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1.2 Was hat sich verändert?

Die deutsche Gesundheitsversorgung befindet sich als System an einem wahrhaften „Tipping Point“. Es geht um die Transformation von analog zu digital, oder präziser ausgedrückt, von einer Parallelwelt bestehend aus digitalen Inseln und Analogbereichen hin zu einer digital vernetzten medizinischen Versorgung. Einige Bereiche in der Medizin, wie z.B. die diagnostische Bildgebung oder die Labormedizin, haben diese Transformation bereits vor Jahren vollzogen. Auch gehören Verwaltungssysteme bereits seit geraumer Zeit zum Alltag in Arztpraxen und Apotheken. Ohne sie wären Abrechnung und Materialverwaltung gar nicht mehr vorstellbar. Und selbstverständlich nutzen auch Krankenhäuser digitale Instrumente für Leistungsdokumentation und deren Abrechnung.

Und warum jetzt ein „Tipping Point“? Der entscheidende Unterschied liegt in der Einbeziehung der eigentlichen medizinischen Versorgung in den Fokus der Digitalisierung. Nicht mehr Abrechnungsfragen, sondern Diagnostik und Therapie bestimmen die Ausrichtung digitaler Strategien. Dies erfordert eine zunächst ungewohnte Orientierung am Patienten und seiner Reise durch das Gesundheitssystem, also der sog. Patienten-Journey. Diese erstreckt sich über alle Versorgungssektoren von der Prävention über Diagnostik und Therapie bis zur Rehabilitation.

1.3 Warum jetzt?

Gefühlt ist „digital“ geradezu über Nacht zum Synonym von „systemrelevant“ und „innovativ“ geworden. In Wahrheit aber hat eine ganze Reihe von eher langfristigen Entwicklungen dazu beigetragen, diesen Tipping-Point ausgerechnet jetzt entstehen zu lassen.

Angetrieben wird die vermehrte Nutzung digitaler Technologien durch drei zentrale Trends, die ihren Ursprung in den Bedürfnissen bzw. dem Empfinden der Menschen selbst haben:

Gestiegene Souveränität der Patient:innen mit dem Bedürfnis nach Transparenz und digitaler Kommunikation gepaart mit dem Wunsch, über eigene medizinische Daten in ihrer Gesamtheit unabhängig vom Entstehungsort und Entstehungszeitpunkt zu verfügen.

Gestiegenes Bedürfnis nach Sicherheit, Bequemlichkeit und Effizienz führt zu verstärkter Nutzung digitaler Versorgungsangebote wie Telekonsilen, Apps auf Rezept, e-AU etc.

Besseres Verständnis der biologischen Lebensgrundlagen (Entschlüsselung des genetischen Codes menschlicher Zellen) als Basis für eine individuell optimierte Diagnostik und Therapie. Die damit einhergehende Datenflut ist die entscheidende Basis der personalisierten Medizin.

Diese Trends aus dem Gesundheitsbereich treffen auf technologische Quantensprünge insbesondere im Bereich der Cloud-Technologien, die Datenspeicherung und Computing in neue Dimensionen geführt haben. Gepaart mit dem ubiquitären Zugang zu Daten über Smartphones erlauben sie einen orts- und zeitunabhängigen Zugriff für alle. Aus dieser Kombination ergab sich das Potenzial einer umfassenden Transformation hin zu einer digital geprägten Medizin, der die Regulatorik in Deutschland lange Zeit hinterherhinkte.

Die Abschaffung des „Fernbehandlungsverbots“ durch den deutschen Ärztetag 2017 war eine erste Zäsur, die digitale Telemedizinanwendungen in Deutschland zunächst einmal legalisierte. Es folgte mit Beginn der ablaufenden Legislatur eine vom Bundesgesundheitsminister Jens Spahn forcierte umfassende Anpassung der regulatorischen Grundlagen zur Unterstützung digitaler Anwendungen in der gesetzlichen Regelversorgung. Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) mit dem Fast Track für die „App auf Rezept“, die Neuausrichtung der gematik, die Ausweitung der Telematikinfrastruktur, die Einführung von SNOMED CT, die Einrichtung eines nationalen Forschungsdatenzentrums sowie die Vorlage des Patientendaten-Schutz-Gesetzes (PDSG) mit seinen Festlegungen zur Ausgestaltung der Cloud-basierten elektronischen Patientenakte (ePA) mit eAU sowie dem digitalen Rezept – so viel Fortschritt und Innovation in 36 Monaten war bis dato gar nicht vorstellbar. Gleichzeitig hat der Gesetzgeber mit klaren Vorgaben zu Formaten und Konventionen die Grundlagen für Vernetzung und Interoperabilität medizinischer Daten gelegt.

Und dann kam Corona – und die damit verbundene Erkenntnis, dass digitale Lösungen für die Bewältigung der Pandemie eine essenzielle Rolle einnehmen. Die Videosprechstunde, bis Anfang 2020 eine eher exotische Ausnahme in der Interaktion zwischen Arzt bzw. Ärztin und Patient:in, wurde auf einmal zur gern genutzten Alternative. Über 100.000 Ärzt:innen kommen inzwischen regelmäßig virtuell in das Wohnzimmer ihrer Patient:innen. So erfolgreich und beliebt ist die Videosprechstunde, dass der Gesetzgeber die Möglichkeiten der telemedizinischen Interaktion vor wenigen Monaten auch auf andere Leistungserbringer wie Hebammen und Physiotherapeut:innen ausgeweitet hat.

Mit der Corona-Pandemie traten auch die digitalen Defizite in deutschen Krankenhäusern deutlich zutage. Die Politik reagierte in Rekordzeit! Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) haben Bund und Länder für die Jahre 2021 bis 2023 zusätzliche Mittel in Höhe von 4,3 Mrd. Euro für die Digitalisierung der Krankenhäuser bereitgestellt. Ausgestattet mit klaren Vorgaben in 10 Handlungsfeldern schafft das KHZG die finanzielle und inhaltliche Grundlage dafür, bestehende digitale Defizite bei den deutschen Krankenhäusern zu beheben. Vom Patientenportal über Unit-Dose-Medikamentierung bis zur Pflegedokumentation: Die Förderrichtlinie kombiniert klare Vorgaben bezüglich Interoperabilität und Datensicherheit mit anwendungsbezogenen Muss-Kriterien. Ergänzt wird der Pflichtkatalog durch „Kann-Kriterien“, die auf weitere Entwicklungspotenziale verweisen. Im Vordergrund steht erfreulicherweise die strukturierte Digitalisierung patientennaher Arbeitsabläufe.


Somit profitiert die Digitalisierung deutscher Krankenhäuser von einem einzigartigen zeitlichen Zusammentreffen von erkennbarem medizinischem Nutzen, artikuliertem Patientenwillen, ausgereiften technologischen Möglichkeiten, notwendigen regulatorischen Anpassungen und befristeter finanzieller Unterstützung. Ganz nach dem Motto: Jetzt oder Nie!

1.4 Gestalten statt gestaltet werden!

Die Voraussetzungen für eine aktive Gestaltung der digitalen Zukunft der Krankenhäuser waren noch nie so umfassend gegeben wie heute. Das Erreichen des Tipping-Point hin zu einer digital geprägten Gesundheitsversorgung in Deutschland muss als Weckruf für alle Manager:innen, Ärzt:innen, Pflegende, und Träger von Krankenhäusern verstanden werden. Dieses Buch unterstützt alle Entscheider:innen und Nutzer: innen bei der Umsetzung der Digitalisierung in allen relevanten Handlungsfeldern. Kurzgefasst, wird in einfacher Sprache die Digitalisierung mit verständlichen Beschreibungen und klaren Aussagen aus einer Welt der IT-Nerds in den Planungs- und Entscheidungsalltag von Manager:innen, Ärzt:innen und Pflegenden überführt. Ein Muss für alle Gestalter:innen, die auch in Zukunft noch Verantwortung für ihr Krankenhaus tragen wollen.

II
Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung im Gesundheitswesen


1
Die Medizin der Zukunft ist datengetrieben

Peter Gocke

Die Digitalisierung hat längst alle beruflichen wie privaten Lebensbereiche erfasst und macht auch vor dem Gesundheitswesen nicht halt. Damit einher geht eine zunehmende Generierung und Aggregierung von Daten, deren Nutzung wir auch persönlich in beiden Bereichen erfahren: Wo in Logistikunternehmen Algorithmen zukünftige Bestellungen immer präziser vorhersagen können, so erleben wir im privaten Umfeld, wie, basierend auf unserem Surfverhalten, konkrete Vorschläge zu Inhalten und Themen in unseren Webbrowsern auftauchen.


Digitalisierung generiert und nutzt Daten.

Die Vorteile, die sich aus einer konsequenten Nutzung von Daten insbesondere für eine bessere Gesundheitsversorgung ergeben können, sind leicht aufzeigbar: ein Algorithmus, der beispielsweise im Krankenhaus kontinuierlich die Nierenwerte von Patienten überprüft, kann dem medizinischen Personal rechtzeitig wertvolle Hinweise auf Befundkonstellationen geben, die einer weiteren Abklärung bedürfen, und damit die medizinische Versorgung von Patient:innen deutlich verbessern. Abbildung 1 zeigt als Beispiel einen Algorithmus, der Nierenfunktionsstörungen (AKI = Acute Kidney Injury) entdecken kann – eine solche AKI findet sich nach Literaturangaben bei 8–22% aller Krankenhauspatient:innen (Khadzhynov et al. 2019) und ist somit ein durchaus relevantes klinisches Ereignis.

Im Prinzip bringt ein solcher Algorithmus nierenärztliches Fachwissen an jedes Krankenbett – und das ist etwas, was die (sofern im Krankenhaus überhaupt verfügbaren) Nierenfachärzte so nie leisten könnten. Im englischen NHS (National Health Service) ist dieser Algorithmus daher sogar landesweit einheitlich zur Implementierung empfohlen (NHS 2021).

Abb. 1 Algorithmus zur Auslösung eines elektronischen Alarms bei AKI (Acute Kidney Injury; NHS 2021)

Der beschriebene Algorithmus ist sehr einfach aufgebaut und stellt nur geringe Anforderungen an die Datenerhebungsqualität, im Prinzip genügen bereits zwei Serum-Kreatinin-Messungen an zwei verschiedenen Tagen, sodass er sich direkt im Laborinformationssystem eines Krankenhauses abbilden lässt – zu regeln ist dann noch der elektronische Alarmierungsweg. Dennoch zeigt sich hier ein Problem, welches die datengetriebene Medizin in Deutschland hat: Algorithmen verlangen nach eindeutigen, qualitativ gesicherten strukturierten Daten. Die Fähigkeit des deutschen Gesundheitswesens, solche hochwertigen klinischen Daten flächendeckend zu generieren und zu verarbeiten, ist im internationalen Vergleich gering ausgeprägt. Vielfach existieren auch innerhalb eines Krankenhauses unterschiedliche Systeme für die Erfassung und Speicherung von Daten, die dann eine gemeinsame Auswertung durch einen Algorithmus verhindern. Ganz zu schweigen davon, dass vielfach Daten nur in Form von PDF-Dateien archiviert werden, die nicht die von Algorithmen benötigten strukturierten Daten in einem genormten Standard enthalten.


Digitale Medizin ist die gemeinsame Nutzung hochwertiger strukturierter Daten in Echtzeit.

Das PDF-Dilemma wird uns noch in einem anderen Zusammenhang beeinträchtigen: Das Gesundheitssystem in Deutschland unternimmt derzeit große Anstrengungen, auf Basis der Telematikinfrastruktur für jede versicherte Person eine elektronische Patientenakte bereitzustellen. In der ersten Ausbaustufe wird diese Akte noch überwiegend PDF-Dokumente und wenige strukturierte Daten enthalten. Eine solche elektronische Akte wird bei manchen Krankheitsbildern schon nach wenigen Jahren eine Vielzahl von Dokumenten enthalten können. Diese in einer Krankenhausambulanz innerhalb der nur kurzen Zeitspanne, die dafür zur Verfügung steht, vollständig erfassen und bewerten zu können wird ohne die Unterstützung von Algorithmen nicht mehr möglich sein. Allein dieser Umstand setzt zwingend voraus, dass auch die elektronische Patientenakte zukünftig mehr strukturierte Daten enthält.

Zwar ist der Weg hier vorgezeichnet, in dem die KBV mit der Definition der sogenannten medizinischen Informationsobjekte (MIO) beauftragt ist, welche im Prinzip die erforderlichen strukturierten Datensätze enthalten. Im ersten Schritt im Jahr 2022 werden diese aber nur der elektronische Mutterpass, der elektronische Impfpass, das elektronische Zahnbonusheft und das elektronische U-Heft der Untersuchung von Kindern umfassen. Je eher wir dazu kommen, dass sämtliche relevanten Daten von Patient:innen in nach internationalen Terminologien und Standards strukturierter Form vorliegen, umso eher können Algorithmen ermitteln, welches Problem bei einer Patientin oder einem Patienten vorliegt, und die Zusammenfassung liefern, die sich heute jede Ärztin und jeder Arzt durch Lesen der einzelnen Dokumente erarbeiten müsste.

Auch die für 2024 vorgesehene sogenannte Forschungskompatibilität der elektronischen Patientenakte setzt voraus, dass alle relevanten Daten in strukturierter Form vorliegen. Die dafür nötigen Standards wie die internationale medizinische Terminologie SNOMED CT („Systematized Nomenclature of Medicine Clinical Terms“), das ebenfalls international standardisierte Verschlüsselungssystem für medizinische Untersuchungen bzw. deren Ergebnisse LOINC („Logical Observation Identifiers Names and Codes“) und andere sind bereits lange verfügbar und seit Kurzem auch hierzulande anwendbar, nachdem Deutschland eine nationale Lizenz für SNOMED CT erworben hat.


Die Zukunft der Medizin ist datengetrieben.

Die Transformation des Gesundheitswesens in Richtung einer nicht nur in der Forschung, sondern auch in der alltäglichen Versorgung datengetriebenen Medizin ist also vorgezeichnet und hat bereits begonnen – dabei ist darauf zu achten, dass die bereits in der analogen Medizin störenden Barrieren zwischen dem ambulanten und stationären Sektor in einem digitalen Sektor nicht zugelassen werden: Die Medizin braucht Daten – Daten brauchen Strukturen – Strukturen brauchen Sicherheit.

Literatur

Khadzhynov D, Schmidt D, Hardt J, Rauch G, Gocke P, Eckardt KU, Schmidt-Ott KM (2019) The incidence of acute kidney injury and associated hospital mortality – a retrospective cohort study of over 100.000 patients at Berlin’s Charité hospital. Dtsch Arztebl Int 116, 397–404. doi: 10.3238/arztebl.2019.0397

National Health Service – NHS (2021) Acute Kidney Injury (AKI) Algorithm. URL: https://www.england.nhs.uk/akiprogramme/aki-algorithm/ (abgerufen am 24.06.2021)

2
Ethische Schlaglichter der Digitalisierung

Lars Roemheld

Vorneweg: Selbstverständlich muss nicht alles, was technisch möglich ist, auch umgesetzt werden. Investitionen in Technologie sollten klare Nutzenversprechen gegenüberstehen – Digitalisierung ist kein Selbstzweck.

2.1 Blockchain

Ein prominentes Beispiel für Selbstzwecke ist Blockchain. Die Technologie, die es immerhin bereits seit 2008 gibt, hat bisher praktisch keine neuen Anwendungen außerhalb von Kryptowährungen als Investitionsobjekten produziert (dies freilich durchaus erfolgreich). Dennoch hält sich Blockchain auch 2021 noch als ein fester Begriff im Gesundheitswesen.

Selbstverständlich gibt es vielfältige Anwendungen für Kryptografie im Gesundheitswesen:

Daten müssen sicher und ggf. revisionssicher verschlüsselt, gespeichert und übertragen werden.

Die Echtheit von digitalen Zertifikaten muss einwandfrei belegt werden können.

Anonymität spielt beim Umgang mit hochsensiblen Informationen eine große Rolle.

Die dabei zugrundeliegenden Technologien sind auch bei Blockchains von Bedeutung. Die eigentliche Innovation von Blockchain allerdings, das vertrauenslose Speichern einer dezentralen, revisionssicheren Datenbank durch die schlaue Balance kryptografischer Garantien und ökonomischer Anreize, erscheint im Gesundheitswesen unnötig: Dort mangelt es ja eben nicht an vertrauenswürdigen Zentralinstanzen. Solange wir Arztausweisen vertrauen, uns darauf verlassen können, dass Kostenträger rechtmäßige Forderungen begleichen und wir im schlimmsten Fall alle Gegenparteien gerichtlich erreichen können, ist fraglich, wofür wir vertrauenslosen Speicher brauchen.


Blockchain macht IT-Projekte teurer, aufwendiger, und unverständlicher als nötig wäre. Das kann kein Fortschritt sein.

2.2 Solidaritätsprinzip

Aber auch die langfristigeren Technikfolgen wollen bedacht sein. Mit größerer Digitalisierung steigt die Verfügbarkeit von Daten.


Mit mehr Daten und mehr Künstlicher Intelligenz steigt die Vorhersagbarkeit menschlicher Schicksale. Und Vorhersagbarkeit materialisiert Pech früher.

Wenn das spätere Auftreten einer psychiatrischen Diagnose schon heute mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagbar ist, verschlechtern sich die Konditionen für Berufsunfähigkeits- und Lebensversicherungen. Eine private Krankenversicherung kann einen Versicherungsvertrag auf Grundlage von Vorerkrankungen ablehnen – was passiert perspektivisch, wenn die Erkrankung noch nicht eingetreten, aber praktisch schon vorhersehbar ist?

Das Solidaritätsprinzip im Gesundheitssystem gewährt, dass auch Bürger:innen mit genetischer Veranlagung für Diabetes sich eine normale Krankenversicherung leisten können. Mehr noch, die höheren Gesundheitskosten von rauchenden oder Skisport betreibenden Personen müssen diese auch nicht selbst tragen. Das sind zivilisatorische Errungenschaften, die wir nicht leichtfertig aufgeben sollten; gleichzeitig wird die Zwiespältigkeit des Versicherns gegen freiwillige Entscheidungen mit größerer Vorhersagbarkeit deutlicher.

Die moralische Problematik entsteht hier freilich nicht durch die Risikoschätzung selbst – diese kann viel Gutes bewirken, beispielsweise in der Prävention und Aufklärung. Aber die Verwendung der Schätzung zum Nachteil von Bürger:innen können wir rechtlich steuern. Das sollten wir tun, solange wir uns über die Konsequenzen von Vorhersagbarkeit nicht vollends klar sind.

2.3 Datennutzungsgebot

Wenn nun aber das Nutzenpotenzial von digitalen Lösungen sehr klar ist: Gibt es dann nicht auch ein Datennutzungsgebot? Wieso ist gerade die Medizin, die bei fast allen Interventionen am menschlichen Körper mit kalkulierten Risiken arbeitet, im Digitalen so risikoavers?

Der fast automatische medizinische Nutzen von verfügbaren Informationen zur Krankengeschichte (ePA), von koordinierter Medikation (AMTS, „Order Entry“, Medikationsplan), von klinischen Assistenzsystemen („Decision Support“), von Entlass- und Case-Management liefert gute Gründe, hier zu investieren. Können wir moralisch noch rechtfertigen, dass Missverständnisse auf der Klippe zwischen ambulanter und stationärer Versorgung regelmäßig ganze Medikationspläne durcheinanderbringen, wenn es dafür längst technische (und prozessuale) Lösungen gibt? Ist es nicht geboten, die Infrastrukturen aufzubauen, um solche Missverständnisse zu reduzieren? Auch wenn dies etwas kostet?


Bei KI-Systemen wird oft zu Recht bemängelt, dass diese für in Trainingsdaten unterrepräsentierten Gruppen von Menschen schlechter funktionieren. Zu Recht interessiert man sich so für Unterschiede in der Behandlungsqualität zwischen Männern und Frauen, Ethnien oder Altersgruppen und fordert von der KI Gleichbehandlung.

Weniger gern stellen wir uns die Frage, wo KI-Systeme solche Unterschiede eigentlich „aufschnappen“: Ob die Gleichbehandlung, die wir von der KI fordern, im „natürlich intelligenten“ Gesundheitssystem schon funktioniert. Wer besorgt ist über die Behandlungsqualität von KI-Systemen, mag sich auch für eine Messung (und kontinuierliche Verbesserung!) der Qualität von menschlichen Systemen interessieren. Fallstudien und Erfahrungswerte sind dabei ein probates Mittel, das aber mit modernen technischen Möglichkeiten durch quantitative Datenauswertungen stärker unterstützt werden kann. Ein Monitoring von Behandlungsqualität anhand von Routinedaten hilft gegen schlechte KI-Systeme – es kann uns aber auch ohne solche Systeme helfen, blinde Flecken in der Versorgung zu entdecken.

2.4 Datensicherheit und Cloud

Ein anderer blinder Fleck im Gesundheitswesen ist leider weiterhin die Informationssicherheit. Dabei ist in diesem Gebiet im Jahr 2020 der „größte anzunehmende Unfall“ schon passiert: Vastaamo, eine finnische Kette von Psychotherapiepraxen, hatte offenbar schon einige Jahre zuvor die Daten von 40.000 Patient:innen verloren, inklusive intimen Behandlungsnotizen. Im Herbst 2020 begannen Kriminelle, Patient:innen der Kette mit den erbeuteten Informationen individuell zu erpressen. Wenige Monate später war Vastaamo insolvent.

Sehr viel dramatischer wird es hoffentlich nicht mehr: Psychisch belastete Patient:innen, zum Teil minderjährig, werden nach einem Hack mit intimsten Daten öffentlich erpresst. Vastaamo hatte eigene IT-Systeme, Finnland unterliegt ebenso wie Deutschland der DS-GVO, und die finnische Gesundheits-IT wird üblicherweise für ihre Fortschrittlichkeit gelobt: Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass ein ähnlich zerstörerischer Vorfall nicht auch hierzulande passieren könnte.

Die offensichtlichste Schlussfolgerung ist eher technischer Natur: Das Thema Datensicherheit muss bei IT-Projekten von Anfang an mit bedacht werden, es kostet Geld, und angesichts möglicher Angriffsvektoren hätten die sensiblen Gesprächsnotizen zusätzlich gesichert sein müssen. Nicht jede Datenbank muss an das Internet angeschlossen sein.

Aber es gibt auch eine moralische Abwägung: Vielleicht sollte das Gesundheitswesen angesichts des desaströsen Gefahrenpotenzials einfach papierbasiert bleiben? Sicher, in Arztpraxen wird auch eingebrochen, aber dann verschwinden immerhin nur einige Ordner und nicht überregionale Datenbanken. Solche Gedanken sind natürlich nicht ganz abwegig, und Risiken der Informationssicherheit sollten umso vorsichtiger behandelt werden, je schlechter sie eingeschätzt werden können.

Gleichzeitig macht dieses Buch hoffentlich deutlich, welchen konkreten Nutzen das Krankenhaus der Zukunft aus Digitalisierung ziehen kann: Den Kopf in den Sand zu stecken ist keine Option mehr. Und andere Industrien kriegen ihr IT-Risiko auch kontrolliert – das kostet immer Geld und Aufmerksamkeit, aber das tun Hygiene und unterbrechungsfreie Stromversorgung auch. Vastaamo ist ein Weckruf, das Thema ernster zu nehmen. Dazu gehört, PACS-Server nicht ungesichert im Internet stehen zu lassen, als Ärztin oder Arzt Verantwortung für die Sicherung der eigenen Praxis zu übernehmen und als IT-Leiter:in auch dann auf personengebundene User Accounts zu bestehen, wenn Nutzer:innen das unbequem finden.

Dazu gehört auch die Frage, welche Infrastrukturen ein Krankenhaus selbst betreiben sollte: Moderne Cloud-Anbieter haben oft den Vorteil relativ gut gesicherter Standardeinstellungen. In den Diskussionen mit Datenschutzbeauftragten zu On-Premise-Lösungen sollten auch die Implikationen für Sicherheit pragmatisch abgewogen werden.


Die Digitalisierung wird auch im Krankenhaus nicht weniger werden. Sich den Risiken und Nebenwirkungen dieser Entwicklung mit der gebotenen Energie und Aufmerksamkeit zu widmen, um den konkreten Nutzen möglichst bewusst zu erzielen – das muss sein.

5 744,57 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
371 стр. 86 иллюстраций
ISBN:
9783954666621
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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