Читать книгу: «Devolution», страница 3

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»Jetzt geht es euch besser«, sagte er sanft, auch wenn er sich nicht des Gefühls erwehren konnte, dass er irgendwie gerade gelogen hatte.

Vielleicht war es dieses Mal richtig gewesen, so zu handeln. Vielleicht.

Auch er drehte sich weg und ließ die beiden zurück. Mit der Taschenlampe in seiner Hand hatte er es entschieden leichter, wieder seinen Weg zurückzufinden. Schnellen Schrittes folgte er den Gängen in Richtung der Kassen und somit zum Ausgang.

Als er dort ankam, blieb er kurz stehen. Das Monster, welches sich davor recht leise verhalten und vielleicht das Spektakel genossen hatte, meldete sich nun noch vernehmlicher wieder und Tom wollte diesen Forderungen nur zu gerne nachkommen.

Er ging von Kasse zu Kasse und untersuchte die Regale, ob irgendwo noch eine Schachtel Zigaretten lag. Es war die achte von insgesamt zehn Kassen, an der er fündig wurde. Nicht im Regal, sondern am Boden davor lagen vier Schachteln. Sie waren etwas platt getreten worden, aber schienen noch intakt zu sein.

»Rauchen kann tödlich sein.« Tom lachte kurz auf. Das war nun nicht mehr tragisch, dachte er sich. Er zündete sich die erste Zigarette direkt im Laden an und ließ den Kegel der Taschenlampe nochmals über die leergefegten Regale wandern.

Das gesamte Geschäft wirkte, als hätte man vorgehabt, es einer Grundreinigung zu unterziehen. Alles war rausgerissen worden und nichts, absolut gar nichts mehr übrig. Die Regale waren bis auf den letzten Artikel leergefegt. Für ihn, der er sein gesamtes Studium Symbole und Riten gedeutet hatte, war dies hier ein besonderes grausames Symbol: der Untergang der westlichen Welt. Alles, was diese Welt so komfortabel gemacht hatte, war geklaut worden, um vielleicht noch ein bisschen länger an diesem Lebensstil festzuhalten.

Er zog an der Zigarette.

Die beiden Jungs würden, falls sie wieder zu sich kämen, sicher den Weg hier raus finden. Es würde dauern, aber das würde dann bedeuten, dass sie die letzten Stunden ihres viel zu kurzen Lebens wenigstens nicht mit weiteren Gräueltaten verbringen würden.

Wenn sie noch leben sollten.

Mehr konnte er in dieser Situation nicht für sie tun.

Dann drehte er sich um. Die Taschenlampe legte er auf ein Förderband und ließ sie dort liegen. Sie strahlte bis zum Ende der leeren Regale.

Seine Finger begannen zu zittern, als ihm klar wurde, was gerade passiert war.

Die Regale waren leer.

Er hörte ein leises, metallisches Pochen hinter sich. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass es dieses junge Mädchen war, das gerade die Rolltreppe hochging.

Wo würde sie wohl hingehen? Zu ihren Eltern, zu einer Freundin? Es tat ihm in der Seele weh, wenn er sich überlegte, dass dieses arme Ding seine letzten Stunden mit dem Gewissen verbringen musste, dass es gerade vergewaltigt worden war.

Die Welt war ein grausamer Ort.

Tom und Chris

Gedanken, vor allem schlechte, können wie Krebs sein. Sie beginnen zuerst winzig, auf einer Mikroebene, können sich dann jedoch immer weiter ausbreiten, bis sie einen in den Wahnsinn bzw. in den Tod führen.

Tom wusste das. In den letzten Monaten hatte er sehr oft erleben müssen, wie ihn eine schreckliche Erinnerung immer und immer wieder gejagt und gequält hatte, bis ihm Pfarrer Wutknecht einen Gedankentipp, wie er es genannt hatte, gegeben hatte.

»Stellen Sie sich ein riesiges Lager vor«, hatte er begonnen. »Eine Lagerhalle, mit Abertausenden von Paketen, die sich bis unter die Decke stapeln. Das sind Ihre Gedanken. Es liegt an Ihnen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Nun stellen Sie sich einen Logistiker vor, der über dieses Chaos Herr ist und weiß, wo welche Gedanken sind. Er muss sie folglich nur abrufen. Und nun gehen Sie noch einen Schritt weiter: Wenn Ihre Gedanken Pakete sind und Sie der Logistiker, dann sind es auch Sie, der dafür zuständig ist, wo die Pakete stehen. Daher stellen Sie Ihre belastenden Gedanken, wenn Sie sich nicht mit Ihnen beschäftigen wollen, so weit nach hinten, wie es Ihnen irgendwie möglich ist. Sie sind immer noch da, aber sie müssen nicht sofort bearbeitet werden. Irgendwann können Sie sie dann bearbeiten, wenn Sie sich bereit fühlen.«

Was weder Tom noch Pfarrer Wutknecht wussten, war, dass, als der Pfarrer diese Technik von einem Psychologen beigebracht bekommen hatte, in diesem selben Seminar Chris gesessen und diesen ebenfalls Ausführungen gelauscht hatte. Die Welt war klein.

Tom hatte ihn verwirrt angeschaut und Pfarrer Wutknecht hatte gesagt: »Wissen Sie, der Dienst an Gott ist das erfüllendste, was ich mir vorstellen kann. Gleichzeitig ist es ein ungeheurer Kraftakt. Manchmal muss man sich einfach Zeit für sich nehmen, sonst würde man es nicht schaffen. Sie müssen sich auch mit schlimmen Dingen beschäftigen, derzeit mehr als irgendwer sonst. Aber Sie dürfen darüber nicht sich selbst vergessen. Kümmern Sie sich um Ihre Dämonen, aber nur dann, wenn Sie dafür bereit sind, es mit ihnen aufzunehmen.«

Daher stellte sich Tom dies gerade bildlich vor, während er auf den roten Stufen des Einkaufszentrums saß und mit leicht zitternden Fingern seine Zigarette rauchte. Das Adrenalin pumpte immer noch durch seine Venen, als in seinem Kopf der Logistiker Tom das Geschehene nahm und in ein großes, rotes Paket packte, auf dem in Neonlettern »VORSICHT GEFAHR« stand. Dann nahm er dieses Paket und trug es in die hinterste Ecke des Lagers, wo er es ablegte, zu all den anderen roten Paketen. Es waren nicht mehr so viele, wie es schon gewesen waren, genau genommen nur noch eines.

Beide würde Tom nicht öffnen wollen. Wenn es gut lief, dann würden diese Pakete in der Halle liegen, bis es zu Ende wäre.

»Hey Pfaffe! Hock nicht so faul rum und hilf mir lieber!« Fast schon schuldbewusst zuckte Tom zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Sein Logistiker drehte gerade um eine Ecke und verschwand mit dem Paket.

»Wenn das mal nicht der Rettungsgispel ist!«, lachte er und ging auf Chris zu, der gerade die Straße entlangkam, eine Kiste Bier in den Händen.

Die beiden Männer trafen sich in der Mitte, Chris stellte die Kiste ab, dann umarmten sie sich.

»Schön, dich zu sehen, mein Freund«, sagte Tom und meinte es so, wie er es sagte.

»Könnte ich doch nur das Gleiche zu dir sagen«, erwiderte Chris grinsend. Tom merkte, dass diese Worte eher künstlich klangen, als wären sie ein einstudierter Text eines schlechten Schauspielers.

»Es gibt schlechtere Gesellschaft, mit der man den Weltuntergang begehen könnte, als meine!«, protestierte Tom gespielt.

»Aber nicht viele«, konterte Chris. »Aber jetzt rede nicht so viel, sondern hilf mir mit dieser verdammten Kiste. Die ist scheißschwer!«

Tom packte die eine Seite der Bierkiste und Chris die andere. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Wir sollten uns etwas beeilen. Es ist bald sieben.«

»Ich bin mir sicher, dass wir nicht zu spät kommen. Oder glaubst du, dass Mick oder Noah schon da sein werden?«

»Hast recht.« Tom warf Chris einen fragenden Blick zu. »Alles in Ordnung?« Die beiden Männer kannten sich so lange, dass sie einander lesen konnten wie ein offenes Buch, und Chris stand gerade ins Gesicht geschrieben, dass er nicht in der besten Stimmung war. Gut, das war in Anbetracht der gegebenen Umstände nicht verwunderlich, aber da war noch was anderes, was Tom nicht auf Anhieb deuten konnte.

»Ist es – wegen dem Stadion?«, fragte er mit fester, ermutigender Stimme, während sie die Kiste Bier über eine Fußgängerbrücke auf die andere Seite trugen.

»Seestadion?«, erwiderte Chris abwesend.

»Gibt es ein anderes mit Relevanz für dich?«

Chris lachte kurz auf. »Ich will nicht drüber reden. Lass mich erst einmal ein Bier trinken, etwas zur Ruhe kommen. Vielleicht auch, wenn die anderen da sind. Ich weiß es nicht.« Er zögerte, bevor er weitersprach. »Vielleicht will ich auch gar nicht mehr darüber reden. Jetzt ist es eh bald vorbei.«

»War es so schlimm, wie man sich erzählt hat?«

Chris blieb kurz stehen. Sein Blick war kühl und distanziert, aber gleichzeitig von einer tiefen Ergriffenheit. Stirnrunzelnd meinte er: »Schlimmer als das … Wer davon erzählen konnte, der war wohl nicht wirklich da.«

»Rede mit mir, Chris.« Es war die Sorge um seinen Freund, die Tom zu dieser Frage antrieb.

»Später, Tom. Später«, wiegelte Chris ab. In seinen Worten hing eine Angst, die Tom frösteln ließ, obwohl es immer noch weit über 30° C hatte.

Damit gingen sie weiter, in Richtung Bodensee. Es war zehn vor sieben, als sie »ihre« Parkbank erreichten und sich setzten. Das Licht flimmerte auf dem See und ließ Tausende Diamanten auf der Wasseroberfläche tanzen.

Majestätisch erstreckte sich der See vor ihnen, links konnten sie die Innenstadt sehen, das Münster, die alten Häuser und das ehemalige Kloster. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees waren Dörfer, oder Städte? Keiner von beiden wusste es, sie hatten sich nie damit beschäftig und würden es jetzt wohl auch nicht mehr erfahren.

Aber keine Boote waren zu sehen. Dabei war heute perfektes Segelwetter.

Letzte Chance!

Seufzend nahm Chris ein Bier und trank einen tiefen Schluck, ebenso wie Tom.

Sie blickten beide fast simultan auf ihre Uhr.

Zwei von vieren waren da.

Vor allem Tom hatte von seinen Schäfchen immer wieder erzählt bekommen, dass einige Menschen einfach aus Spaß andere umgebracht hatten. Sie besorgten sich eine Waffe, vielleicht ein Messer oder ein Schwert aus einem Waffenladen in der Innenstadt und gingen damit auf Menschenjagd. Es war ihnen egal, wen sie erwischten, solange sie ihre perfide Blutgier befriedigen konnten.

Chris nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seiner Flasche. Das Bier war angenehm kühl. Der See rauschte in der langsam einsetzenden Abenddämmerung leise vor sich hin. Über ihnen standen zwei grelle, gelbe Sonnen.

Chris Blick wanderte über das Panorama. Seine Hand krampfte sich leicht zusammen, als sein Blick in Richtung Westen wanderte, dort, wo auch ein neuerlicher Geruch nach Tod herkam. Dann drehte er sich zu Tom.

»Willst du wirklich hören, was ich gesehen habe?«

Tom nickte nur stumm und fixierte seinen Freund mit dem aufmunterndsten Blick, den er hatte.

Chris begann zu erzählen. Ruhig und sachlich schilderte er seine Erlebnisse und Tom hörte zu.

Chris hatte recht gehabt: Wer dagewesen war, der hatte nicht davon erzählen können. Eigentlich. Die Worte, die mit einer erschreckenden Kühle aus ihm heraussprudelten, waren erschreckend, vor allem in ihrem symbolischen Charakter für das, was gerade in der Welt passierte, dachte sich Tom traurig.

»Großer Gott.« Mehr bekam Tom nicht raus.

Er zündete sich eine weitere Zigarette an, reichte die Schachtel an Chris weiter, der dankend ebenfalls eine nahm. Schnell inhalierte er den Rauch und erzählte zu Ende.

Als er fertig war, hörten sie Schritte hinter sich. Schlurfend nährte sich jemand. Sie drehten sich um, dann waren die Freunde zu dritt.

Noah

»Meine Damen und Herren« Der Moderator auf dem Bildschirm, dessen Haare bei Weitem nicht mehr so richtig saßen, wie sie es zu besseren Zeiten getan hatten, machte eine bedeutungsschwangere Pause. Auch hatte augenscheinlich die gesamte noch vorhandene Menge von Makeup und Puder nicht gereicht, die tiefen Augensäcke des Mannes zu überdecken. Er wirkte müde und verbraucht, während er die Worte von seinem Teleprompter ablas. Gleichzeitig schwang in seiner Stimme eine leise, unausgesprochene Angst mit, die er jedoch mit der Professionalität eines Reporters überspielen wollte, der es gewohnt, war über schreckliche Dinge zu berichten.

»Hiermit beenden wir unser Programm. Ich«, diesmal versagte ihm die Stimme trotzdem. Peinlich berührt blickte er an der Kamera vorbei. Vielleicht stand dort ein geliebter Mensch, den er in dieser Situation an seiner Seite hatte wissen wollen, vielleicht hatte es jedoch auch nichts zu bedeuten. Seine Stimme bebte und seine Augen glitzerten feucht. Er schluckte zweimal schwer, bevor er endlich die Contenance wiederfand und weitersprach.

»Eigentlich sollte ich mich jetzt bei Ihnen bedanken. Für die Treue zu unserem Sender und für die Unterstützung, die ich durch Sie in Ihren unzähligen Briefen erfahren habe.« Er machte eine Pause und blickte wieder neben die Kamera. Sein Blick wurde plötzlich stärker und direkter. Langsam fand er wieder zu der alten Professionalität, mit der er damals das erste Mal vom Asteroiden berichtet hatte.

»Aber ich glaube, dass Sie dies nicht hören wollen. Nachrichten haben immer eine besondere Funktion: Wir vermitteln Informationen und Neuigkeiten, klären die Menschen auf und helfen ihnen bei ihrer Meinungsbildung. Aber das können wir nun nicht mehr. Ab morgen wird es keine Nachrichten mehr geben – und auch keine Erde mehr, zumindest nicht mehr so, wie wir sie kennen. Ich – ich habe mich immer gefragt, was ich Ihnen in diesem Fall sagen soll. Als damals »Bright Bob« entdeckt wurde, war dies mein erster Gedanke: Was, wenn wir ihn nicht aufhalten können? Was soll ich dann meinen Zuschauern sagen? Heute sitze ich hier – und weiß es noch immer nicht. Vielleicht sind Sie gläubig, vielleicht sind Sie es nicht. Ich bin es nicht und als Reporter, Journalist und vor allem Familienvater gebe ich Ihnen heute keine Information mehr, sondern einen Ratschlag: Verbringen Sie die letzten Stunden auf Erden mit denen, die Sie lieben oder mit dem, was Sie am liebsten getan haben.«

Wieder ein kurzes Zögern. »Darum bin ich hier. Ich habe diesen Job geliebt.« Er brach ab und räusperte sich. »Ich habe diesen Job geliebt.« Er blickte an der Kamera vorbei. Seine Augen glitzerten noch stärker, als wäre er jede Sekunde so weit, wie ein Kind loszuweinen. »Es tut mir so leid«, flüsterte er mit belegter Stimme und weinte, vielleicht eine Minute lang. Eine Frau kam ins Bild, legte ihm die Hand auf die Schulter. Ihr Gesicht konnte man nicht sehen, denn sie wandte der Kamera ihren Rücken zu. Auch das, was sie mit diesem Mann flüsterte, war nicht zu hören, obwohl das Mikrofon voll aufgedreht war.

Der Moderator nickte immer wieder und schien langsam wieder etwas Kraft zu schöpfen. Irgendwann ging die Frau seitlich aus dem Bild. Sein Blick wurde wieder fester, ebenso wie seine Stimme. Nur die Tränen, die immer noch in kleinen Bächen seine Wange hinunterliefen, straften seine äußerliche Ruhe lügen.

»Ihnen allen viel Glück.« Eine Pause. Gefasst fuhr er fort. »Es sind nun noch sieben Stunden bis zum Aufschlag.«

Damit wurde das Bild schwarz. Sie spielten nicht die typische Erkennungsmelodie am Schluss, und es schlossen sich auch keine Wetterberichte an. Stattdessen zeigte der Fernsehbildschirm nur einen Countdown, der nun bei 7:12:03 stand.

Sieben Stunden, zwölf Minuten, drei Sekunden, eine ungefähre Schätzung, nicht mehr.

Noah schaltete den Fernseher aus und streckte sich mit knackenden Knochen. Aus seinem Schlafzimmer war ein leises Röcheln zu hören. Er kannte den Namen der Frau nicht, die dort auf seinem Bett lag und sich gerade eine Überdosis gesetzt hatte.

Vielleicht hätte er irgendwie versuchen sollen, ihr zu helfen, aber er konnte es nicht. Er wusste nicht, wie viel Gras er geraucht hatte. Vor knapp vier Stunden hatte er sich überlegt, ob er ebenfalls Heroin ausprobieren sollte, aber war beim Gras und beim Koks geblieben. Seine Begleiterin hatte er auf einer Drogenparty in der Innenstadt von Konstanz getroffen und sie mitgenommen. Es war nicht mehr schwer.

In den letzten Monaten hatte er eine Art von Devolution erlebt. Von einer funktionierenden, halbwegs friedlichen Gesellschaft hatte sich Deutschland innerhalb von wenigen Monaten zu einem panischen, anarchischen und brutalen Haufen entwickelt, der wie die Tiere nur noch auf primitive Urinstinkte reduziert war.

In seinem Schlafzimmer lag gerade das perfekte Beispiel für eben diese Entwicklung. Die Frau war Doktorandin an der Universität gewesen. Sie wäre kurz vor der Vollendung ihrer Arbeit gewesen, hatte sie ihm gesagt. Eine strahlende wissenschaftliche Karriere hatte vor ihr gelegen, ein Leben zwischen Vorlesungssälen, Seminaren und akademischen Würden in aller Welt. Aber jetzt würde ihr Leben mit einer Nadel im Arm enden, im Schlafzimmer eines Mannes, dessen Namen sie wahrscheinlich nicht kannte.

Wie ein Feuerwehrmann, der sich seine Sauerstoffmaske über das Gesicht gezogen hatte, klang es aus seinem Schlafzimmer. Ein rasselndes, quietschendes Geräusch, welches immer leiser wurde, bis es irgendwann verstummte.

Noah wollte schlafen. Mühsam kämpfte er gegen die Müdigkeit an, die sich als ein fast übermächtiger Feind erwies. Die Drogen in seiner Blutbahn ließen seine Glieder sich anfühlen, als wären sie mit einem bisher nicht entdeckten Schwermetall gefüllt. Torkelnd versuchte er sein Badezimmer zu erreichen, was er nach einer halben Ewigkeit auch endlich schaffte. Sein Schädel wummerte in unkontrollierten Schwindelanfällen, die ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen versuchten.

Er hämmerte auf den Lichtschalter direkt neben der Eingangstüre und die kleine Lampe, die unter einem alten Glasschirm versteckt war, flackerte ohne zu murren auf.

Es wunderte ihn, dass der Strom noch floss. Ebenso, dass das Wasser noch lief, als er den Hahn aufdrehte und eiskaltes Wasser in das Waschbecken laufen ließ. Er stellte sich vor, dass irgendein Mensch noch in den Stadtwerken saß und verzweifelt versuchte, alles am Laufen zu halten, einsam wie der Mann auf dem Mond. Irgendwie machte ihn dieser Gedanke wehmütig, auch wenn sein benebelter Verstand nicht ergründen konnte, warum.

»Ich habe diesen Job geliebt. Darum bin ich hier.« Die Worte des Moderators klangen noch leise in seinem Kopf nach und genügten ihm in dieser Sekunde als mögliche Erklärung.

Er steckte seinen Kopf ins Waschbecken. Wieder diese Müdigkeit, die ihn sogar jetzt fast einschlafen ließ, während sein Körper gegen die brutale Behandlung mit eiskaltem Wasser rebellierte.

Sein Gesicht begann erst zu kribbeln, bevor die Blutgefäße im Gesicht sich zusammenzogen und der typische, stechende Schmerz einsetzte, den man empfand, wenn eine Unterkühlung drohte. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er in Watte eingepackt und ihm in den letzten Stunden fremd geworden.

Nach einer Weile begannen seine in den letzten Wochen stark malträtierten Lungen zu protestieren und mit einer kompromisslosen Beständigkeit nach Luft zu fordern. Irgendwann musste er diesem Drang nachgeben und tauchte prustend wieder auf.

Das Wasserbad hatte etwas Wirkung gezeigt. Während er laut schnaufend nach Luft schnappte, merkte er, wie sich das Blei in seinen Gliedern verflüssigte und er wieder etwas wacher wurde. Auch die tumbe Taubheit in seinen Gliedern wich einem wachsenden Gefühl, dass sein Arm wirklich zu ihm gehörte.

Er wiederholte diese Prozedur noch mehrmals, bis er sich fitter fühlte. Eigentlich war er immer noch weit davon entfernt, nüchtern oder überhaupt auch nur ansatzweise zurechnungsfähig zu sein, aber es würde wohl reichen, um zu seiner Verabredung zu gehen.

»Miau.«

Sein schwarzer, dicklicher Kater stand in der Badezimmertür und betrachte neugierig sein Herrchen. Müde gähnte die Katze und machte einen Buckel, bevor sie sich langsam und graziös auf Noah zubewegte. Laut schnurrend strich er um die Beine seines Herren und presste seinen Körper mit aller Kraft dagegen.

Er beugte sich hinunter und streichelte das Kinn des Tieres, welches genüsslich die Augen schloss und die Streicheleinheiten genoss.

»Hast du Hunger?«, fragte Noah mit undeutlicher Stimme. Seine Stimmbänder waren immer noch etwas von den Drogen gelähmt. Er musste sich mehrmals an der Wand abstützen, als er aus dem Badezimmer über seinen kahlen Flur in Richtung Wohnzimmer schwankte. Es wunderte ihn, dass sein Kater verstanden hatte, was er gerade gesagt hatte. Die Worte waren ihm wie ein undefinierbarer Buchstabenbrei vorgekommen, den er wie einen Kloß im Hals hochgewürgt hatte. Seine Katze jedoch, nun in freudiger Erwartung auf ihr Fressen, trippelte ihm zwischen den Beinen durch und miaute immer wieder hektisch.

»Gleich, gleich, mein Schatz«, murmelte Noah, als er endlich im Wohnzimmer war. Aus einem kleinen Futtermittelschrank, den er an seiner linken Wand direkt neben dem Katzenklo hingestellt hatte, holte er eine Dose Nassfutter heraus.

Das Tier wusste nun nicht mehr so richtig, wo es zuerst hinrennen sollte. Immer wieder raste der Kater zu seinem Fressnapf, welcher an der anderen Wand neben seinem deckenhohen Kratzbaum stand, nur um dann festzustellen, dass er noch immer leer war.

In seiner Unsicherheit, warum es noch kein Futter hatte, sprang das Tier in seinen Kratzbaum, legte sich kurz in seine Kuschelhöhle, sprang wieder heraus, rannte wieder zu Noah, miaute mürrisch, weil er es nicht schaffte, die Dose zu öffnen, rannte wieder zu seinem Fressnapf und zurück zu seinem Kratzbaum.

Als Noah endlich die Dose geöffnet und den Inhalt in den Napf geleert hatte, gab es für das Tier kein Halten mehr. Als hätte er die letzten Monate nichts zu fressen bekommen, stürzte er sich auf das Futter, verschlang es mit einer Gier, die ans Obsessive grenzte. Laut schmatzend schlang er alles bis auf den letzten Bissen hinunter.

Noah beobachte das Tier und fühlte sich auf einmal traurig, nur wusste er nun genau, woher diese Emotion kam. Es waren diese Abschiede, die einem so unendlich schwer fielen. In diesem Moment war er fast schon glücklich, dass er seit Jahren keinen Kontakt mehr mit seinen Eltern gehabt hatte und auch nicht das Bedürfnis empfand, dies zu ändern.

Aber sein Tier war seit fast vier Jahren sein ständiger Begleiter. Ein Begleiter, der immer da war, nie verurteilte und nie Vorwürfe machte. Eine bedingungslose Liebe, die er mit seinem Herren geteilt hatte.

Noah wandte sich ab, bevor er anfing zu weinen.

Er musste sich anziehen. Nackt wollte er nicht an den See gehen. Der letzte Ort in seinem Leben. Zum Glück hatte er noch ein paar Kleider in seinem Badezimmer, sonst hätte er jetzt ins Schlafzimmer gehen und dort die Leiche seiner Kurzzeitbekanntschaft sehen müssen. Sofern der »goldene Schuss« seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Dies war ein Anblick, den er sich gern ersparen wollte.

Er brauchte wieder eine halbe Ewigkeit, bis er im Badezimmer war, auch wenn es dieses Mal ein bisschen schneller und koordinierter ging. Er zog aus seinem Rattanwäschekorb ein vergilbtes T-Shirt und eine dreckige Hose, ebenso wie eine Unterhose und ein Paar Socken. Für eine Sekunde schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihn erzittern ließ in seiner Endgültigkeit.

Die letzte Kleidung, die ich je tragen werde. Diese Socken und diese Unterhose, dieses T-Shirt und diese Hose. Er würde in diesen Kleidungsstücken sterben. Wie viele andere »letzte Male« würde er noch erleben?

Es kostete ihn etwas Mühe, die Sachen anzuziehen, und er stellte sich ungeschickt an wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal selbst für seine Garderobe verantwortlich war. Sie muffelten etwas streng und einer konditionierten Handlung folgend nahm er sein Deo aus dem Regal und sprühte sich großzügig damit ein. Wenn ich sterbe, will ich nicht, dass der letzte Duft in meiner Nase der von Schweiß ist.

Wahrscheinlicher würde es jedoch wohl der Geruch nach verbranntem Fleisch sein. Die Erde würde zu einem riesigen Grillfest eingeladen werden. Auf dem Speiseplan stand: richtig, die gesamte Menschheit.

Guten Appetit.

Er seufzte leise und steckte seinen Kopf noch mal ins Wasser, um sich wacher zu machen. Es zeigte wieder etwas Wirkung, wenn auch nicht so sehr wie bei den ersten paar Malen, was wohl auch daran lag, dass es mittlerweile wärmer geworden war. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und die kleinen, perligen Wassertropfen verteilten sich über seinen grauen Badezimmerboden.

Es war Sommer – und was für einer.

Die Flora stand in voller Blüte, durchsetzte die Stadt mit einem angenehmen, wohlriechenden Duft, während sich im Bodensee aufgrund der Wärme wieder unzählige Algen bildeten. Dies führte dazu, dass der See besonders intensiv roch, was Noah als sehr angenehm empfand. Es war, als würde die gesamte Stadt vom Duft des Sees umschwebt, vor allem wenn der Wind günstig stand. Wenn nicht, dann lag ein anderer Geruch über Konstanz, der wie eine dunkle Prophezeiung das ankündigte, was in wenigen Stunden bittere Realität sein würde. Gerade jedoch strömten nur angenehme Aromen durch sein Fenster, die für ihn nach Sommer rochen. Verrottende Algen und Blumen, die sich ein letztes Mal aufbäumten, bevor der Herbst kommen und ihre intensiven Gerüche bis zum nächsten Jahr verschwinden würden. Manchmal verbanden sich die beiden Düfte auch zu einem Potpourri aus Blütenduft und See, was in Noah früher immer eine fast ekstatische Wirkung gehabt hatte.

Eigentlich hätten die Freibäder diese Saison wohl ein sehr gutes Geschäft gemacht, aber sie waren alle geschlossen geblieben. Die Menschen hatten andere Dinge im Sinn gehabt, als schwimmen zu gehen. Die, die es getan hatten, waren meistens nie wieder aus dem Wasser rausgekommen.

Sein Kater stand nun wieder in der Tür und leckte sich noch genüsslich die Lefzen. Dabei schnurrte er in einem wohligen Ton, der leise in Noahs Magen vibrierte wie eine Stimmgabel.

Noah drehte sich um und lächelte sanft auf das Tier herab. Langsam bewegte er sich auf den Kater zu und hob ihn hoch. Genüsslich schnurrte das Tier noch lauter und legte den Kopf auf die Schulter seines Herren. Die Augen waren in blindem Vertrauen geschlossen. Sein Körper war schwer und warm und ließ die Stellen an denen er auflag, schwitzen.

Langsam, jeden Moment mit seinem Kater genießend, ging Noah zurück in das Wohnzimmer, wobei er mit der freien Hand immer wieder den Kopf des Tieres streichelte. Er spürte einen Kloß im Hals, der sich langsam seinen Weg in seine Eingeweide bahnte.

Seufzend ließ er sich auf seine Couch fallen, die unter seinem Gewicht leise quietschte. Normalerweise hätte ihn es gestört, dass der Kater seine Haare über Noahs gesamte Kleider verteilte, aber heute war es ihm egal. Er legte ihn vorsichtig auf seinen Schoß, sodass sein Kater mit seinem Rücken zwischen seinen Beinen lag. Seine Pfoten hingen schlapp hinunter und zuckten ab und zu leicht, als würden kleine, wohlige Schauer hindurchfließen.

Zärtlich kraulte Noah den runden, prall gefüllten Bauch seines pelzigen Lieblings, der von seinem tiefen, sonoren Schnurren vibrierte.

»Na du? Ich hoffe, du nimmst mir nicht übel, was ich mit dir machen muss«, flüsterte er leise. Die Katze ignorierte das. Ihre Augen blieben immer noch geschlossen und das Schnurren blieb unverändert laut, als würde es für in diesem Moment nur die Streicheleinheiten und den bequemen Platz auf Herrchens Schoß geben.

Das Tier wirkte absolut friedlich. Im perfekten Einklang mit sich und der Welt und in einer Art Zustand, den Noah hoffte, in den nächsten Stunden ebenfalls zu erreichen. Er hatte es bisher nicht geschafft, diesen mit Drogen und Alkohol herbeizuführen, vielleicht würde er es nachher mit seinen Freunden schaffen.

Die wichtigsten Menschen in seinem Leben.

»Sei mir bitte nicht böse«, flüsterte er nochmals leise.

Seine Hand legte sich sanft um den Hals des Tieres, schloss sich zärtlich, als würde er eine antike Vase umfassen, die bei zu großem Druck zerspringen würde.

Zuerst kraulte er noch ein bisschen, vorsichtig und liebevoll, ließ das Fell durch seine Finger gleiten, ebenso wie die weiche Haut, die sich darunter versteckte.

Dann packte er grob zu und drehte den Kopf seines Katers einmal schnell nach links.

Das Knacken der Halswirbel schien durch den Raum zu hallen wie ein Missakkord auf einer Orgel.

Die Katze miaute nicht auf. Sie erschlaffte einfach nur noch etwas mehr in ihrer Position auf dem Schoß. Das Schnurren erstarb augenblicklich.

Vorsichtig streichelte Noah noch etwas weiter über den Bauch des Tieres, dann über dessen Kopf, der jetzt wie eine zu weich gekochte Nudel herunterhing und leicht baumelte. Tränen stiegen ihm in die Augen, als er sich der plötzlichen Stille im Raum bewusst wurde. Die Lefzen seines Katers hingen hinunter, sodass die Zähne entblößt wurden. Aber kein Schnurren oder wenigstens ein sanftes Atmen kam mehr aus dem Maul.

Er küsste zärtlich die Schnauze, streichelte über die Barthaare und über die dicken Backen der Katze. Das hatte sein Tier immer am meistens geliebt und hingebungsvoll seinen Kopf noch fester gegen Noahs Finger gepresst.

Jetzt passierte nichts.

Die leicht gelblichen Zähne des Tieres glitzerten noch von dessen Speichel. Gelblich – eigentlich hätte Noah seinem Kater die Zähne reinigen lassen müssen. Wenn man nur Nassfutter fraß, konnte sich irgendwann Zahnstein bilden, hatte ihm mal sein Tierarzt gesagt.

Das war nun aber auch nicht mehr wichtig.

Er hatte den Mann vor ein paar Tagen vor seiner Praxis gefunden, mehr durch Zufall als durch Absicht. Als er bei einem Spaziergang – rückblickend wusste er gar nicht mehr, was sein Ziel an diesem Abend gewesen war – an dem Haus vorbeikommen war, in dem sein Tierarzt gearbeitet hatte, war ihm durch das offene Fenster aufgefallen, dass ein Mensch dort in der Ecke kauerte. Als er näher gekommen war, hatte Noah entdeckt, dass es eben der Tierarzt seines Katers gewesen war. In seinem Arm hatte eine Nadel gesteckt und neben ihm hatte eine Ampulle mit einem sehr starken Schmerzmittel gelegen, welches er immer in seinem Giftschrank eingeschlossen hatte.

Er hatte sich mehr oder minder selbst eingeschläfert. Konnte man das als Ironie bezeichnen?

»Mach es gut, mein Dicker«, flüsterte Noah und hob sanft die Katze hoch. Den Kopf hielt er in seiner linken Hand, damit er nicht wie das Pendel einer Uhr hin und her schwang. Vorsichtig bettete er sein Tier in seine Kuschelhöhle.

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