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II. Die Ästhetik der Seidl-Filme

Bei den von Seidl vornehmlich verwendeten Einstellungen handelt es sich vor allem um Frontalaufnahmen mit direkten, gleichsam gedehnten Blicken der Menschen in die Kamera, die expressis verbis auf das Konfrontative setzen, wie insgesamt Seidls Filme »als Angriffe, als Kampfansagen konzipiert und anstößig gemeint«28 sind. Diese langen, starren Einstellungen, die die nicht sprechenden Personen mit Frontalblick in der Bildmitte positionieren und sie wie Standbilder wirken lassen, sowie die harten Schnitte evozieren eine gewisse Distanz und machen dabei zugleich doch das Traurige im Leben fühlbar, indem sie das Verloren-Sein der Menschen im Raum zeigen. Eine grelle Farbigkeit wirkt dabei häufig wie ein harter Kontrast zur dargestellten tristen Groteske.

Charakteristisch für Seidls Filmbilder sind zudem Aufnahmen nahezu bewegungsloser Menschen, die zum Beispiel auf der Wohnzimmercouch sitzen, die wiederum in der Mitte des Raums steht. Häufig werden die Menschen auch am unteren Bildrand positioniert, wohingegen die mit großer Sorgfalt gestalteten Wände im Hintergrund die Blicke des Publikums auf sich ziehen. Auf diese Weise generiert die bewegungslose, statische Kamera starre, gerahmte Bilder, regelrechte Tableaus, die zum Markenzeichen des Regisseurs geworden sind und an die Fotografien von Diane Arbus erinnern.29 Diese Tableaus zeugen vom strengen Formwillen Seidls. Seine allenfalls um Atmo-Töne ergänzten reduzierten Bildeinstellungen erweisen sich als symmetrische, geometrisch geordnete Bildkompositionen mit genauer Kadrierung. Findet doch Figurenbewegung statt, dann bleibt immerhin die Kamera statisch. So arbeitet Seidl in seinem gesamten Werk letztlich immer wieder mit ähnlichen Darstellungsverfahren und Bildmotiven: »Seidl ist ein besessener Stilist, ja geradezu ein Geometer am Visuellen, der seine Bilder ausmisst und die Sujets mit einer Vorliebe für die Symmetrie arrangiert.«30

Seidls stilistisch kohärente, negativ gewendet mitunter zum Manierismus neigende Filmbilder erfahren auf diese Weise eine Ästhetisierung, die in starkem Kontrast zu den oft verstörenden und intimen Szenen steht, die sie zeigen. Dabei bezieht sich die gezeigte Intimität zum einen auf die dargestellten Innenräume, die einem Eindringen in die häuslichen Privaträume der Menschen gleichkommt; sie ist zum anderen aber auch eine Visualisierung der Intimität des Innenlebens der Menschen und ihrer seelischen Zustände. Seidls Figuren schauen aufgrund ihrer direkten Blicke in die Kamera zurück, sie blicken quasi das Publikum an und ermöglichen auf diese Weise Fragen nach Identitätsfindung und Momente der Selbstoffenbarung gleichermaßen. An das Lacan’sche Spiegelstadium erinnernd,31 arbeitet Seidl hier gleichsam mit einer Spiegelästhetik. Daneben lässt sich von einer gewissen religiösen Aufladung der Kamera sprechen: Sie wirkt wie ein Auge, in das die Beichtenden blicken. Beim Gezeigten handelt es sich zumeist um scheinbar arretierte Momente, in denen Zeit und Raum stillstehen, obwohl technisch gesehen das Filmbild natürlich weiterläuft. Aufgrund der seriellen Montage ähnlicher, mitunter schockierender Bilder hintereinander weg, sind Seidls Filme visuelle Zeugnisse der Alltagsmonotonie. Schwenks, die die Umgebung in den Blick nehmen, bevor sie die Figuren fokussieren, werden genutzt, um das jeweilige Soziotop zu studieren.


Visueller Schockmoment in TIERISCHE LIEBE

Aufgrund der solchermaßen beschriebenen Ästhetik der Filme Seidls, nimmt es nicht wunder, dass dem Regisseur immer wieder eine gewisse pornografische Kameraführung, gar Voyeurismus vorgeworfen wurde und wird.32 Dabei changieren die Bewertungen der Seidl’schen Tableaus zwischen Anerkennung und Ablehnung. Zugute gehalten wird Seidl als dem »ultimative(n) Voyeur«,33 dass er »nach innen, von den Körpern zu den Seelen«34 vordringe. Dabei gehe es ihm vor allem darum, »den Menschen in seiner transzendentalen Obdachlosigkeit und seiner Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit zu zeigen«.35 Negativ betrachtet, werden Seidls Filme als exploitation movies gewertet, so etwa von Rüdiger Suchsland. Dieser nennt den Regisseur den »Prototyp eines Arthouse-Exploitation-Filmers«36 und will bei dessen Darstellung der afrikanischen Männer in PARADIES: LIEBE Anklänge an Leni Riefenstahls Nuba-Bilder gesehen haben, so dass Seidl mit dem Feuer der Faschismus-Ästhetik spiele: »Und wenn später auch noch die schönen nackten Männerkörper und ihre langen Schwänze ausgiebig gezeigt werden, denkt man spätestens an Riefenstahl und die Nuba.«37 Jedoch, dies sei an dieser Stelle bedacht, spielt Tiesel zwar eine Frau, die sich aufgrund ihrer naiven Exotisierung mit Riefenstahl vergleichen ließe, der Film aber kritisiert genau eine solchermaßen gelagerte Ideologie. Suchsland beruft sich bei seiner Seidl-Kritik auf die Cahiers du Cinéma, die das Werk des Österreichers als Beispiel der filmischen »Provokation um der Provokation willen«38 genannt habe, womit er eine »der ›zehn Todsünden‹ des Autorenfilms«39 begangen habe. Seidl selbst hingegen betont, dass es ihm eben gerade nicht um Provokation gehe.40 Ganz von der Hand zu weisen ist derlei Kritik womöglich nicht, jedoch ist ebenso zu konstatieren, dass Seidl den Voyeurismus, indem er ihn in und mit seinen Filmen geradezu ausstellt, zugleich thematisiert. Der Schauspieler Josef Bierbichler fasst die Spezifik des Seidl’schen Voyeurismus wie folgt zusammen: »Das nämlich tun Seidlfilme: Sie drücken unser Gesicht in den eigenen Kot. Die, die als Voyeure zu Seidl ins Kino gehen, bleiben unberührt davon. Die richten sich ein in Überheblichkeit und Häme. Die grenzen sich von den Figuren des Films ab, über die sie sich erheben. Ihnen entgeht, dass auch über sie berichtet wird. (…) Seidls Filme zeigen alle den menschlichen Körper in seiner schambedingten Befangenheit und seinem gleichzeitigen Ausgesetztsein in die Gemeinschaft der anderen Körper – also der Gesellschaft, in die er eingegliedert ist – und wie er reflexartig reagiert auf die Zwänge, die diese Gesellschaft auf ihn ausübt, die eine konsumierende ist, und die ihn wie jeden anderen vereinnahmen und in ihre Gefühlswelt pressen will.«41


Bloßgestellte Frau in PARADIES: LIEBE?

Schockierend und tabubrechend sind Seidls Bilder allemal, zeigen sie doch extreme Nacktheit und explizite Sexualität ebenso wie Gewalt, das Hässliche oder Sodomie. Diese Bilder sollen beunruhigen, sie laden das Auge eben gerade nicht zum Verweilen ein oder strahlen Ruhe aus; sie sollen, bei aller Gefahr, damit auch auf einen gewissen Gruseleffekt abzuzielen oder die Gezeigten bloßzustellen, eben gerade verstören und das Publikum zur Reflexion herausfordern. Insbesondere Bilder des ostentativen Ausstellens von Sexualität zeigen bei Seidl auch immer die Vereinsamung des Menschen, thematisieren Machtfragen, käufliche Liebe mit Menschen als Ware und die Feier des Orgiastischen. Bei aller möglichen Diskussion um Seidls zweifelhafte Inszenierungen vor allem von Frauenfiguren etwa, legt der Regisseur in seinen Filmen doch auch immer wieder den Machismo der ihnen begegnenden Männer offen. Das Beispiel MODELS zeigt auch, wie Seidl filmisch die Zurichtung von Frauen und deren Körpern im Wahn der Schönheitsideale kritisiert.

III. Das scheinbar Dokumentarische und die Sozialkritik

Obschon Seidl sich selbst nicht als Dokumentarfilmer sieht, haben seine doku-fiktionalen Filme doch einen erheblichen Anteil an dokumentarischen Elementen und zeugen von einer gewissen Nähe zum direct cinema bzw. cinéma vérité.42 Denkbar weit entfernt vom classical cinema und unter Verzicht auf die Handlung vorantreibende plot points, erinnern Seidls Filme an Doku-Dramen, die sich einer gängigen Klassifizierung verweigern, wie sie etwa Bill Nichols in seiner weithin bekannten Studie zum Dokumentarfilm mit der Unterscheidung sechs verschiedener Modi des Dokumentarischen (poetic, expository, observational, participatory, reflexive, performative)43 vorgenommen hat. In Seidls Filmen ist keiner dieser Modi in Reinform realisiert. Vielmehr pflegt der Regisseur alle zugleich in verschieden gewichteten Mischformen, wenngleich, das ist allen Seidl-Filmen zu eigen, eine die Bilder kommentierende Stimme aus dem Off nie zu Gehör kommt. Seine Form des Dokumentarfilms wird daher als »Doku-Fiktions-Hybride«,44 als »präzise inszenierte(r) Ultrarealismus«45 bezeichnet. Seidls Ansatz ist der einer durchaus eigenständigen Verbindung von Fakten und Fiktionen, firmierend unter dem Schlagwort »Faction«.46 Weder direct cinema noch cinéma vérité lassen sich als Termini auf Seidls Filmwerk anwenden. Vielmehr gehört der Regisseur Seidl »einer Generation von Filmemachern an, die den Dokumentarfilm vom Dogma der faktographischen Repräsentation der Wirklichkeit befreien. Das Dokumentarische wird jetzt um fiktionale Formen erweitert; ›inszenierte Wirklichkeit‹ ist der Terminus dafür.«47

Über seine Hybride aus dokumentarischem und fiktionalem Film sagt Seidl selbst Folgendes: »Ich denke, meine Filme sind sehr artifiziell, weil sie durch meine Bildsprache stark geprägt sind. Ich nehme die Dinge, die passieren, also die Wirklichkeit, auf und bringe sie in einen Rahmen. Gleichzeitig versuche ich als Regisseur auch, die Dinge in Bewegung zu halten. Ich provoziere oder animiere die Darsteller, damit etwas vor der Kamera passiert, das nicht von vornherein festgelegt wurde.«48 Insofern interessiere es ihn nicht, »nur die Realität abzubilden, obwohl ich großen Wert auf Wirklichkeitsnähe und Authentizität lege. (…) Ich bin immer von zwei Richtungen ausgegangen: Das eine ist die Wirklichkeit, das andere die Künstlichkeit, eine Bildsprache, die ich für mich entwickelt habe, die etwas Unverwechselbares ist, die künstlich ist und trotzdem Authentizität hat.«49 Ohnehin ist es ein Irrglaube, man könne in und mit Dokumentarfilmen die Wirklichkeit 1:1 abbilden. Denn natürlich wird auch im Dokumentarfilm erzählt, es wird ausgewählt, gestaltet und interpretiert.

In seinen Filmen setzt Seidl häufig auf ein inszeniertes Laien-Schauspiel, wobei die Darsteller sich selbst in ihrer Rolle spielen. Aufwendige Castings gehen seinen Filmprojekten voraus; so wurden etwa für IMPORT EXPORT 1.500 Personen gecastet.50 Seidl pflegt dabei eine fordernde, die Grenzen der Darsteller auslotende Arbeitsweise, zwar in immer ähnlich zusammengesetzten Teams, aber durchaus autokratisch agierend.51 Ferner verzichtet der Regisseur auf ein fixiertes Drehbuch; bei seinem Vorgehen handelt es sich um experimentelles Filmemachen ohne vorher festgelegte Dialoge. Mal wird episodisch erzählt, mal linear, wie bei den Filmen der jeweils von einem Handlungsstrang dominierten PARADIES-Trilogie, während man gerade im dokumentarischeren Frühwerk vor allem »seriellen Montagen«52 begegnet. Vorab werden bei Seidl lediglich Szenenentwürfe fixiert, ansonsten setzt der Regisseur, der ausschließlich mit Atmo und diegetischer Musik arbeitet, auf das Improvisieren seiner Darsteller,53 perfektioniert zum Beispiel von der Schauspielerin Maria Hofstätter oder dem Laiendarsteller René Rupnik. Diese Selbstinszenierung der Protagonisten wirkt wiederum entlarvend, spielen die Darsteller doch ihr eigenes Leben. Seidl nutzt die Inszenierung, das Künstliche, um seine Sicht auf die Wirklichkeit zu zeigen. Aufgrund seiner Arrangements des stilisierten Sozialrealismus wird er mitunter mit Rainer Werner Fassbinder verglichen,54 wobei Seidls Kino in den stark überzeichneten Momenten geradezu surreal wirkt. Zugleich legt der Regisseur mit seiner Mischung aus Fakten und Fiktion, seiner offensiven Art und Weise, Filme zu machen, seine eigene Form politisch engagierten Kinos vor, ohne dabei Agitprop zu produzieren, der zum Handeln aufrufen würde. Stattdessen liefert Seidl Charakter- und Milieustudien, in denen er sowohl dokumentarisch arbeitet als auch einen deutlichen Stilwillen offenbart. Diese inszenatorischen Momente stehen dabei stets im Dienst von Seidls Aussageabsicht, so dass man seine Filme quasi als inszeniertes cinéma vérité titulieren könnte.


Sozial- und Milieustudie in GOOD NEWS

Die Kritik an den sozialen Missständen der bürgerlichen Gesellschaft steht im Mittelpunkt von Seidls Filmwerk, etwa die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse wie in GOOD NEWS. Allerdings bildet Seidl diese Zustände lediglich ab, ohne sie aus dem Off oder in Interviews im Schuss-Gegenschuss-Verfahren zu kommentieren. Insofern geht es ihm vor allem um ein Aufzeigen des Status Quo, weniger um die revolutionäre Geste. Seidl fordert durch seine Methode der gezielten Provokation das Publikum dazu auf, sich zum Gezeigten zu positionieren und die eigene gesellschaftspolitische Haltung zu hinterfragen; dazu Seidl: »Ich möchte keine Filme machen, wo man sich als Zuschauer nicht selber sieht, wo man denkt, das ist ganz interessant, hat aber nichts mit meinem Leben zu tun. Sondern ich versuche Filme zu machen, bei denen sich der Zuschauer schämt, dass er auch zu dieser Welt gehört. Oder, positiv gesagt: Dass er seine Verantwortung sieht. Das ist ein produktiver Prozess, zwar unangenehm, aber er führt zur Erkenntnis.«55

Trist und trostlos wirkt der Alltag der Menschen am Rand der Gesellschaft im Seidl’schen Filmwerk, das letztlich stets Menschen in Systemen respektive Systemzwängen zeigt und Skizzen von Machtverhältnissen liefert, vergleichbar mit Michel Foucaults Überwachungsapparat im Panoptikum,56 sei es vom früheren MODELS über PARADIES: LIEBE bis hin zu SAFARI. Wenn Seidl das Grauen des Alltags, das harsche Leben mit dem Existenzialismus als philosophischem Hintergrund jedoch derart überzeichnet in Szene setzt, dann schimmert hinter diesem scheinbar allzu Normalen doch auch immer das Komische durch. Komik erwächst bei Seidls Filmen aus der Ernsthaftigkeit, mit der das Skurrile dargestellt wird.57 Seidl dazu: »Mir war immer wichtig, dass meine Filme auch Humor haben – noch besser ist es, wenn die Menschen lachen können und es ihnen im nächsten Moment kalt über den Rücken läuft: Ich will Schnittstellen finden zwischen Tragödie und Komödie.«58 Dem attestierten pessimistischen Ton und Zynismus seiner Filme tritt Seidl daher entgegen: »Meine Filme werden ja oft als pessimistisch bezeichnet, und damit meint man etwas Negatives. Für mich ist allerdings der Pessimist nicht zwangsläufig negativ, und der Optimist auch nicht bloß positiv. Im Gegenteil: Der Pessimist hat ja auch immer das Schöne vor Augen. Aber wenn ich mir die Welt so ansehe, muss ich mich schon fragen, warum ich Optimist sein sollte. Wenn man ein offenes Auge hat, kommt man an diesem Problem nicht vorbei.«59 Insgesamt lässt sich bei Seidls Filmen also nur von einer scheinbar nicht wertenden Neutralität sprechen, evoziert sein Werk aufgrund der genannten obsessiven Stilistik doch durchaus Wertungen.


All Eyes on Sex in IMPORT EXPORT?

Als obsessiv mag auch Seidls Fixierung auf das Thema Sexualität bezeichnet werden, das er immer wieder in Form expliziter Darstellungen ins Filmbild rückt. Exhibitionismus ist ein im Grunde durchgängiges Motiv in all seinen Filmen, sei es in BUSENFREUND mit dem Brust-Fetischisten René Rupnik, sei es in TIERISCHE LIEBE und der darin gezeigten Ausbeutung der Tiere durch die Menschen, sei es in dem den Sextourismus sowie die Vereinzelung des Menschen in den Blick nehmenden Film PARADIES: LIEBE sowie in IM KELLER mit der direkten Darstellung von Sadomaso-Szenen. Sexualität mag auch deswegen zu Seidls Kernthemen zählen, da seine Art des Filmemachens, die stets eine dokumentarische Komponente enthält, mit der Dokumentation realer Körper korreliert, die wiederum nie absolut fiktiv sein kann. So scheint es offensichtlich zu sein, dass Sex einen Filmemacher anzieht, der mit der Grenze zwischen Fiktion und Realität spielt. Zusammengefasst lauten die Seidl’schen Themen also: »Einsamkeit, Außenseiter, Prekariat; Tourismus, Triebleben und Religion; Liebespragmatismus, Narzissmus, Sadomasochismus; Dritte gegen Erste Welt, Menschen gegen Tiere, Ost gegen West und Land gegen Stadt; Prostitution, Spaßverordnungen und Stammtischmentalität.«60

IV. Kritik und Wertschätzung: Ulrich Seidl als auteur

Die Methode Seidl spaltet das Publikum und brachte ihm seitens der Kritik immer wieder den Vorwurf der Ausbeutung der Dargestellten, das Eindringen in deren Privatsphäre, deren sie lächerlich machende Bloßstellung und der Sozialpornografie ein. Seidl selbst freilich verneint dies, er instrumentalisiere seine Protagonisten nicht: »Ich weiß natürlich, dass dies immer ein Punkt ist, der mir von einem Teil des Publikums vorgehalten wird, die mir vorwerfen, ich hätte das Gezeigte bewusst entstellt. Natürlich, ich spitze das Geschehen zu und unterstreiche es. Und durch die visuelle Reduktion wird es vielleicht noch pointierter oder klarer – aber grundsätzlich falsch wird es dadurch nicht.«61 Die Diskussion um sein Filmwerk entzündet sich vor allem an der Frage, ob das noch Wahrheitssuche sei oder schon Inszenierungsfetischismus. Geradezu milde bezeichnet Stefan Grissemann Seidl als »moralische(n) Filmemacher«,62 während es an anderer Stelle über ihn heißt, er sei »ein Moralist, ein bisschen vom Schlage eines Michel Houellebecq«.63 Die Reaktionen des Publikums reichen von Befremden über das Gezeigte bis hin zur Faszination des Ekels. Wieder andere schätzen das Radikale, das forsche(nde) Prinzip Seidls. Der als Regisseur menschlicher Abgründe bezeichnete Filmemacher, der von sich selbst den vielzitierten Satz »Ich bin kein Hochzeitsfotograf«64 sagt und dem es darum geht, wie er selbst zum Ausdruck bringt, »den Zuschauer zu berühren«,65 konfrontiert das Publikum mit den Grenzen der bürgerlichen Moralvorstellungen und fordert Positionierung ein.

Bei allen Diskussionen um Seidls Schaffen wird man eines mit Sicherheit festhalten können: Der Regisseur pflegt einen eigenen Stil, hat eine unverwechselbare Handschrift, anhand derer seine Filme wiedererkannt werden, und zwar »an den präzisen Bildkompositionen, seinen verstörenden Charakteren, einem zwischen Dokumentarismus und Fiktion strategisch unaufgelösten Naturalismus und nicht zuletzt auch an seinen Sujets. Seidls Generalthemen (Sexualität, Religion, Eifersucht, Machtfragen, Kolonialdenken, Konsumterror, Lebensunfähigkeit) werden im schwarzen Herz seines Kinos gebündelt, in seinem Überthema konzentriert: der Gottverlassenheit.«66 All dies erlaubt es, von Seidl als auteur zu sprechen, der ein konkretes Konzept hinter seiner Kunst verfolgt. Offen muss dabei letztlich bleiben, ob Seidl mit seiner Kritik an gesellschaftlichen Zuständen durch die Visualisierung eben jener Verhältnisse diese nicht auch affirmierend tradiert.

1 Stefan Grissemann, Sündenfall. Die Grenzüberschreitungen des Filmemachers Ulrich Seidl, Wien 2013, S. 14. — 2 Für Analysen von Seidls Werk bis zum Film JESUS, DU WEISST vgl. Florian Lamp, »Die Wirklichkeit, nur stilisiert«. Die Filme des Ulrich Seidl, Darmstadt 2009. Eine Untersuchung bis zur PARADIES-Trilogie liefert Grissemann, Sündenfall (s. Anm. 1). Analysen von GOOD NEWS (1990), MIT VERLUST IST ZU RECHNEN (1992) und IMPORT EXPORT (2007) liegen vor in Martin Brady und Helen Hughes, »Import and Export. Ulrich Seidl’s Indiscreet Anthropology of Migration«, in: New Austrian Film, hg. von Robert von Dassanowsky und Oliver C. Speck, New York 2011, S. 207–224. — 3 Lamp, »Die Wirklichkeit, nur stilisiert« (s. Anm. 2), S. 32. — 4 Für eine Detailanalyse des Films vgl. ebd., S. 35–65. — 5 Zit. n. Ulrich Weinzierl, »Von Kolporteuren und anderen Wienern. Ein entlarvender Dokumentarfilm. GOOD NEWS des Österreichers Ulrich Seidl«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.3.1991, o. S. — 6 Zit. n. Birgit Schmid, »Forscher am Lebendigen. Porträt von Ulrich Seidl«, in: Filmbulletin (2003), H. 2, S. 46–55, hier S. 55. — 7 Anke Leweke, »Zungenkuss mit Hund«, in: Die Zeit, 2.6.2010, S. 49. — 8 Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 47. — 9 Zit. n. ebd., S. 48. — 10 Zit. n. Max Fellmann und Wolfgang Luef, »›Der Mensch will belogen werden‹«, in: SZ Magazin, 16.2.2015, S. 20–24, hier S. 24. — 11 Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 48. — 12 Josef Bierbichler, »›Er und der Valentin nehmen die Katastrophe Leben halt ernst‹«, in: Abendzeitung München, 23./24.3.2013, S. 23. — 13 Zum Weltbild in Seidls Filmen vgl. auch Matthias Frey, »The Possibility of Desire in a Conformist World. The Cinema of Ulrich Seidl«, in: New Austrian Film, hg. von Robert von Dassanowsky und Oliver C. Speck, New York 2011, S. 189–198. — 14 Vgl. hierzu den Beitrag von Sandra Kristin Knocke im vorliegenden Heft. — 15 Auch in PARADIES: GLAUBE hat Rupnik einen Kurzauftritt. — 16 Vgl. Michel Foucault, »Von anderen Räumen« (1967), in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2018, S. 317–329. — 17 Vgl. hierzu den Beitrag von Jörn Glasenapp im vorliegenden Heft. — 18 Vgl. Marc Augé, Nicht-Orte, München 2014. — 19 Vgl. hierzu Justin Vicari, »DOG DAYS (HUNDSTAGE)«, in: Film Quarterly, Jg. 60 (2006), H. 1, S. 40–45, hier S. 40. Vgl. zum Film überdies Justin Vicari, »DOG DAYS. Ulrich Seidl’s Fin-de-siècle Vision«, in: New Austrian Film, hg. von Robert von Dassanowsky und Oliver C. Speck, New York 2011, S. 199–206. — 20 Vgl. Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 50. — 21 Vgl. hierzu den Beitrag von Fatima Naqvi im vorliegenden Heft. — 22 Vgl. Rüdiger Suchsland, »Ulrich Seidl über seine gemischte Arbeitsweise, über Religionskritik, die fortdauernde Autorität der Kirche und warum die Franzosen seine Filme nicht mögen«, in: artechock, 28.3.2013, https://www.artechock.de/film/text/interview/s/seidl_2013_2.html (letzter Zugriff am 29.4.2020), o. S. — 23 Vgl. zum Film IMPORT EXPORT, der von verschiedenen Seiten wissenschaftlich untersucht wurde, Helga Druxes, »Female Body Traffic in Ulrich Seidl’s IMPORT/EXPORT and Ursula Biemann’s REMOTE SENSING AND EUROPLEX«, in: Seminar, Jg. 47. (2011), H. 4, S. 499–519; Michael Goddard, »Eastern Extreme. The Presentation of Eastern Europe as a Site of Monstrosity in LA VIE NOUVELLE and IMPORT/EXPORT«, in: The New Extremism in Cinema. From France to Europe, hg. von Tanya Horeck und Tina Kendall, Edinburgh 2013, S. 82–92; Anca Parculescu, »IMPORT/EXPORT: Housework in an International Frame«, in: PMLA, Jg. 127 (2012), H. 4, S. 845–862; Nikhil Sathe, »Challenging the East-West Divide in Ulrich Seidl’s IMPORT EXPORT (2007)«, in: East, West and Centre. Reframing post-1989 European Cinema, hg. von Michael Gott und Todd Herzog, Edinburgh 2014, S. 65–78. — 24 Vgl. Stefan Grissemann, »Ordnungswidrige Weltdarstellungsweisen. Zu Ulrich Seidls alarmierenden Lebens- und Menschenbildern«, in: Kampfansage. Ulrich Seidls filmisches Werk, hg. von Stefan Grissemann, Wien 2017, S. 5–59, hier S. 21. — 25 Zit. n. ebd., S. 53. — 26 So heißt es im Paulusbrief: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.« 1 Kor 13,13 EU. — 27 Vgl. hierzu den Beitrag von Brad Prager im vorliegenden Heft. — 28 Grissemann, »Ordnungswidrige Weltdarstellungsweisen« (s. Anm. 24), S. 5. — 29 Zum fotografischen Wesen der Filme Seidls vgl. Brad Prager, »Trophy Hunter. Ulrich Seidl’s Portraits and SAFARI«, in: New German Critique (2019), H. 138, S. 157–179 und Vicari, »DOG DAYS (HUNDSTAGE)« (s. Anm. 19), S. 40 sowie darüber hinaus den Beitrag von Jörn Glasenapp im vorliegenden Heft. — 30 Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 46. — 31 Vgl. Jacques Lacan, »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint« (1948), in: Ders., Schriften I. Quadriga, Weinheim/Berlin 1986, S. 61–70. — 32 Vgl. zum Konnex von Fotografie und Voyeurismus insbesondere Susan Sontag, On Photography, New York 1977 sowie Susan Sontag, Regarding the Pain of Others, New York 2003. — 33 Grissemann, »Ordnungswidrige Weltdarstellungsweisen« (s. Anm. 24), S. 19. — 34 Ebd. — 35 Marc Vetter, »Ulrich Seidl: Erforscher gesellschaftlicher Sumpfgebiete«, in: Rolling Stone, 27.4.2018, https://www.rollingstone.de/ulrich-seidl-erforscher-gesellschaftlicher-sumpfgebiete-1491059/ (letzter Zugriff am 29.4.2020), o. S. — 36 Rüdiger Suchsland, »Perverse Heilige im Dschungelcamp der gebildeten Stände«, in: artechock, o. A., https://www.artechock.de/film/text/kritik/p/paglau.htm (letzter Zugriff am 29.4.2020), o. S. — 37 Rüdiger Suchsland, »Rassismus für die Gebildeten unter seinen Verächtern«, in: heise online, 3.1.2013, https://heise.de/-3397091 (letzter Zugriff am 29.4.2020), o. S. — 38 Ebd. — 39 Ebd. — 40 Vgl. Catherine Wheatley, »Europa Europa«, in: Sight & Sound, Jg. 18 (2008), H. 10, S. 46–49, hier S. 46. — 41 Bierbichler, »›Er und der Valentin nehmen die Katastrophe Leben halt ernst‹« (s. Anm. 12), S. 23. — 42 Vgl. zu diesem Thema auch Anna Granatowska, »Between Documentary and Fiction. Authenticity and Voyeurism in the Cinema of Ulrich Seidl«, in: Images, Jg. 15 (2014), H. 24, S. 61–69; Florian Mundhenke, »Authenticity vs. Artifice. The Hybrid Cinematic Approach of Ulrich Seidl«, in: Austrian Studies, Jg. 19 (2011), S. 113–125; Catherine Wheatley, »Naked Women, Slaughtered Animals. Ulrich Seidl and the Limits of the Real«, in: The New Extremism in Cinema. From France to Europe, hg. von Tanya Horeck und Tina Kendall, Edinburgh 2013, S. 93–101. — 43 Vgl. Bill Nichols, Introduction to Documentary, Bloomington 2017. Vgl. zum Dokumentarfilm überdies Klaus Arriens, Wahrheit und Wirklichkeit im Film. Philosophie des Dokumentarfilms, Würzburg 1999; Manfred Hattendorf, Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz 1999; Kay Hoffmann (Hg.), Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung doku-fiktionaler Formate in Film und Fernsehen, Konstanz 2012; Kay Hoffmann (Hg.), Trau-schau-wem. Digitalisierung und dokumentarische Form, Konstanz 1997; Eva Hohenberger (Hg.), Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin 2012; Thorolf Lipp, Spielarten des Dokumentarischen. Einführung in Geschichte und Theorie des nonfiktionalen Films, Marburg 2012; Thomas Schadt, Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms, Konstanz 2017; Dave Saunders, Documentary, London 2010. — 44 Grissemann, »Ordnungswidrige Weltdarstellungsweisen« (s. Anm. 24), S. 9. — 45 Ebd., S. 39. — 46 Vgl. hierzu Lamp, »Die Wirklichkeit, nur stilisiert« (s. Anm. 2), S. 23–27. — 47 Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 48. — 48 Zit. n. Grissemann, Sündenfall (s. Anm. 1), S. 27. — 49 Zit. n. ebd., S. 27 f. — 50 Vgl. Rüdiger Suchsland, »›Ich versuche, Bilder zu machen, die man noch nie gesehen hat‹. Ausbeutung, Lachen, Filme: Regisseur Ulrich Seidl unplugged«, in: artechock, 18.10.2007, https://www.artechock.de/film/text/interview/s/seidl_2007.htm (letzter Zugriff am 29.4.2020), o. S. — 51 Vgl. o. V., »Kontroverse und Mitgefühl. Was es bedeutet, mit Ulrich Seidl zu arbeiten: Erlebnisberichte von Komplizen und Mitstreiterinnen«, in: Kampfansage. Ulrich Seidls filmisches Werk, hg. von Stefan Grissemann, Wien 2017, S. 87–153. — 52 Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 49. — 53 Vgl. Grissemann, »Ordnungswidrige Weltdarstellungsweisen« (s. Anm. 24), S. 27. — 54 Vgl. o. V., »›Ein bisschen locker muss die Schraube schon sitzen‹. US-Regisseur John Waters spricht mit Stefan Grissemann über Seidls gnadenloses Kino, heitere Grenzüberschreitungen und die Legitimität der Blasphemie«, in: Kampfansage. Ulrich Seidls filmisches Werk, hg. von Stefan Grissemann, Wien 2017, S. 63–83, hier S. 73. — 55 Zit. n. Tobias Graden, »›Mir geht es um die Würde des Menschen‹«, in: Bieler Tagblatt, 21.1.2017, S. 2–3, hier S. 2. — 56 Vgl. hierzu Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975), Frankfurt am Main 2016. — 57 Zur Komik-Theorie Henri Bergsons, aufgrund derer sich das Lachen als Folge der Abweichung von gewünschtem Verhalten in Eintracht mit Sozialnormen erweist, vgl. Henri Bergson, Das Lachen. Ein Essai über die Bedeutung des Komischen (1900), Hamburg 2011. — 58 Zit. n. Grissemann, Sündenfall (s. Anm. 1), S. 20. — 59 Zit. n. ebd. — 60 Grissemann, »Ordnungswidrige Weltdarstellungsweisen« (s. Anm. 24), S. 51. — 61 Zit. n. ebd. — 62 Ebd., S. 11. — 63 Schmid, »Forscher am Lebendigen« (s. Anm. 6), S. 49. — 64 Zit. n. Constantin Wulff, »Eine Welt ohne Mitleid. Constantin Wulff über Ulrich Seidl«, in: Gegenschuss. 16 Regisseure aus Österreich, hg. von Peter Illetschko, Wien 1995, S. 240–255, hier S. 245. — 65 Zit. n. Grissemann, Sündenfall (s. Anm. 1), S. 22. — 66 Ebd., S. 8 f.

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