promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Die Rede von Gott Vater und Gott Heiligem Geist als Glaubensaussage», страница 13

Шрифт:

|117|1. Die Krise des religiösen Vaterbildes

Meines Erachtens sind vier Argumente einschlägig, was die Krise des religiösen Vaterbildes angeht.

Das erste Argument ist religionskritisch und verweist auf den Projektionsverdacht. Gemeint ist in diesem Fall nicht so sehr Ludwig Feuerbach mit seiner Studie »Das Wesen des Christentums« (1841),[3] die man gern mit dem Projektionsverdacht neuzeitlicher Religionskritik verbindet,[4] oder Karl Marx mit seiner wiederum daran anknüpfenden Untersuchung »Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie« (1844),[5] sondern Sigmund Freud. Letzterer hat in seinen Untersuchungen »Totem und Tabu« (1913),[6] »Die Zukunft einer Illusion« (1927)[7] und »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1939)[8] die Vatersehnsucht mit der Religionsentstehung |118|zusammengebracht.[9] Demnach gibt es die dem Menschen von Kindheit innewohnende Sehnsucht nach dem gütigen Vater, der mit dem real erlebten und immer auch ambivalenten Vater nur bedingt zu tun hat. Dieser gütige Vater soll aufgrund seiner ihm eigenen Potenz das Menschenkind vor Ohnmacht schützen und Gerechtigkeit herstellen. Diese Vatersehnsucht führt nach Freud zur Religion, wie sie im jüdisch-christlichen Gottesbild zur Gestalt wird. Diese Projektion, so Freud, ist schädlich. Sie verhindert ein reifes Erwachsenwerden. Entsprechend ist die Kritik der religiösen Projektion der göttlichen Vatergestalt die Voraussetzung dafür, als erwachsener Mensch psychisch gesund leben zu können.[10] Doch nicht erst Freud, sondern schon Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« in dessen Roman »Siebenkäs« (1796/97) kennt den Verdacht: Bei Gottvater handelt es sich um eine bloße Einbildung.[11] So berichtet Christus in dieser Rede, den Vater in den unendlichen Weiten des Weltalls gesucht und nicht gefunden zu haben. Auf die Frage nach seinem himmlischen Vater antwortete ihm nur der endlose Sturm.[12] In der Vision des Schriftstellers fragen daraufhin die Toten die Jesus-Gestalt: »Jesus! Haben wir keinen Vater? – Und er antwortete mit strömenden Tränen: Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater«.[13] Im Roman stellt sich dann diese Vorstellung als nächtlicher Alptraum heraus.[14] Allerdings hilft diese träumerische |119|Auflösung nur bedingt angesichts des modernen Lebensgefühls vom Tod Gottes. Man braucht nicht nur an die im Gegenzug buchstäblich taghelle Diagnose in Friedrich Nietzsches Schrift »Die fröhliche Wissenschaft« (1882)[15] zu denken, sondern kann ebenso auf die Gott-ist-tot-Theologie des 20. Jahrhunderts verweisen.[16] Auch wenn man nicht ihrer Ansicht ist, bedarf es an diesem Punkt mehr als eines Hinweises, dass ihre Thematik ein unwirklicher Alptraum sein mag: Der religionskritische Projektionsverdacht muss m.E. theologisch eingeholt werden.

Das zweite Argument ist feministisch-theologisch und verweist auf die Patriarchatskritik. Die feministische Theologie macht deutlich, dass viele Bibeltexte im Sinn eines unterdrückenden Patriarchats verfasst wurden.[17] Entsprechend konnten Gottesbilder bestehende Gesellschaftsstrukturen befestigen, in denen männliche Führung weiblicher Dienstbarkeit entsprach, wie umgekehrt diese Gesellschaftsstrukturen wiederum den patriarchalen Gottesbildern eine hohe Plausibilität verliehen.[18] Hierbei kann das religiöse Vatersymbol in den Mittelpunkt rücken, insofern es mit historischen Erfahrungen von infantilisierender Unfreiheit, psychischem Leid und physischer Ausbeutung einherging bzw. einhergeht.[19] Dies würde sich erst ändern, wenn man Gott – und gemeint ist nicht Jesus, dessen integrative und befreiende Männlichkeit man feministisch würdigen kann – nicht mehr als Mann verstehen müsste, so die US-amerikanische Theologin Mary Daly in ihrem für die feministische Theologie wegweisenden Buch »Beyond God the Father« (1973).[20] Auch die deutsche Theologin |120|Dorothee Sölle distanzierte sich in ihrer Studie »Stellvertretung« (1965)[21] von der traditionellen Allmachtvorstellung Gottes, sodass Bischöfin Margot Käßmann von der Theologie Sölles als Verabschiedung einer »Papa-wird’s-schon-richten-Theologie«[22] sprach.[23] Noch deutlicher haben dann die feministische Theologin Christa Mulack in ihrer Studie »Die Weiblichkeit Gottes« (1983)[24] und die deutsche Psychologin Gerda Weiler »Ich brauche die Göttin« (1990)[25] votiert. Zwar ist deren starken Thesen, dass sich hinter den Bibeltexten wesentlich Spuren weiblicher Kultgottheiten finden, teilweise auch deutlich widersprochen worden.[26] Doch in moderater Form ist inzwischen auch auf der Ebene sonntäglicher Gemeindetheologie die Weiblichkeit des Heiligen Geistes und die Mütterlichkeit Gottes etabliert. Angesichts der m. W. beiden Standardargumente, von Gott als Vater sprechen zu müssen, ist das nicht ganz abwegig. Das erste Argument findet sich in Wolfhart Pannenbergs »Systematischer Theologie I« (1988) und besagt: Zwar sind die sozialgeschichtlich-patriarchalen Parameter des alten Israel zeitbedingt und Gott darf darauf nicht begrenzt werden. Doch das Vatersymbol ist kein austauschbares Gottesbild, weil es unaufhebbar mit der Jesus-Tradition zusammenhängt, und zwar für Pannenberg mit der Erwählung Israels.[27] Anders würde es aussehen, |121|so Pannenberg, wenn das Vaterbild Gottes sich unserer Projektion verdanken würde. Pannenberg lehnt dies ab. Was wahrhaft Vater genannt zu werden verdient, zeigt sich in und an Gott – gerade angesichts des Verfalls patriarchaler Muster.[28] Das klingt gut. Doch erstens darf sich das Vatersein Gottes nicht nur kontrastiv zum menschlichen Vatersein verhalten, wenn Anschlussplausibilitäten für dieses Bild greifen sollen. Und zweitens ist das Abtun der Projektionstheorie selbst problematisch, wie wir sahen.[29] Das zweite Argument findet sich in Wilfried Härles »Dogmatik« (1995) und besagt: Zwar wird in der Bibel das Vaterbild über patriarchale Züge hinaus auf Züge weiblich konnotierten Zuwendung geöffnet. Doch das Vaterbild steht für eine Differenz zwischen Gott und Mensch ein, wie es das Mutterbild so nicht kann.[30] In letzterem Fall wird Gott, so offenbar Härles Ansicht, zu stark im Modus der Vertrautheit und Immanenz gedacht. Dieses Argument ist zeitgebunden. Denn Härles Argument wird dann problematisch, wenn das normative Vaterbild einer Gesellschaft auch den fürsorglichen und gleichrangigen Partner im Blick hat.

Das dritte Argument ist subjektivitätstheoretisch und verweist auf das Erfahrungsdefizit. Ausschlaggebend für diese Kritik ist die Beobachtung, dass trinitarischer Glaube und menschliche Erfahrung nur mittelbar miteinander zu tun haben. Damit ist nicht nur an Immanuel Kants Votum aus dem »Streit der Fakultäten« (1798) gedacht, wonach sich aus der Trinitätslehre nichts Praktisches ergibt.[31] Es ist auch nicht nur Friedrich Schleiermachers »Glaubenslehre« (1830/31) und ihre distanzierende Verortung der Trinitätslehre gemeint, weil letztere nach Schleiermacher lediglich sekundär verknüpft, was als Erfahrung |122|anderweitig schon feststeht.[32] Vielmehr ist damit auch eine positionelle Zuspitzung angezeigt. Denn wird in der liberalen Theologie die Trinitätslehre im Anschluss an Kant und Schleiermacher zunehmend als triftige Einsicht verabschiedet, so entdeckt sie Karl Barth gegen diese liberale Theologie wieder.[33] Das belebt die Rede von Gottvater. Sicher: Auch der liberale Theologe Adolf von Harnack konnte in seinen Vorlesungen »Das Wesen des Christentums« (1899/1900) das religiöse Vatersymbol für Gott gebrauchen.[34] Doch dass die Rede von Gottvater insgesamt zum Zeichen des theologischen Liberalismus avanciert, wird man wohl kaum behaupten wollen. Anders steht es mit Barths Kerygmatheologie, die in der »Kirchlichen Dogmatik« I/1 (1932) die Rede von Vater, Sohn und Geist so akzentuiert, dass sie als Ausdruck von Gottes souveräner Offenbarung »Gott offenbart sich als der Herr«[35] dem Erfahrungsbewusstsein des neuzeitlichen Subjekts entgegentritt.[36] Die auf Barth reagierende liberale Theologie hat die kantische Einsicht in die Unumgänglichkeit der menschlichen Subjektivität gegen die barthianisch inspirierte Renaissance der Trinitätslehre ins Feld geführt. Exemplarisch kann man die Kritik des Hallenser Systematikers Ulrich Barth in seinem Beitrag »Zur Barth-Deutung Eberhard Jüngels« (1984)[37] nennen. Nach dieser Lesart führt Jüngels hermeneutisch-barthianische Trinitätskonzeption zu einem verheerenden »Metaphernrausch«[38]. Allenfalls haben Stimmen der liberalen Theologie – besonders der schon im Titel provokative Beitrag »Theologische Gleichschaltung« (1975) des Wiener Systematikers Falk Wagner[39] – die barthianische Gottes- und Vaterrede |123|als eine Projektion der menschlichen Subjektivität diagnostiziert, die sich selbst nicht durchschaut.[40]

Das vierte Argument ist trinitätstheologisch und verweist auf einen Beziehungsmangel. Der Sache nach ist damit die Reaktion der Trinitätstheologie auf soeben genannte Probleme gemeint. Den Kern der Gedankenfigur findet man beispielhaft in Eberhard Jüngels »Gott als Geheimnis der Welt« (1977).[41] Danach ist zwar von Gott-Vater zu reden, der – ganz traditionell – den grundlosen Grund in Gott bezeichnet: »Gott kommt von Gott«.[42] Doch dieser Gott-Vater kann seinen dadurch zum Ausdruck kommenden Vorrang als erste Person in der Trinität nicht halten. Denn durch die Abhängigkeit der wechselseitigen Anerkennung von Sohn und Geist im Sinn des reziproken Gemeinschaftsmodells der Trinität hat der Vater keinen Vorrang mehr.[43] Gern wird diese Wechselseitigkeit der innertrinitarischen Beziehungen als Liebe und Wesenseinheit Gottes gedeutet, deren Vorzug in einer relationalen, pneumatologischen Ontologie liegen soll.[44] Letztere setzt man gern gegenüber einer statischeren Substanzontologie ab. Und: In der Regel wird dies als Lösung des Problems von Einheit und Dreiheit in Gott wahrgenommen – und gegen die ostkirchliche Lesart von der Wesenseinheit Gottes im Vater gewendet.[45] Hinter diesem Modell, das den konfessionsübergreifenden Mainstream der westkirchlichen Trinitätslehre in der Spätmoderne darstellt, steht sachlich die Einsicht des Herr-Knecht-Kapitels aus Hegels »Phänomenologie des Geistes« (1807).[46] Danach tendieren wesentliche Beziehungen aufgrund ihrer Wechselseitigkeit zur Symmetrie. Diese liebestheologische Entkernung von Gott-Vater hat freilich schon Kritik in Schellings später |124|»Urfassung der Philosophie der Offenbarung« (1831/1832) gefunden.[47] Nicht nur ist – verankert in der Heilsgeschichte und in der Verbindung von Wesens- und Offenbarungstrinität – mit Asymmetrien in Gott zu rechnen, wie auch dogmengeschichtlich die Trinitätslehre nicht immer die Keimzelle der Demokratie war.[48] Vielmehr ist, so der späte Schelling, die Vorstellung eines in der völligen Transparenz wechselseitiger Beziehungen aufgehenden Gottes selbstwidersprüchlich. Denn hier ist kein Potential Gottes mehr denkbar, welches für die Kreativität und Zukunft steht. Das heißt bei Schelling nicht, dass die Alternative zur reinen Symmetrie balancierten Stillstands die reine Asymmetrie ungebremster Dynamiken ist. Vielmehr ist mit einem Spiel unterschiedlicher, tendenziell stärker asymmetrischer und tendenziell stärker symmetrischer Wechselseitigkeit zu rechnen. Sicher: Der Vater ist nur dadurch Vater, dass er einen Sohn hat; doch der Vater wird dadurch nicht unter der Hand zum Sohn seines daher vermeintlich völlig gleichgestellten Sohnes. Schelling nimmt daher in Gott selbst eine nie aufgehende Kreativität an, die er in der Freiheit des Vaters verortet und der sich auch Sohn und Geist verdanken sollen.[49]

2. Plädoyer für einen programmatischen Neuansatz

Wie andernorts dargelegt[50] plädiere ich für einen programmatischen Neuansatz evangelischer Theologie, für den ich – jenseits von konventioneller Praxisgläubigkeit und triumphalem Theorieanspruch – eine |125|diagnostische Rationalität beanspruche. Ihr geltungstheoretischer Ort ist das Exemplarische im Sinn dessen, was aufgrund seiner relativen Anschlussfähigkeit und Binnenstimmigkeit plausibel ist. Inhaltlich lautet meine These, die im Sinn der soeben genannten diagnostischen Rationalität nicht als exklusive Definition, sondern als anschlussfähige Beschreibung zu verstehen ist:[51] Die Religion, auch die evangelische Religion, ist im menschlichen Bildvermögen und seiner Einbildungskraft fundiert. Letztere ist immer auch verkörpert, sozial vermittelt und zeigt sich in der menschheitsspezifischen Fähigkeit, mit äußeren und inneren Bildern umgehen zu können. Imagination und Phantasie, nachschaffende und poetische Einbildungskraft werden so als Mittel wahrgenommen, ein anschauliches Gottes-Bild – und nicht bloß einen abstrakten Gottesgedanken – zu realisieren. Insofern spreche ich von einer bildhermeneutischen Theologie. Dieser Ansatz versucht, neueste Entdeckungen der Anthropologie und Kulturwissenschaften aufzunehmen und konstruktiv-kritisch auf den Projektionsverdacht der neuzeitlichen Religionskritik zu reagieren. Religion ist dann letztlich Ambivalenzmanagement, ein Umgang mit den Mehrdeutigkeiten unseres Lebens. Vor allem wird es aber meines Erachtens so möglich, den zeitgenössischen Gegensatz zwischen liberaler Subjektivitätstheologie, die gern mit Paul Tillich sinntheoretisch auf den Symbolbegriff abzielt, und kerygmatischer Offenbarungstheologie, die gern mit Eberhard Jüngel sprachtheoretisch auf den Metaphernbegriff abzielt, in einem Bildbegriff zu vermitteln.[52] |126|Danach ist das (äußere) Bild ein wahrnehmungsnahes Zeichen, das wesentlich auf die Einbildungskraft angewiesen ist, die sich dabei selbst durchstreicht und die religionsstiftenden Kategorien der Ganzheit und Kontrafaktizität aufweist. Freilich handelt es sich bei diesem vermittlungstheologischen Vorschlag formal um eine deutlich näher an der liberalen Theologie gelagerte Theorieoption. Material wird hingegen insbesondere die Tradition der von Rudolf Bultmann ausgehenden Hermeneutischen Theologie von Ernst Fuchs und Eberhard Jüngel aufgenommen, die eine christologische Gleichnishermeneutik im Blick hat. Im Folgenden sollen sieben Springpunkte hervorgehoben werden, die mir wesentlich erscheinen.[53]

Der erste Springpunkt betrifft die Anthropologie und kann sich konstruktiv-kritisch insbesondere auf die Studie »Origins of Human Communications« (2008) des US-amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello beziehen:[54] Der Mensch als Sprachwesen ist auf ein grundlegendes Bildverstehen angewiesen, das äußere Bilder, Symbole und Zeichen einschließt und eine öffentliche Kommunikation wie innere Einbildungskraft erfordert. Freilich darf letztere nicht gegen die Fähigkeit, mit äußeren Bildern umzugehen, ausgespielt werden, sondern ist vielmehr darin verankert. Diese Einsichten sind nicht als harter Speziesismus zu verstehen. Vielmehr lassen gerade die |127|Gesten von Affen erkennen, woraus sich das menschliche Bild- und Symbolvermögen und schließlich die menschliche Sprache entwickelt haben. Wichtig ist dabei: Öffentlichkeit und Wort- wie Symbol- bzw. Bildvermögen sind hier verbunden und können nicht gegeneinander ausgespielt werden.[55] Nicht ohne Grund trägt die zustimmende Rezension von Jürgen Habermas zu Tomasellos Studie den schönen Titel »Es beginnt mit dem Zeigefinger«[56].

Der zweite Springpunkt betrifft die Zeitdiagnostik und kann sich konstruktiv-kritisch insbesondere auf den Beitrag »Die Wiederkehr der Bilder« (1994) des Baseler Kunsthistorikers Gottfried Boehm beziehen:[57] Zwar gab es in den frühesten Zeiten der Menschheit schon Bilder. Doch heute sind fast alle Bereiche des Lebens von Bildern geprägt. Dies sind Bilder im Kopf und außerhalb des Kopfes. Virtualität und Einbildungskraft drängen in einem bisher unbekannten Maß nach vorn; und der sich wie eine zweite Membran um den Erdball legende Datenstrom der digitalen Medien hält ständig Bilder bereit. Inszenierung, Spektakel und Überwachung werden in diesem Zusammenhang häufig beklagt. Argumente werden durch Bilder ersetzt, Informationen visualisiert und vielfach dirigieren Bildschirme, die nicht zufällig so heißen, den öffentlichen und privaten Raum. Die auch so genannte »Bilderflut« lässt Sein und Schein ineinander übergehen. So gibt es insgesamt eine Wende zum Bild, einen »iconic turn« (Gottfried Boehm).[58]

Der dritte Springpunkt betrifft die Bildfrage und kann sich insbesondere konstruktiv-kritisch auf die einschlägige Studie »Symbolischer Pragmatismus« (1991) des Münsteraner Philosophen Ferdinand Fellmann beziehen:[59] Äußere Bilder sind wahrnehmungsaffine Zeichen, die nicht nur auf die innere Einbildungskraft angewiesen sind, sondern auch auf deren Negationsvermögen. Damit ist eine Unterbrechung des animalischen Reiz-Reaktionsschemas verbunden, also der Kern von Freiheit. Wenn Menschen innere |128|Wahrnehmungsbilder in sich erzeugen, dann unterbrechen und vergegenständlichen sie den Strom ihres Wahrnehmungsgefühls. So bringen sie die Welt und ihre Faktizität auf Abstand, mit der sie dann ganz anders umgehen können. Mit inneren Bildern wird die Wirklichkeit gleichsam im Negativ festgehalten, nämlich im Inneren als etwas realisiert, was als Abwesendes da ist. Insofern ist auch das Bildvermögen nicht einfach das – wiederum komplex mit anderen Sinnen und Vermögen verknüpfte – Sehvermögen, sondern dessen negationstheoretische Realisierung im Gefühl. Entscheidend ist dabei: Die menschliche Einbildungskraft kann über diese inneren Bilder auch verfügen.[60] Dabei darf man mit Edmund Husserls Göttinger Vorlesungen »Phantasie und Bildbewusstsein« (1904/05) grundsätzlich einen dreistelligen Bildbegriff in Rechnung stellen.[61] Das ist dann m.E. folgendermaßen zu verstehen: Auf dem Bildträger – z.B. einer Leinwand – ist ein repräsentierendes Bildobjekt – z.B. das »Bild« bzw. der Eindruck des Prinzipalmarktes in Münster – gegeben, der auf das Bildsujet verweist, nämlich den realen Prinzipalmarkt. Wichtig ist es hierbei, dass Verhältnis von Bildträger und Bildobjekt als eine unbestimmte Negation zu verstehen, während das Verhältnis von Bildobjekt und Bildsujet im Sinn einer bestimmten Negation zu fassen ist. Der Prinzipalmarkt kann also auf einer Leinwand, aber auch auf anderem Material abgebildet werden. Doch seine Formen und Farben müssen erkennbar am realen Prinzipalmarkt teilhaben.[62]

Der vierte Springpunkt betrifft die Vermögenspsychologie und kann sich insbesondere konstruktiv-kritisch auf die anthropologische Studie »Können Tiere denken?« (2009) des Marburger Philosophen Reinhard Brandt beziehen:[63] Anders als die unterscheidbaren, diskursiven Zeichen – wie die Buchstaben oder Ziffern – sind bildliche Elemente nicht relativ klar unterschieden, sondern verschwimmen ineinander. Sinn und Sinnlichkeit gehen hier fließend ineinander über. Das gilt von inneren Bildern und von äußeren Bildern, in denen sich unser Bildvermögen selbst anschaulich wird. Und das ist für den Aufbau der weiteren Vermögen wesentlich. Denn so sehr das kreative |129|Bildvermögen den Menschen von anderen Primaten unterscheiden mag, so wenig ruht es in sich. Vielmehr führt die bildtheoretische Einsicht der negationstheoretischen Einklammerung – im Sinn einer Präsenz des Abwesenden – über weitere Sublimierungen zur Ausbildung der menschlichen Sprache, wie sie sich im negationsfähigen Urteil »X ist Y« ausspricht. Diese sprachliche Diskursivität kann sich selbst in der Vernunft reflexiv werden. Dabei bleiben Sprach- und Vernunftvermögen immer auf das Bildvermögen angewiesen, das in ihnen durchscheint, wie umgekehrt das Bildvermögen auf dieselben angewiesen ist, wenn es über sich hinausdrängt. Insofern können diese drei Vermögen nicht gegeneinander ausgespielt werden.[64]

Der fünfte Springpunkt betrifft die Religionstheorie und kann sich insbesondere konstruktiv-kritisch auf die Studie »Ganzheit und Kontrafaktizität« (2014) des Hallenser Systematikers Jörg Dierken beziehen:[65] Der Mensch kann nicht anders, als Grund und Grenze seines Lebens auch zu symbolisieren. Religion ist schon der Möglichkeit nach in demjenigen Sehvermögen angelegt, das sich in Bildern, Symbolen und Zeichen selbst sichtbar wird. Dies geschieht m.E. bei der Wahrnehmung des alltäglichen Horizontes.[66] Er repräsentiert |130|in der normalen Wahrnehmung eine aktuelle Ganzheit, die zugleich sich selbst einklammert und übersteigt, wenn sie zur Frage führt: Und was kommt dann? So ist es nicht erst – wie bei Immanuel Kant – die Vernunft, die den Gottesgedanken benötigt, weil sie ihr theoretisches Bedürfnis weiter zu fragen, nicht abbrechen kann (Ganzheit), und dies praktisch mit einer Freiheitserfahrung zusammenbringt (Kontrafaktizität). Es ist vielmehr schon die im Bildvermögen sich zeigende Wahrnehmung des Horizontes, der eine Dimension des Und-so-weiter einschließlich ihres kontrafaktischen Selbstüberstieges eingeschrieben ist. Wenn man hierbei die Kategorien der Ganzheit und Kontrafaktizität bildtheoretisch näher betrachtet, sind sie m.E. im Sinn einer stufenden Sequenzierung über die Kategorien der Unterbrechung und der Distanzierung vermittelt.[67]

Der sechste Springpunkt betrifft die christliche Theologie und kann sich insbesondere auf Friedrich Schleiermachers »Reden« (1799)[68] und auf Einsichten der Hermeneutischen Theologie beziehen: Wenn die Religion das menschliche Bildvermögen im Horizont des Unbedingten ist, dann wird dies im Christentum an und in sich selbst religiös realisiert, wenn die Stiftergestalt – definitiv mit Ostern, und zwar den Ostererscheinungen – zum sich selbst durchstreichenden Bild Gottes wird.[69] Damit wird nicht nur das Bilderverbot |131|aufgenommen. Vielmehr verweisen auch die Sprachbilder (»Gleichnisse«) des vorösterlichen Jesus (im Einklang mit seinem entsprechenden Verhalten) und die (schriftlich-kanonischen wie sakramentalen) Erinnerungen des nachösterlichen Jesus darauf. Letztere sind aufgrund ihres szenischen Charakters als bildhaft anzusprechen. Die Schriftlehre wird so zu einem Umgang mit äußerer Bildlichkeit, wie die Rechtfertigungslehre zu einem Umgang mit innerer Bildlichkeit wird. Diese Deutung steht im Einklang mit einer bildtheoretischen Zuspitzung der protestantischen Grundsignaturen in der Moderne: So kann in der nachaufklärerischen Schriftlehre der Bildbegriff im Sinn des von Jesus hinterlassenen Eindrucks, dessen Wirksamkeit sich in der Rezeption der christlichen Bibel entfaltet, begriffen werden, wie in der nachaufklärerischen Rechtfertigungslehre die Einsicht in dessen kontrafaktisches Wirklichkeitsvertrauen einen hintergründigen Umgang mit dem Projektionsverdacht erlaubt.[70] Dass es inzwischen arrivierte bildhermeneutische Deutungen der beiden Leitgestalten des |132|Protestantismus, nämlich von Martin Luther und Friedrich Schleiermacher gibt, sei zumindest am Rand notiert.[71]

Der siebte Springpunkt betrifft die Selbstverortung dieses (in den vorangegangenen sechs Thesen skizzierten) Programms: Das Konzept einer Theologie der verkörperten Einbildungskraft im Anschluss an die Rede vom iconic turn hat keineswegs nur das Bild an der Wand – und dann womöglich auch nur das der europäischen »Hochkunst« – im Blick. Vielmehr zielt sein zeitdiagnostisch motivierter Bildbegriff auf das ab, was sich aufgrund seiner Verschränkung von Sinn und Sinnlichkeit dem bloß Begrifflichen entzieht. Es geht um einen sich paradigmatisch selbst einklammernden Begriff, eine fassbare Unfassbarkeit. Nicht zufällig rückte der Bildbegriff schon in das Zentrum von Fichtes Spätphilosophie.[72] Traditionell geredet: Es geht in Sachen der Bildtheorie um eine docta ignorantia, allerdings in der unumgänglichen Medialität unseres Weltumgangs. Gott ist dann der ungegenständliche Fluchtpunkt unseres Lebens, der in dessen Wahrnehmung und Führung immer nur indirekt, gebrochen und aposteriorisch erscheint, wie der spätmoderne Protestantismus als kritische (!) Bildreligion verstanden werden kann, die eine Anwältin des Sprachvermögens im religiösen Horizont ist.[73] Dass man hierbei das Bildvermögen auch – unter dem Stichwort »Bildung« – auf die |133|Individualität und – unter dem Stichwort »Augen-Blick« – auf das Zeitbewusstsein beziehen kann, sei nur erwähnt.[74]

Бесплатный фрагмент закончился.

Возрастное ограничение:
0+
Объем:
881 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783846352687
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip