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2 Krise in der Pubertät oder psychisch krank?

Gianni Zarotti

Berufsschulpraxis und Psychiatrie

Was hat die Psychiatrie mit dem Praxisalltag einer FiB-Lehrperson zu tun? Was hat dieses Kapitel im Rahmen eines Grundlagenbuches über die fachkundige individuelle Begleitung zu suchen? Bei näherem Hinsehen doch einiges:

›Nicht wenige Jugendliche profitieren z. B. in der Folge einer psychiatrischen Erkrankung von der Möglichkeit eines «Quereinstiegs» in eine berufliche Zukunft. Sie erhalten dadurch eine, in dieser Entwicklungsphase sehr wesentliche, Perspektive im Sinne eines selbstgestalteten Lebens, die Chance, sich zu bewähren und Erfolgserlebnisse zu erfahren.

›Wenn wir Fachpersonen der Psychiatrie einem unserer Patienten oder einer unserer Patientinnen eine zweijährige Grundbildung mit Attest und damit auch eine weiterführende Berufsschule vorschlagen, fragen wir uns immer wieder, wie Lehrmeister (Berufsbildnerinnen/Berufsbildner) und Berufsschullehrpersonen wohl mit möglichen Krisen in der dann anstehenden Entwicklung des jungen Menschen umgehen werden.

›Die Chance eines niederschwelligen Berufseinstiegs steht nicht nur Jugendlichen offen, deren kognitive Fähigkeiten heilpädagogischer Förderung bedürfen, sondern auch solchen, deren Ressourcen durch psychische Problemstellungen wie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite (ADS/ADHD), internalisierende (Depression, Selbstverletzungen etc.) und externalisierende (Verhaltensauffälligkeiten, Dissozialität) Störungen sowie Psychosen etc. eingeschränkt waren und sind.

Im Rahmen all dieser Problemfelder stellt sich für FiB-Berufsschullehrkräfte immer wieder die Frage nach Normalität oder Pathologie, nach Auffälligkeiten, denen besondere Beachtung (welche Beachtung?) geschenkt werden sollte, und den Möglichkeiten und vor allem den Grenzen eigener Interventionen.

Einen vertiefenden Überblick über mögliche psychische Störungen des Jugendalters zu geben, würde den Rahmen dieses Grundlagenbuches bei Weitem sprengen. Ich werde mich daher im Folgenden darauf beschränken, einige wesentliche Gegebenheiten dieses Problemfeldes und mögliche Ansatz- und Interventionsmöglichkeiten an einer Berufsschule zu skizzieren. Eine Grundlage hierfür stellen die Erfahrungen dar, die ich anlässlich eines ersten Kursmoduls für FiB-Lehrkräfte sammeln konnte.

Adoleszenz

Lernende an Berufsfachschulen gehören in aller Regel zur Altersgruppe der 16- bis 22-Jährigen und sind damit noch Adoleszente. Sie befinden sich also in der wohl anspruchsvollsten Phase ihrer psychischen Entwicklung. In dieser Zeit geht es um

›die Entwicklung neuer und reiferer Beziehungen mit Gleichaltrigen beider Geschlechter

›den Erwerb einer maskulinen oder femininen sozialen Rolle

›die Aufnahme und den Aufbau intimer Beziehungen

›die Entwicklung einer eigenen Identität, eigenen Persönlichkeit, insbes. Selbstständigkeit, Selbstsicherheit, Selbstkontrolle

›den Aufbau einer Zukunftsperspektive (Berufswahl, -ausbildung, ökonomische Un­abhängigkeit etc.)

›den Aufbau sozialer Kompetenzen, insbesondere Toleranz, Abbau von Vorurteilen, Konfliktlösungskompetenzen

›ein Verständnis für komplexe Zusammenhänge in Politik und Wirtschaft zu entwickeln

Hinzu kommen fundamentale Veränderungen der Körperlichkeit und der Denkprozesse. All diese Anforderungen fallen nun noch in eine Zeit sozialer Neuorientierung, weg aus der relativen Geborgenheit des Elternhauses und der Grundschule, hinein in ein häufig als fremd, bedrohlich und destabilisierend empfundenes Berufsleben. Kompliziert kann das Ganze noch dadurch werden, dass die Neuverschaltung von Prozessen im Gehirn Monate bis Jahre in Anspruch nimmt und während dieser Zeit ein Zustand eintritt, den man «Programmierte Verrücktheit» (Strauch 2003) nennen könnte. Dabei beobachten wir bei vielen Jugendlichen stammhirngesteuertes Erleben und Handeln als Diskrepanz zu teilweise sehr guten Intelligenzleistungen (Computer, Mathematik etc.), mangelnde Über-Ich-Ausrüstung (Wertevorstellungen im Fluss), mangelnde Frustrationstoleranz, gesteigertes Risikoverhalten (siehe oben), Selbstwertkonflikte, Versorgungskonflikte und Identitätskonflikte.

Dass die psychische Entwicklung in dieser Sturm- und Drangphase durch ein in irgendeiner Form ungenügendes Fundament beeinträchtigt wird und ein junger Mensch aus der Bahn geworfen werden kann, ist relativ zwanglos vorstellbar: Angeborene (z. B. genetische Belastung) oder erworbene (Umweltfaktoren) Dünnhäutigkeit (Vulnerabilität) kann unter all diesen Anforderungen und Belastungen zur Entstehung von schwereren psychischen Störungen und einem Stillstand der Entwicklung führen. Ungenügende Bewältigung früherer Entwicklungsphasen z. B. infolge Vernachlässigung, Traumatisierung, ungenügender Unterstützung oder ungenügender eigener Ressourcen können die Entwicklung erschweren.

Psychiatrische Störungen

Die Adoleszenz stellt eine Entwicklungsphase dar, während welcher der Mensch besonders anfällig für psychiatrische Störungen ist. Allerdings ist die Grenze zwischen «normal» und «pathologisch» äusserst fliessend und schwierig, klar zu definieren. So können z. B. Selbstverletzungen Ausdruck einer passageren adoleszentären «Modeerscheinung» sein, aber auch Symptom einer tief greifenden Störung. Suizidgedanken kennen fast alle Jugendlichen im Rahmen von No-future-Anwandlungen, Suizidversuche betreffen jedoch weitaus am häufigsten junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren. Akustische Halluzinationen (Stimmenhören) müssen absolut nicht zwingend auf das Vorliegen einer Psychose hinweisen.

Zudem können völlig verschiedene Symptome Ausdruck der gleichen Ursache sein. Beispielsweise können sich Depressionen wie bei Erwachsenen in depressiven Symptomen wie Melancholie, Erstarrung, vermindertem Appetit, Schlafstörungen und vegetativen Symptomen äussern; dies tritt häufiger bei jungen Frauen auf. Symptombildungen dieser Qualität werden auch als internalisierend (nach innen gerichtet) bezeichnet. Bei jungen Männern häufiger sind jedoch dissoziale Verhaltensauffälligkeiten (externalisierende Symptome) wie trotzige Verweigerung, Lügen, Stehlen, Davonlaufen, häufiger Konsum psychotroper Substanzen wie Marihuana und Alkohol etc. Solche dissozialen Verhaltensauffälligkeiten können jedoch auch, wie oben beschrieben, im Rahmen «normaler» Adoleszenzentwicklung passager auftreten oder aber alle möglichen psychiatrischen Erkrankungen überlagern.

Vor diesem Hintergrund bringt häufig nur eine psychiatrische Abklärung Klarheit über das Vorliegen einer psychischen Störung. Eine solche Abklärung gestaltet sich in der Regel recht aufwendig. Sie umfasst eine psychiatrische Befunderhebung beim Patienten, eine eingehende Erhebung der Biografie des Patienten bei ihm selbst, bei den Eltern, der Schule, dem Lehrbetrieb etc., eingehende somatische Untersuchung, ggf. ergänzt durch bildgebende Verfahren (MRI, EEG, EKG etc.), Abklärung der aktuellen Lebensumstände, Verlaufs- und Verhaltensbeobachtung während einiger Zeit, psychologische Testung (Leistungstests sowie Persönlichkeits- und Störungsdiagnostik und ggf. projektive Verfahren), Feststellung von Familienstruktur, -kommunikation und -dynamik.

Die einzelnen jugendpsychiatrischen Krankheitsbilder und Syndrome sind unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte und möglicher Interventionsansätze gut, verständlich, anschaulich und recht vollständig bei Rotthaus und Trapmann (2004) (siehe Literaturverzeichnis) in deren Handbuch für Eltern und Erzieher beschrieben.

Einige ausgewählte Verhaltensauffälligkeiten, die Ihre Aufmerksamkeit verdienen

Suizidalität, Suiziddrohungen

Die Hintergründe, vor denen sich Suizidalität entwickeln kann, sind sehr vielfältig. «Wirkliche», manifeste Suizidalität, die in einen vollzogenen Suizid mündet, ist in dieser Altersgruppe glücklicherweise eher selten. Trotzdem muss Suizidalität immer ernst genommen, müssen die Hintergründe erörtert und Belastungen angegangen werden. Die Beurteilung der Schwere und Ernsthaftigkeit der Suizidalität und der Ursachen ist immer Sache einer psychiatrischen Fachperson, da es schwierig ist und grosser klinischer Erfahrung bedarf, das Risiko abzuschätzen.

›Hilferuf, auf sich aufmerksam machen. Äusserungen wie: «wenn es mich dann noch gibt», «ihr werdet dann schon noch sehen» oder «es lohnt sich doch nicht mehr», können auf diese Form der Suizidalität hinweisen.

›Nachahmung ist ein wichtiges Motiv für Suizidüberlegungen bei Jugendlichen. Beispielsweise die Feststellung von hoch emotionalen Reaktionen des Umfeldes auf Suizide von anderen kann, wenn auch völlig paradox, den Wunsch beflügeln, gleiches zu erleben. Die Problematik des Nachahmungseffekts macht auch Präventionsmassnahmen äusserst schwierig.

›Frühere Suizidversuche senken die Hemmschwelle für erneute Versuche. Jede Abklärung des Suizidrisikos muss daher die Frage nach früheren Versuchen enthalten.

›Suizid in der Familie und/oder der näheren Umgebung. Hier entsteht einerseits ein Nachahmungseffekt, andererseits besteht in gewissen Familien eine eigentliche «Kultur der Suiziddrohung» zur Durchsetzung von Ansprüchen. Diese werden von Jugendlichen manchmal über identifikatorische Prozesse übernommen.

›Akute Affektreaktion. Das Risiko eines manifesten Suizids ist für diese letzten drei Ursachen nur sehr schwer und wenn überhaupt, nur von Fachpersonen abzuschätzen. Vor allem Menschen, die an einer Psychose (auch Depression auf psychotischem Niveau) leiden, können ohne jegliche Signale, wie aus heiterem Himmel, Suizid begehen.

›Schwere depressive Krise, depressive Entwicklung.

›Psychotische Zustandsbilder.

Einige wesentliche Punkte, welche die Vorgehensweise bei Suizidalität leiten sollten:

1.Offenes Ansprechen auf Suizidgedanken (Entlastung durch Verbalisierung)

2.Akzeptieren der Patienten (Stützung des Selbstwertgefühls)

3.Angstfreies Benennen der Suizidgedanken nach Art und Intensität (Distanzierungshilfe)

4.Einbringen der eigenen Person des Therapeuten Empathisches Verstehen (keine Wertung)

Stellvertretende Hoffnung

5.Besprechung von Hilfs- und Therapiemöglichkeiten (Anregung zur Kooperation)

6.Festlegen der nächsten Zeitstrecke mit Kontaktvereinbarung (Brückenschlag)

7.Erfragen und Benennen persönlicher Bezugspersonen (Bindung an Begleitpartner/innen)

8.Absprache über Notrufmöglichkeiten in akuten Krisen (Krisenbewältigung)

Für FiB -Lehrpersonen ist es äusserst ratsam, spätestens bei Punkt 5 eine psychiatrische Fachperson beizuziehen.

Bei weitgehendem Versagen oder Fehlen eines sozialen Netzes und fehlender Vertrags-/Absprachefähigkeit und/oder mangelnder emotionaler Schwingungsfähigkeit muss eine stationäre Aufnahme erfolgen.

Schwere psychiatrische Krisen (z. B. Psychosen) mit schleichendem Beginn

Mehr oder minder schleichende Veränderungen bei vorher unauffälligen Jugendlichen, die ohne ersichtliche äussere Ursachen auftreten (Liebeskummer, Prüfungsversagen, Verlust wichtiger Bezugspersonen durch Tod, Trennung etc.), sollten unbedingt ernst genommen werden:

›Leistungseinbruch in der Schule, Lehre, Schulverweigerung ohne erkennbare Ursachen

›Abrupte Veränderung im Freundeskreis (Peer-Group)

›Veränderung in den sozialen Bezügen, zum Beispiel

›Rückzug aus vorher geliebter Sportaktivität

›Rückzug in (häufig) abgedunkeltes Zimmer, Tag-Nacht-Umkehr

›Aufgabe von geliebten Hobbys

›Verlust der Impulskontrolle, unvermittelte Wut- und Gewaltausbrüche gegen Personen (Eltern, Geschwister etc.) oder Gegenstände (Zerstörungswut)

›Veränderungen des Äusseren, der Körperlichkeit, Reinlichkeit etc.

›Maniriertes (gekünsteltes), umtriebiges oder gleichgültig-apathisches Auftreten etc.

Bei anhaltenden Veränderungen dieser Art sollte dringend eine psychiatrische Abklärung erwogen werden.

Selbstverletzungen

Diese sind vor allem bei jungen Frauen recht häufig anzutreffen. Allerdings handelt es sich dabei längst nicht immer um den Ausdruck einer schweren, tief greifenden Störung:

›Nachahmung, so sein wie die anderen

›Entspannung, Affektabfuhr, Erleichterung

›Trost bei starker Trauer, Leere, Einsamkeitsgefühlen

›Appell, Inszenierung, (Pseudo-)Autonomie, Symbolhandlung

›Selbstbestrafung bei Versagensgefühlen, Selbsthass etc.

›Kommunikationsregulation bei fehlender Mentalisierungsfähigkeit

›Suizidprophylaxe (Parasuizid bei Borderline-Persönlichkeit)

›Antidissoziativum (Freisetzung von Endorphinen)

›Antipsychotikum (Depersonalisations-/Derealisationserleben)

›Betäubungsmittel (extreme Anspannung, Erregung, Hyperarousal)

In den weitaus meisten Fällen handelt es sich dabei um eine Form der Affektabfuhr, d. h. Affekte, die anders nicht geäussert werden können, werden über Selbstverletzungen wie Ritzen oder Schneiden (meist am linken Unterarm) «entsorgt», worauf unmittelbar Erleichterung eintritt. Das Problem dieser Verhaltensweise ist vor allem deren Tendenz, sich zu einem Suchtverhalten zu entwickeln. Daher sollte sie nicht dramatisiert, aber doch ernst genommen werden. Ist es der betroffenen Person nicht möglich, ihr Verhalten im Rahmen von Gesprächen mit wichtigen Bezugspersonen zu ändern, sollte auch hier eine psychiatrische Abklärung erwogen werden.

Die Rolle der Berufsschullehrperson FiB

Diese ist, wie wir im «Psychiatrie»-Modul des ersten Kurses für FiB-Lehrpersonen in Zürich festgestellt haben, eine schwierige. Sie sollten bei in der Regel wenigen Wochenstunden Klassenkontakt Lehrer/in, Begleiter/in, Nothelfer/in, Coach etc. sein. Sie sollten den Kontakt zu jedem und jeder Einzelnen ihrer Lernenden aufbauen und halten, sie beobachten, betreuen, verstehen, anleiten, korrigieren und so weiter. Hier könnten einige Verhaltenstipps weiterhelfen, die sich im Kurs herauskristallisiert haben:

›Versuchen Sie, sich Ihrer Rolle bewusst zu sein! Mit mehreren Hüten auf dem Kopf können Sie keinem wirklich gerecht werden. Beschränken Sie sich auf eine Rolle, in der Sie sich sicher fühlen, die Sie auch wirklich gut wahrnehmen können.

›Vernetzen Sie sich! Gerade im Umgang mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit psychischen Problemen kommen Sie im Alleingang rasch an Ihre Grenzen. Tauschen Sie sich mit Kolleginnen und Kollegen aus und suchen Sie Unterstützung bei anderen Fachpersonen. Es existieren überall schulpsychologische Dienste, kinder- und jugendpsychiatrische (bis zum 18. Lebensjahr) und erwachsenenpsychiatrische Dienste. Nehmen Sie diese Dienste in Anspruch. Schulsozialarbeiter/innen oder Jugendberatungen/Jugendsekretariate haben oft gute Ideen und entsprechendes Know-how, wenn es um die Lösung schwieriger und/oder verfahren erscheinender Situationen geht.

›Beziehen Sie den Lehrbetrieb und die Eltern (gesetzlichen Vertreter) ein! Der Einbezug des Lehrbetriebs in Ihre Bemühungen kann, wenn es einerseits z. B. um Entlastungsmöglichkeiten, andererseits den Aufbau eines gewissen Drucks in Richtung Veränderungsansätze geht, sehr hilfreich sein. Viel weniger selbstverständlich ist im Bereich Berufsfachschule eine intensive Zusammenarbeit mit den Eltern, obwohl die meisten Lernenden noch zu Hause leben und die Eltern häufig auch von Verhaltensschwierigkeiten ihrer lernenden Sprösslinge betroffen sind. Ein wesentlicher Grundsatz in der kinder- und jugendpsychiatrischen Arbeit lautet: Ohne die Eltern geht gar nichts! Beziehen Sie die Eltern, bei jungen Erwachsenen über 18 Jahren mit deren Einwilligung, möglichst in Ihre Bemühungen ein, übergeben Sie ihnen Verantwortung und besprechen Sie Massnahmen immer mit den Lernenden und deren Eltern.

›Bemühen Sie sich um Gelassenheit! Vermeiden Sie Machtkämpfe! Dies ist kein Aufruf zu einer Laisser-faire-Haltung. Aber nicht jede Provokation, jede Verweigerung, jedes trotzige Verhalten erfordert unmittelbare Intervention. Einerseits richten sich Verhaltensauffälligkeiten längst nicht immer direkt gegen Sie. Gerade bei psychisch angeschlagenen Jugendlichen werden Sie sich häufig in einer Übertragungsbeziehung finden, d. h. Sie werden vom Jugendlichen in der Rolle einer Person gesehen, mit der er/sie in seinem früheren Leben irgendwelche Schwierigkeiten hatte. Andererseits befinden Sie sich gegenüber Adoleszenten in der Rolle des erwachsenen Sparringpartners, der Grenzen setzt, sich aber auch als (ausserfamiliäre) Identifikationsfigur anbietet.

›Beobachten Sie genau! Interessieren Sie sich wenn immer möglich auch für emotionale Zustände und ggf. ausserschulische Probleme Ihrer Lernenden! Schulleistungseinbrüche, Absenzen, Veränderungen in Sprache, Ausdruck, allgemeinem Auftreten, Sozialverhalten etc. ohne erkennbaren äusseren Anlass können – wie oben beschrieben – Anzeichen für schwerwiegende psychische Probleme sein.

›Bemühen Sie sich um eine offene, klare, direkte Kommunikation! Im Austausch mit Jugendlichen, gerade psychisch auffälligen Jugendlichen, ist es immer wieder überaus wichtig, Problemstellungen so direkt, offen und ungeschminkt wie möglich anzusprechen und keinesfalls zu versuchen, ein X für ein U vorzumachen oder die Dinge unter den Teppich zu kehren. Viele betroffene Jugendliche sind von ihrer Situation überfordert und nicht in der Lage, diese in Worte zu fassen. Hier kann klare, unmissverständliche Kommunikation entlastend wirken.

›Vermeiden Sie Situationen, die Ihnen Angst machen! Angst ist im Umgang mit psychisch auffälligen Jugendlichen äusserst problematisch, da sie, in der Regel selbst in Angst und Panik aufgrund der für sie oft unerklärlichen Vorgänge in ihrer Psyche, mit Verzweiflung und gelegentlich Aggressionen auf Ängste in ihrer Umgebung reagieren. Versuchen Sie deshalb nicht, die Ängste einfach auszuhalten, sondern ziehen Sie andere Fachpersonen bei oder geben Sie den Fall an jemanden ab, der dem Jugendlichen angstfrei gegenübertreten kann. Dies ist kein Zeichen der Schwäche, sondern der Professionalität.

›Nehmen Sie Supervision in Anspruch! Besprechen Sie Ihre Fälle regelmässig mit einer Fachperson, die Sie beraten und Sie dabei unterstützen kann, Ihre Interventionen zu überdenken und ggf. zu verbessern und zu erweitern.

Ein Fallbeispiel zum Schluss

Anhand eines Fallbeispiels, das eine Teilnehmerin des ersten Kurses für FiB-Lehrpersonen in Zürich beigesteuert hat, möchte ich zum Schluss einige Elemente des bisher Gesagten illustrieren:

Der 16-jährige Joël O. beschäftigt sich seit Beginn der Lehre (er ist im 1. Lehrjahr als Schreinerpraktiker) in der Freizeit praktisch ausschliesslich und viele Stunden lang intensiv mit Computerspielen im Internet (W.O.W.). Sowohl in der Berufsfachschule als auch in der Lehrwerkstatt fällt er durch Antriebslosigkeit, Müdigkeit und Desinteresse auf. Der Berufsbegleiter hat bereits nach einigen Wochen mit ihm eine Vereinbarung abgeschlossen, die den Computerkonsum einschränken soll – bisher leider ohne Erfolg. Die Eltern konnten sich offenbar gegenüber ihrem Sohn auch nicht durchsetzen. In der Weiterbildung haben wir erarbeitet, dass es sinnvoll sein könnte, das Gespräch mit den Eltern zu suchen und zu einer sozialpädagogischen Familienbegleitung zu raten. In der Folge habe ich gemeinsam mit dem Berufsbegleiter die Eltern zu einem Gespräch eingeladen und klar darauf aufmerksam gemacht, dass sie dringend etwas unternehmen müssten, und sie auf die Möglichkeit professioneller Unterstützung hingewiesen. Bereits in der Folgewoche berichtete mir der Lernende, dass die Familie einen Termin bei der Jugendberatung habe. Die Familie hat seitdem regelmässig einen Jugendberater besucht und den PC-Konsum von Joël etwas eingeschränkt. Obwohl die ganze Geschichte noch nicht zu Ende ist und offenbleibt, ob es Joël und seine Familie schaffen, hat es mir erst dieser klar formulierte Ratschlag möglich gemacht, mich so massiv einzumischen. Andernfalls hätten der Lehrmeister und ich viel länger zugewartet und versucht, mit dem Lernenden allein Vereinbarungen zu treffen oder halt mit seiner «Sucht» zu leben.

Zum Beispiel ...

Geschichten aus der Praxis

Auf und davon

Montag, 5. Januar

Ich erhalte eine Mail, in dem mir K. mitteilt, dass er krank sei und am Dienstag nicht zur Schule kommen werde.

Dienstag, 13. Januar

K. erscheint nicht in der Schule. Ich finde es zwar seltsam, dass er sich nicht abgemeldet hat, nehme aber an, dass er immer noch krank sei. Da es sich um etwas Ernsteres handeln muss, nehme ich mir vor, ihn anzurufen, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Doch bevor ich überhaupt die Gelegenheit habe, K. anzurufen, klingelt das Telefon. Es ist der Berufsbildner von K., der sich Sorgen macht, weil K. noch immer nicht im Geschäft erschienen ist. Er war davon ausgegangen, dass K. am Morgen in der Schule war. Unsere Bemühungen, K. oder dessen Eltern zu erreichen, sind erfolglos. Uns bleibt daher nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Gegen Abend erreiche ich endlich die Mutter von K. Sie fällt aus allen Wolken, als sie erfährt, dass K. weder in der Schule noch im Geschäft aufgetaucht ist. Sie hat keine Ahnung, wo K. sein könnte, und macht sich grosse Sorgen. Sie verspricht, sich bei mir zu melden, sobald sie mehr weiss.

Mittwoch, 14. Januar

Ich erfahre vom Berufsbildner, dass K. einen Brief hinterlassen hat, in dem er schreibt, dass er nicht in diese Welt gehöre und auf dem Weg nach Italien sei. Niemand hatte so etwas geahnt, niemand weiss, wie es weitergeht, und alle machen sich grosse Sorgen.

Donnerstag, 15. Januar

Es ist ungefähr sieben Uhr. Wie immer checke ich meine Mails und bin nicht wenig überrascht, als ich eine Mail von K. in meinem Posteingang entdecke. Leicht nervös öffne ich das Mail und lese mit grosser Erleichterung, dass es K. gut geht und er nächste Woche die Schule wieder besuchen will. Ich werde sicher mein Möglichstes tun, K. zu helfen, sein Vorhaben umzusetzen.

Mirjam Mory-Heiniger

Literaturübersicht

Obligatorische Literatur

–Rotthaus W., Trapmann H. (2004): Auffälliges Verhalten im Jugendalter, Handbuch für Eltern und Erzieher – Band 2. Dortmund: Verlag Modernes Lernen.

–Omer H., Von Schlippe A. (2004): Autorität durch Beziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

–Höhener K. (2007): SOS in Schulen und ihrem Umfeld. Zürich: Verlag Pestalozzianum.

–Eschelmüller M. (2007): Lerncoaching im Unterricht. Bern: Schulverlag blmv AG.

Empfohlene weiterführende Literatur

–Flammer A., Alsaker D. (2002): Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Bern: Verlag Hans Huber.

–Müller A. (2006): Eigentlich wäre Lernen geil. Bern: hep verlag ag.

–Durrant M. (1999): Auf die Stärken kannst du bauen. Dortmund:Verlag Modernes Lernen.

–Adam A., Peters M. (2003): Störungen der Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

–Jegge J. (2007): Die Krümmung der Gurke. Menschen – nicht stapelbar. Bern: Zytglogge.

–Rotthaus W. (2007): Wozu erziehen? Entwurf einer systemischen Erziehung. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.

–Fröhlich-Gildhoff K. (2007): Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten. Stuttgart: Kohlhammer.


Gianni Zarotti, Dr. med., emeritiert, ehem. Leitender Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Bern, 3063 Ittigen/BE.

Verschiedene Lehren (Elektromechaniker, kfm. Angestellter) gescheitert, Zürcher Handelsmatura und Eidgenössische Matura Typ D auf dem zweiten Bildungsweg (AKAD), Studium der Humanmedizin in Zürich, nach Weiterbildung in verschiedenen psychiatrischen Kliniken und psychotherapeutischer Ausbildung in psychoanalytischer Psychotherapie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Aufbau des Heroinerhaltungsprogramms in Zürich, mehrjährige Tätigkeit als Leitender Arzt und Stv. Chefarzt der Klinik Littenheid und Aufbau des dortigen Jugendbereichs, seit 1999 an der Klinik in Bern. Viele Jahre Lehrtätigkeit an psychiatrischen Pflegefachschulen, Lehraufträge für verschiedene Fachhochschulen im Bereich Pflege und Sozialpädagogik.

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