus aufmerksam zu machen. Dabei will ich nicht für andere sprechen, denn dies würde die Marginalisierung bestimmter Positionen (re)konstruieren und stabilisieren. Vielmehr soll es darum gehen: »Räume zu schaffen, in denen die Anderen gehört werden, und andere bisher unbeachtet gebliebene Perspektiven freizulegen, die bisher nicht als wertvoll qualifiziert waren.« (Castro-Varela/Dhawan 2003: 279) Herrschaftsmechanismen wie Rassismus, Klassismus, Sexismus etc. durchdringen das Gesellschaftsgefüge so, dass für ihre Kritik Bündnisse erforderlich sind und die Ausgangsbasis dafür ist zunächst die Selbstreflexion.10 Daher finde ich es besonders wichtig, dass von weißen Positionen Rassismus kritisiert wird, denn dies kann nicht alleine Aufgabe von Schwarzen und People of Color sein. In diesem Sinne schreibt auch bell hooks:

Wenn ein Großteil der jüngeren Literatur über ›Rasse‹ aus einem ernsthaften Interesse an einer kulturellen Transformation erwächst, so gibt es unbedingt einen Bedarf an unmittelbarer und anhaltender Selbstkritik. Engagierte Kulturkritiker – ob weiß oder schwarz, Wissenschaftler oder Künstler, weiblich oder männlich – können Arbeiten hervorbringen, die Herrschaftsstrukturen bekämpfen und eine umgewandelte Zukunft skizzieren, wenn sie ihre eigene Arbeit bereitwillig von einem ästhetischen und politischen Standpunkt aus hinterfragen. Dieses forschende Hinterfragen wird dann selbst zu einem Akt kritischen Eingreifens und fördert Wachsamkeit als Grundhaltung anstelle von Ablehnung. (hooks 1996: 85)

Diese Notwendigkeit des Erkennens der unmarkierten weißen Position wird in diesem Beitrag im letzten Abschnitt erneut wichtig. Denn für die Praxis von Psychopathologisierung, für das Stellen von Diagnosen sowie für das Beraten und Unterstützen von Patient_innen hat die Positionierung im sozialen Raum deutliche Relevanz.

1 722,70 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
586 стр. 11 иллюстраций
ISBN:
9783960428114
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