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I. Autobiografische Abstraktionen und urbane Impressionen: DIE DECKE

Mit ihrem Abschlussfilm DIE DECKE realisiert Věra Chytilová 1962 eine Kombination aus episodischem Spielfilm, Essay-Film, Momentaufnahmen im Stil des Direct Cinema und avantgardistischen Stadt-Impressionen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die junge Marta (Marta Kanovská), die zugunsten einer Karriere als Model ihr Medizin-Studium aufgegeben hat. Der Plot des Films verarbeitet autobiografische Erfahrungen: Chytilová hatte die Studiengänge Chemie, Philosophie und Architektur begonnen, bevor sie als einzige weibliche Absolventin neben Jiří Menzel und anderen zukünftigen Vertretern der Nová Vlna in die Regieklasse des FAMU-Mitbegründers Otokar Vávra aufgenommen wurde. Zeitweise hatte sie wie die Protagonistin auch als Model gearbeitet.

Es gehört jedoch zu den besonderen Finessen der Inszenierung Chytilovás, dass sie sich weder auf einen autobiografischen Spielfilm noch auf eine Dokumentation der Arbeit eines Models beschränkt. Stattdessen werden beide Ansätze systematisch ineinander verschachtelt, wie sie es später auch in ihrem Langfilm-Debüt VON ETWAS ANDEREM realisiert, der einen dokumentarischen Handlungsstrang über die Turnerin Eva Bosáková mit einer inszenierten, aber durchaus semi-dokumentarischen, soziokulturellen Perspektive der Beobachtung des Alltags der Hausfrau Vera (Vera Uzelacová) verknüpft. Durch die gezielte Gegenüberstellung treten die dokumentarischen und inszenierten Passagen in einen Dialog miteinander, der die Grenzen des Cinéma vérité und des Direct Cinema sprengt. Die Unmittelbarkeit der beobachtenden Kamera, die in VON ETWAS ANDEREM die intensiven Vorbereitungen der Sportlerin Eva auf den nächsten Wettkampf aufnimmt, erinnert an den Fly-on-the-Wall-Approach Pennebakers. Doch durch die Verknüpfung mit der Spielhandlung um einen Seitensprung der von einer Schauspielerin dargestellten Hausfrau Vera wird der dokumentarische Teil des Films in eine weiter gefasste soziokulturelle Perspektive gerückt. Die einfache Handlung als Ausgangspunkt für eine explorative Erkundung gesellschaftlicher Zustände und Befindlichkeiten erinnert an Jaromil Jireš’ DER SCHREI, der ausgehend von der alltäglichen Situation eines Paares, das auf die Geburt des ersten Kindes wartet, die Frage stellt, in welche Welt der Säugling eigentlich hineingeboren wird.

Auf eine etwas abstraktere und reflektiertere Weise verfährt Chytilová, wenn sie in VON ETWAS ANDEREM den Alltag der beiden Frauen in den Blick nimmt. Das grundlegende Konzept, das ihren ersten Langfilm bestimmt, findet sich als erste Skizze bereits in DIE DECKE angelegt. Die langwierigen Vorbereitungen der Model-Auftritte und der Foto-Aufnahmen werden in klassisch dokumentarischer Weise gezeigt.


DIE DECKE. Aus: Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, kurz&klein (2004), S. 104

Die Befragungsrituale des Cinéma vérité erscheinen in DIE DECKE gar nicht erst erforderlich zu sein, denn im Gegensatz zum immer leicht didaktisch anmutenden Gestus Edgar Morins und Jean Rouchs, formuliert Chytilová die Fragen durch die Vorgaben der Handlung und den Rahmen der Inszenierung. Dass der Film am Ende die angedeuteten Fragen zum größten Teil unbeantwortet lässt, verleiht DIE DECKE, nicht zuletzt auch aufgrund von Chytilovás ausgeprägtem Formbewusstsein, die Qualitäten eines Essay-Films. Leichte Verfremdungseffekte betonen diese Komponente zusätzlich. Zu Beginn des Films gibt eine männliche Stimme Martas gelangweilte Gedanken während eines Foto-Shootings wieder, bei dem sie als Stewardess vor einem Flugzeug, als Tennisspielerin auf einem Sportplatz und als Ingenieurin vor einer Maschine posiert. Den Ausstellungscharakter der für die Kamera angenommenen Rollen kommentiert Chytilová ironisch, indem sie zwei Männer wie bei einem Tennis-Match als Zuschauer die Köpfe hin- und herbewegen lässt. Obwohl sie sich anfangs nicht explizit als feministische Regisseurin verstand, erweist sich Chytilová durch die pointierte und bissige Reflexion von Blickkonstellationen und Rollenklischees dennoch als eine der wichtigsten Vordenkerinnen und Impulsgeberinnen des späteren feministischen Films.

Die »Decke« des Titels bezeichnet die Grenze, an die Marta stößt. In DIE DECKE erfolgt kurz vor der den Film abschließenden Odyssee durch das nächtliche Prag ein direkter Blick auf eine Zimmerdecke. Marta bleibt im weiteren Verlauf des Tages nach den langwierigen Foto-Sessions und den Auftritten auf dem Laufsteg in fremden Rollenzuschreibungen gefangen. Das Treffen mit ehemaligen Kommiliton*innen, unter ihnen in einem Gastauftritt von Věra Chytilovás Kollegen Jiří Menzel, verschafft etwas Abwechslung. Die Begegnung in einer Prager Mensa erinnert stellenweise an die Leichtigkeit der frühen Nouvelle-Vague-Filme. Allerdings lassen die nahezu leitmotivisch wiederholten Songs über eine Katze am Fenster und einen stechenden Kaktus bereits erahnen, dass Marta die Leichtigkeit des aufgegebenen Lebens als Studentin hinter sich gelassen hat und inzwischen in einem ermüdenden Kreislauf gefangen ist. Der gemeinsam mit ihrem Freund verbrachte Abend nimmt eine ausgesprochen unangenehme Wendung, als er die Einnahme einer Kopfschmerztablette für einen Selbstmordversuch hält. Überhaupt referiert er mehr über ihre von ihm vermuteten Befindlichkeiten, als dass er sie selbst zu Wort kommen ließe. Die Kamera bleibt bei Marta, während die Stimme des Freundes aus dem Off ertönt.

Die Filmwissenschaftlerin Oksana Bulgakowa schreibt sehr treffend über Martas symbolisch in Spiegelungen angedeuteten Zustand: »Über die Reflexion der sie umgebenden Spiegel und Vitrinengläser kann sie sich als unbeteiligter Zeuge selbst beobachten, vermag aber dennoch nicht die Imagination des geschlossenen Kreises ihrer Existenz, fixiert in verschiedenen Rollen, zu sprengen: Zimmerdecke hat im Tschechischen die idiomatische Bedeutung einer Begrenzung, über die man sich nicht hinausstrecken kann.«6

Chytilová selbst betrachtet ihren Diplomfilm als eine Art Selbstkatharsis: »Jeder wird zum Augenzeugen des eigenen Lebens. Und wie findet man den Mut, sich über die eigene Decke hinauszustrecken? Denn ich meine, dass diese Decke nur in der Psyche existiert und jeder tausend Möglichkeiten hat, etwas anderes anzufangen. Das eigentliche Dilemma rührt von dem eingeschliffenen Automatismus her, dem wir nicht nur unterliegen, sondern dem wir uns aktiv unterwerfen.«7

In einer Kompromissfassung sollte am Ende von DIE DECKE ein Gesinnungswandel Martas als Abschluss einer moralischen Erzählung stehen. Enttäuscht von der Affäre mit einem sehr viel älteren Partner und von der Oberflächlichkeit ihrer Arbeit als Model sollte sie am Ende Prag verlassen, um im ländlichen Umland ihren Frieden zu finden. Diese Handlungsstruktur bildete eine Reaktion auf die Einwände des Dramaturgen František Daniel, der Chytilovás Konzept als Ausdruck bourgeoiser Befindlichkeit abtat. Mit Hilfe ihres zum offiziellen Script Doctor erkorenen Kollegen Pavel Juráček erfolgte eine Überarbeitung im Sinne Daniels. Chytilová ignorierte bei den Dreharbeiten die Änderungen jedoch geflissentlich und setzte DIE DECKE am Ende nach ihren ursprünglichen Vorstellungen um.

Zwar verlässt Marta in den letzten Einstellungen des Films tatsächlich in einem Zug die Stadt und beobachtet eine Familie mit Kind. Ob es sich hierbei aber um einen Neuanfang und einen Gesinnungswandel handelt, bleibt den Zuschauer*innen überlassen. Der einsetzende Regen, der gegen die Scheibe des Zuges prasselt, könnte eine derartige Lesart implizieren, er gibt sie jedoch nicht zwingend vor.

Die mit der Ablehnung real-sozialistischer Erbauungserzählungen verbundene Rebellion gegen die Vorherrschaft einer klassischen Narration eröffnet eine sehr interessante Perspektive auf die späteren Arbeiten Věra Chytilovás. Im Porträt der Reihe GOLDENE SECHZIGER erklärt sie, dass sie Langeweile und Stereotype mehr verabscheue als Fehler. Dass ein Film eine Haltung vermittelt, sei ihr wichtiger als ein elaborierter Plot. Geschichten wären ohnehin nur ein Köder für das Publikum. Ihre Tendenz zum Fragmentarischen, die in TAUSENDSCHÖNCHEN zum gestalterischen Prinzip der performativ ausgespielten Situationen erhoben wird, findet sich in Ansätzen bereits in DIE DECKE. Die Ausarbeitung der einzelnen Stationen im Tagesablauf Martas und die mit ihnen verbundenen Fragestellungen und Beobachtungen – von den Foto-Aufnahmen über den Abstecher ins Leben der Studierenden bis hin zum Aufbruch aus der Stadt mit offenem Ausgang am Ende des Films – erfahren eine stärkere Gewichtung als die vom Skript vorgesehene vermeintliche Läuterung als narrativer Abschluss.

Immer wieder scheren die einzelnen Segmente des Films aufgrund ihrer ästhetischen Eigenständigkeit aus dem Zusammenhang der narrativen Ordnung aus und entfalten ein atmosphärisches Eigenleben. Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese Tendenz in DIE DECKE in der nächtlichen Odyssee, die Marta nach dem Streit mit ihrem Freund durch Prag und kurz vor ihrem morgentlichen Aufbruch aufs Land absolviert. Begleitet von den experimentellen Klängen des Nová-Vlna-Komponisten und Schauspielers Jan Klusák wechselt das Register des Films von der investigativen Haltung des Cinéma vérité und den Alltagsbeobachtungen der Nouvelle Vague in den reflexiv-poetischen Modus eines modernen Experimentalfilms. Die eigene Erfahrung als Model und Studienabbrecherin bildet in DIE DECKE den Ausgangspunkt für ein exploratives Porträt, das in den abschließenden Sequenzen in einem ambitionierten filmischen Experiment über Entfremdung und die Erfahrung der urbanen Moderne kulminiert.


Nächtliche Passage durch Prag in DIE DECKE


Nächtliche Passage durch Paris in FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT von Louis Malle

Peter Hames weist auf die Parallelen zu bestimmten Traditionen der filmischen Avantgarde hin: »The film’s final sequence, as she [Marta] walks through the city streets at night and eventually leaves the city, recalls the final abstract sequence of Antonioni’s L’ÉCLISSE, which appeared the same year. The city streets at night, of course, recall a particular tradition in avant-garde film. There are typical images of the night – a couple, a cat, workmen, mending tramlines and a man who tries to pick up Marta. Mannequins in a shop window, lampshades and a neon sign in the form of a rocket suggest a critique of consumerism but also seem strange and alien. The whole is accompanied by a modernist score by Jan Klusák, ending with images in which Marta is framed by a stone wall and passes through ranks of trees in what one takes to be a symbolic rebirth.«8

Aus einer filmphilosophischen Perspektive lässt sich diese nächtliche Passage durch Prag am Ende von DIE DECKE im Dialog mit ähnlich gelagerten Sequenzen aus Louis Malles ASCENSEUR POUR L’ÈCHAFAUD (FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT, 1958) und dem bei Hames erwähnten L’ÉCLISSE (LIEBE ’62, 1962) von Michelangelo Antonioni betrachten. In beiden Filmen finden sich ebenfalls exponierte Sequenzen, in denen die Kamera atmosphärische bis experimentelle Streifzüge durch das urbane Ambiente absolviert. In Louis Malles Hommage an den klassischen Film noir folgt die Inszenierung der von Jeanne Moreau gespielten Florence, nachdem der gemeinsam mit ihrem heimlichen Geliebten gefasste kriminelle Plan scheinbar gescheitert ist. Begleitet von einem Cool-Jazz-Soundtrack, den Miles Davis eigens für den Film komponiert hat, zieht sie durch die nächtliche, abweisende Stadt, vorbei an Schaufenstern und Kneipen. Innere Monologe geben ihre Verzweiflung und ihre Reflexionen über die eigene unglückliche Situation wieder. Donnergeräusche auf der Tonspur deuten ein nahendes Gewitter an. Florences nächtliche Odyssee bewegt sich in einer schwer zu fassenden Grauzone zwischen Flanieren und orientierungslosem Irrweg. Die moderne urbane Entfremdung wird in den Szenen, die Florence meistens aus einer Halbnahen folgen, unmittelbar erfahrbar. Von der Faszination des Großstadtdschungels, die spätere Neo-Noir-Variationen, unter anderem im französischen Cinema du Look der 1980er Jahre bestimmt, lässt sich kaum etwas erahnen.

Der Blick auf die Stadt entspricht ganz den Paradigmen der Hochmoderne: Fragmentarische Erfahrungen und Anonymität bestimmen die Wahrnehmung. Noch radikaler formuliert den Zusammenhang zwischen der Auflösung des Individuums in der kapitalistischen Konsumgesellschaft und der Gesichtslosigkeit der Großstadt Antonioni. Am Ende von LIEBE ’62 ist lediglich in statischen Bildern über mehrere Minuten hinweg der verlassene Treffpunkt zu sehen, an dem sich die beiden, von Alain Delon und Monica Vitti gespielten Hauptfiguren verabredet hatten und den offensichtlich keiner von beiden zum vorgesehenen Zeitpunkt aufgesucht hat. Wie in den letzten Einstellungen von Antonionis Thriller-Variation BLOW UP (1966) scheinen die Protagonist*innen aus ihrem eigenen Film verschwunden zu sein. Der Philosoph Martin Seel schreibt in seinem Buch Die Künste des Kinos über LIEBE ’62: »Nachdem auch Vittorias Affäre mit dem jungen Börsenmakler Piero (Alain Delon) im Sand verlaufen ist, zeigt der Film sieben Minuten lang Schauplätze des Stadtteils, in dem sich die beiden bevorzugt getroffen haben. Zu sehen sind Straßen, Winkel, Fassaden und Plätze – wie zufällig ausgewählte Blicke auf Stationen, die nicht länger Orte eines gemeinsamen Lebens sind. Mit dokumentarischem Gestus verweilt der Film bei abnehmendem Tageslicht im eigenen Raum, dem der Magnetismus der Anziehung zwischen Vittoria und Piero entzogen ist. Keinerlei Stimmen sind zu hören, nur verstreute Geräusche der weitgehend menschenleeren Vorstadt. Diese visuelle Arie auf eine verlorene Liebe wird begleitet von einer statisch-retardierenden, am Ende aber, als die Nacht hereingebrochen ist, in eine expressive Geste mündenden Orchestermusik (Giovanni Fusco). Nachdem die Räume der Geschichte des Films durchquert sind, bleibt nur noch nachhallender Raumklang übrig.«9

Věra Chytilová nimmt eine Position zwischen der Objektwelt Antonionis und der subjektivierten Haltung Malles ein. DIE DECKE erzielt, indem die Emotionen Martas sich nicht ganz eindeutig erkennen lassen, eine abstrakte Qualität. Der dem Streifzug durch die Nacht vorangegangene Blick auf eine Decke signalisiert, dass es sich bei der nächtlichen Odyssee entlang von Schaufenstern und Boutiquen anscheinend um die Grenzen handelt, an die Marta in ihrer Entfremdung stößt. Die Bildkomposition zieht Parallelen zwischen ausgestellten Schaufensterpuppen und Martas fremdbestimmtem Rollenverhalten. Ihr Gesicht wird im Halbschatten gezeigt und ihr Gang durch eine symmetrische Baumallee impliziert einen Übergangsritus. Im Zusammenspiel mit Jan Klusáks experimenteller Musik deutet Chytilová wie bei Louis Malle subjektive Zustände an, formuliert diese jedoch nicht eindeutig aus. Durch diese bewusste Ambivalenz nähert sie sich Antonionis Blick auf die urbane Moderne an. Chytilová und ihr Kameramann Jaromir Sofr folgen bei den Aufnahmen ohne feste Vorgaben der Darstellerin Marta Kanovská durch die Stadt. Zufällig eingefangene Impressionen wie ein Schweißer, der Schienen repariert, verleihen den Szenen eine ganz eigene poetische Qualität, die über die ernüchternde und beklemmende Präsentation der Bilder bei Antonioni hinaus verweist und eine neue Offenheit in der Deutung ermöglicht.

Im Unterschied zu L’ÉCLISSE gibt es in DIE DECKE aufgrund der Präsenz von Marta nach wie vor eine Handlungsträgerin. Wie in ihren späteren Arbeiten, insbesondere in den kreativen Destruktionsorgien von TAUSENDSCHÖNCHEN, gibt Chytilová keine Wertung vor. Im Niemandsland zwischen Dokumentation und Spielfilm werden die von DIE DECKE aufgeworfenen Fragen auf ästhetisch anregende Weise ganz im Sinne der Moderne an das Publikum delegiert. Anstelle des vereinfachenden, von den Kritikern des Drehbuchs vorgesehenen Gesinnungswandels, wird Marta von den Zwängen einer überdidaktischen Erzählung befreit und in eine ungewisse Zukunft entlassen.

Die Rebellion gegen narrative Schemata in den frühen Filmen der Nová Vlna lässt sich nicht nur als Paradigmenwechsel in der filmischen Haltung gegenüber dem Realen verstehen. Statt die Antworten durch eine konventionelle Handlung und ein ästhetisches Programm, sei es der Sozialistische Realismus oder die Tradition der Qualität, bereits vorzugeben, sollen vielmehr mit einer gewissen Neugier und einem ausgeprägten Bewusstsein für filmische Formen neue Fragen an die Wirklichkeit und die Kunst formuliert werden. Dazu gehört auch, dass Außenseiter*innen und ausgegrenzte Lebenswirklichkeiten in den Blick genommen werden, ohne ihnen gleich ein Umerziehungsprogramm zu verordnen.

In ihrem zweiten semi-dokumentarischen Kurzfilm EIN SACK VOLLER FLÖHE kombiniert Věra Chytilová, nachdem sie in DIE DECKE die Grenzen des Dokumentarischen zum reflexiven abstrakten Essay-Film ausgelotet hat, die Einflüsse des Cinéma vérité mit einer als Spielfilm umgesetzten Reportage.

II. EIN SACK VOLLER FLÖHE – Der integrierte Zufall möglicherweise

Gemeinsam mit einer Gruppe von Laiendarsteller*innen, die sie aus einem Internat bei den Textilfabriken von Náchod rekrutiert hatte, realisiert Věra Chytilová 1963 EIN SACK VOLLER FLÖHE. Das gleiche Umfeld erkundet auch ihr Kollege Miloš Forman zwei Jahre später mit seiner Tragikomödie LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY (DIE LIEBE EINER BLONDINE, 1965). Doch Chytilová interessiert nicht unbedingt das Ungleichgewicht zwischen einer Überzahl an Fabrikarbeiterinnen und ihren männlichen Kollegen, das Forman für eines der absurdesten Blind Dates der jüngeren Filmgeschichte nutzt. Stattdessen rückt sie die jungen Auszubildenden selbst in den Mittelpunkt und improvisiert gemeinsam mit ihnen nach vagen Vorgaben die Handlung des Films.

Die langen Vorarbeiten und Recherchen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen in Náchod rücken EIN SACK VOLLER FLÖHE in die Nähe einer Reportage. Die Unmittelbarkeit des Direct Cinema und die teilnehmende Beobachtung des Cinéma vérité wird in EIN SACK VOLLER FLÖHE um eine subjektive Perspektive erweitert, die sich bei genauerer Betrachtung als fiktionale Intervention erweist. Die subjektive Kamera übernimmt die Sicht der neuen Schülerin Eva.

Durch die raffinierte stilistische Volte, die Kamera selbst zur Mitspielerin innerhalb der Diegese zu erklären, vermeidet Chytilová die Haltung einer distanzierten Beobachterin, wie sie von einer Reportage zu erwarten wäre. Die zahlreichen Großaufnahmen und die direkte, vertrauensvolle Ansprache der Mitschülerin Eva, deren subjektive Sicht die Kamera einnimmt, erzeugt Intimität. Stellenweise, wenn die Mädchen im Schlafsaal Cowboy und Indianer spielen, sich eine eingeschmuggelte Zigarette teilen oder sich gegenseitig Streiche spielen, erinnert das Szenario ein wenig an die um eine ehrliche und aufrichtigere Darstellung bemühten Kinderporträts von François Truffaut. Doch im Unterschied zum engagierten Humanismus des stilprägenden Nouvelle-Vague-Vertreters überlässt Chytilová die Beurteilung des Geschehens dem Publikum. Zwar baut die rebellische Jana, die am Ende des Films ihr Verhalten vor einer Betriebsversammlung rechtfertigen muss, ein Vertrauensverhältnis zu Eva und somit auch zur Kamera auf, doch die stille und offenbar schüchterne Protagonistin, deren Blick die subjektive Kamera einnimmt, bleibt weiterhin passiv. Gelegentlich erinnert das Szenario an die Wahrnehmung, wie sie heute für Computerspiel-Adventures aus der First-Person-Perspektive charakteristisch ist.


Die Laiendarsteller*innen während der Dreharbeiten zu EIN SACK VOLLER FLÖHE, Ausschnitte mit einem Off-Kommentar von Věra Chytilová aus GOLDENE SECHZIGER: VĚRA CHYTILOVÁ, DIE REGISSEURIN von Martin Šulík

Durch die inszenierte und involvierte teilnehmende Beobachtung, die zugleich eine fiktionale Rolle innerhalb der improvisierten Handlung markiert, findet Chytilová eine ebenso beachtliche wie aufregende Lösung für den Einsatz der subjektiven Kamera als erzählerische Instanz im Film. Allzu oft erscheinen derartige Versuche konstruiert, wenn nicht gar schwerfällig bis irritierend. Das Problem wiederholt sich durch die gesamte Filmgeschichte, von Robert Montgomerys LADY IN THE LAKE (DIE DAME IM SEE, 1947), der durchgehend aus der subjektiven Sicht des ermittelnden Detektivs Philip Marlowe visuell präsentiert wird und aufgrund der Langsamkeit der schweren Kamera wie ein Hardboiled-Ermittler auf Valium erscheint, bis hin zur russischen Videospiel-Actionfilm-Variation HARDCORE (2015), die im Rahmen eines Kurzfilms überzeugend wäre, aber nicht einen gesamten Spielfilm trägt. Die Kamera als Medium des Erzählens in der ersten Person funktioniert in der Regel nur, wenn sie wie in THE BLAIR WITCH PROJECT (1999) oder CLOVERFIELD (2008) innerhalb der Diegese auch an die Perspektive eines Aufzeichnungsgeräts gekoppelt ist.

Dass entgegen zahlreicher anderer gescheiterter Versuche innerhalb der Filmgeschichte die subjektive Kamera in Zusammenspiel mit der Montage in EIN SACK VOLLER FLÖHE als Erzählinstanz überzeugt, hängt mit der Integration dokumentarischer Cinéma-vérité-Konventionen zusammen, die auch in den meisten Found-Footage-Horrorfilmen in Nachfolge des BLAIR WITCH PROJECT bemüht werden.

Im Unterschied zum verlangsamten, artifiziell anmutenden Schauspiel in Filmen wie DIE DAME IM SEE bezieht Chytilová die kreativen Möglichkeiten des Zufalls in ihre Inszenierung mit ein. Später erklärte sie in einem Gespräch über die Dreharbeiten: »Weil wir aber jede Passage nur einmal drehen wollten, musste ich entweder vorher alles bis ins Detail mit dem Kameramann abgesprochen haben oder mich voll und ganz auf den mir so sympathischen Zufall verlassen.«10

Als einen Sack voller Flöhe, auf den der Titel des Films anspielt, bezeichnet einer der Aufseher während einer Tanzveranstaltung in einer der letzten Szenen die porträtierten Jugendlichen. Chytilová betrachtete es als wichtiges Anliegen, den jungen (Selbst-)Darsteller*innen ihre eigene Sprache zu lassen. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu den immer ein wenig belehrend anmutenden Reflexionen des Cinéma vérité. Nicht die Filmemacherin setzt sich mit der Clique um die aufrührerische Jana zusammen, sondern die regelmäßigen Besprechungen mit ihren Vorgesetzten und Erzieher*innen werden in den Film integriert und die Kamera nimmt als mögliche Subjektive von Eva selbst die Position einer Anwesenden ein, die nicht über den Dingen steht, sondern diese lediglich registriert. Entsprechend fielen die ersten Reaktionen der porträtierten Institution und der verantwortlichen Produzenten zuerst empört und skeptisch aus. Es sollte fast ein Jahr dauern, bis EIN SACK VOLLER FLÖHE zur Aufführung gelangte.

Peter Hames bemerkt über das außergewöhnliche Konzept: »Mit EIN SACK VOLLER FLÖHE drehte Chytilová einen der tschechischen Filme, die dem Direct Cinema und dem Cinéma vérité am nächsten kommen. Dennoch befindet er sich, trotz der oberflächlichen Gemeinsamkeiten, weit von einer Dokumentation entfernt […]. Die Besetzung des Films besteht vollständig aus Laiendarstellern, die ihre eigene Wirklichkeit und ihre eigenen Erfahrungen auf die Leinwand brachten.«11 Hames weist außerdem darauf hin, dass sich der Einsatz von Bild und Ton mit den kreativen Zielen der Regisseurin unmittelbar ergänzt. Die teilnehmende Beobachtung, die sich in eine Performance verwandelt, war ihrer Zeit weit voraus. Bulgakowa weist darauf hin, dass der Film zugleich als künstlerisches Experiment wie als soziologisches Porträt von Jugendlichen funktioniert: »Die Methode der inszenierten Beobachtung eines Menschen, der letztendlich sich selbst spielt, filterte das dramaturgische Situationsschema und hob es mitsamt der authentischen Abbildung auf eine Ebene der Stilisierung.«12 In der Filmgeschichte der frühen 1960er Jahre bildet EIN SACK VOLLER FLÖHE ebenso wie DIE DECKE einen ebenso faszinierenden wie innovativen Ausnahmefall.

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9783967070897
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