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Während die Seilbahn langsam ins Tal hinunterfuhr, hing Katharina die ganze Zeit am Telefon. Selma hörte nicht hin. Sie schaute aus dem Fenster, schoss einige Fotos mit der Kamera, machte mit dem Smartphone ein Selfie, das sie an Marcel schickte: «Der Berg ruft. Wir werden Alpinisten.»
Nach wenigen Sekunden schrieb Marcel zurück: «Wir?»
Selma: «Wir! Sport tut dir auch gut.»
Marcel schickte nur ein nachdenkliches Emoji zurück.
Selma: «Nicht überlegen. Machen!»
Marcel: «Verstanden!»
Selma: «Ein gemeinsames Hobby tut uns gut.»
Marcel: «Wie meinst du das?»
Selma zuckte innerlich zusammen, starrte auf den Bildschirm, las ihren letzten Satz noch einmal: «Ein gemeinsames Hobby tut uns gut.» Ja, wie meinte sie das? Sie hatte es spontan geschrieben. Aber: War es nicht die Wahrheit? Selmas Hobbys waren die Malerei und die Fasnacht. Marcel kochte oft und gerne und las ein kluges Buch nach dem anderen. Aber ein gemeinsames Hobby hatten sie nicht. Zusammensein, ausgehen, spazieren, wandern, Freunde treffen – Selma fragte sich: Gilt solches als Hobby? Muss man als Paar nicht gemeinsame Interessen haben? Waren ihre vorherigen Partnerschaften nicht deswegen gescheitert? Was hatte sie mit Robert, dem etwas oberflächlichen Banker, gemeinsam? Ausser heissem Sex. Mit Christian, dem viel zu lieben Familienmenschen, der gerne zu Hause hockte oder in seiner Garage an seinem Oldtimer herumschraubte? Mit Alejandro, dem unter Dauerstrom stehenden Manager? Nichts. Ja, Selma und Marcel brauchten ein gemeinsames Hobby. Aber warum stellte sie sich überhaupt solche Fragen?
«Na?», sagte Katharina. «Alles klar?»
«Ähm, ja, sicher», sagte Selma, steckte das Smartphone weg und schaute zum Fenster hinaus. Die Kabine erreichte soeben die Talstation.
«Ich habe mit Julia telefoniert. Wenn du möchtest, könnten wir sie gleich treffen. Sie ist in Pontresina. Oder hast du keine Zeit mehr?»
«Doch, schon, ich muss mir aber noch ein Hotelzimmer organisieren.»
«Das ist das kleinste Problem», sagte Katharina. «Wir sind noch in der Vorsaison.»
Während der Autofahrt von der Talstation der Diavolezza-Bahn nach Pontresina erzählte Katharina, dass sie im Winter als Schneesportlehrerin und im Sommer als Bergführerin arbeitete.
«Und dazwischen?»
«Conrad und ich bauen uns gerade ein Netzwerk auf, um als Tourenleiter auch im Ausland tätig zu sein. Julia unterstützt uns dabei mit ihrem Netzwerk.»
«Toll», sagte Selma. «Dann macht ihr alles gemeinsam. Geht das überhaupt?»
«Das werden wir sehen. Wir kennen uns schon so lange. Wird schon klappen.»
«Schön», sagte Selma und dachte an Marcel. Ein gemeinsames Geschäft konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Passte schon beruflich nicht. Alles gemeinsam zu machen – das wäre für Selma dann doch zu viel. Sie unterbrach ihren Gedankengang: «Wer war eigentlich dieser ältere Herr da oben im Liegestuhl?»
«Carlo», sagte Katharina. «Das war Carlo. Unser Bergsteiger-Crack. Er ist in Rente und musste seiner Frau versprechen, keine gefährlichen Touren mehr zu machen und immer rechtzeitig nach Hause zu kommen. Also wandert er meist die Diavolezza hinauf oder zum Muottas Muragl, einfach überall, wo es eine Bahn hat, mit der er hinunterfahren kann. Sein rechtes Knie ist kaputt. Aber er will es nicht operieren lassen. Trotzdem besucht er ab und zu auch die Berghütten, die mit keiner Bahn zu erreichen sind. Dann erzählt er von seinen vielen Erlebnissen und kommt kaum mehr ins Tal hinunter wegen der Schmerzen.»
«Er hat mich so seltsam angestarrt.»
«Du hast ihm halt gefallen.» Katharina schmunzelte. «Carlo ist ein guter Typ. Er ist für alle Bergsteiger ein Vorbild. Hatte nie einen schlimmen Unfall. Manchmal ist er schon ein …» Katharina konzentrierte sich auf die Strasse. Es folgte eine Haarnadelkurve, Katharina bremste, schaltete zurück und fuhr äusserst vorsichtig weiter.
Selma lächelte. Sie erinnerte sich an den halsbrecherischen Fahrstil Martinas, dem Wirbelwind auf der Alp im Berner Oberland. Selma müsste sich wirklich wieder einmal bei ihr melden. Sich nach Res und ihrem gemeinsamen Sohn erkundigen. Sie vielleicht sogar einmal besuchen!
«Also», sagte Katharina nach der engen Kurve, «Carlo ist manchmal ein etwas seltsamer Kauz. Sehr gläubig. Er wohnt wie ich in Pontresina. Chesa Pio. Benannt nach dem heiligen Padre Pio. Carlos Frau ist Italienerin und noch viel gläubiger als er. Und ihr gemeinsamer Sohn Tomaso ist Helikopterpilot in Samedan.»
Katharina fuhr vorsichtig durch die nächste Kehre. Selma fühlte sich sicher. «Wenn du so besonnen bergsteigst wie du autofährst, dann bin ich dabei», sagte Selma.
«Freut mich.»
Den Rest der Fahrt schwiegen die beiden Frauen. Selma musste gegen die Schläfrigkeit ankämpfen.
Als Selma und Katharina wenige Minuten später Pontresina erreichten, parkierte die Bergführerin das Auto vor einem Sportgeschäft mit der Bemerkung, dass sie eine gute Kundin sei und ausserhalb der Saison ihr Auto hier abstellen dürfe. Sie stiegen aus, gingen ein paar Schritte und betraten ein renoviertes Engadinerhaus: wuchtige Mauern, kleine Fenster, verzierte Fassade, mit verschiedenen geometrischen Formen bemalte Ecken und Kanten. Katharina ging durch die Lobby – das Haus war offensichtlich ein Hotel, was Selma von aussen nicht aufgefallen war – und öffnete eine schwere Eisentüre, über der «Bar» geschrieben stand. Dahinter war es düster. Und alles war aus Eisen. Die Tische, die Stühle, der Tresen, die Kerzenständer. Die Bar war offensichtlich ein Szenelokal, nannte sich Selinas Place, und hätte auch in Basel, Zürich, Mailand, London oder New York sein können.
Selma wollte sich etwas genauer umsehen. Doch plötzlich betrat eine blonde junge Frau die Bar, umarmte Katharina und begrüsste danach Selma ebenfalls mit einer Umarmung, allerdings eher mit einer angedeuteten. Selma fielen sofort die hellgrünen Augen auf, die etwas giftig, aber auch geheimnisvoll wirkten.
«Selma Legrand-Hedlund, welch grosse Ehre», sagte die Frau strahlend. «Ich bin Julia und eine grosse Bewunderin von dir.» Julia hatte eine weiche, sympathische Stimme.
«Oh», sagte Selma. «Du machst mich verlegen.»
«Du bist die Wolfsfrau und machst meine Hochzeitsreportage perfekt.»
«Hochzeitsreportage?», fragte Selma irritiert.
«Genau, Hochzeitsreportage. Hat man dir das nicht gesagt?»
«Nicht wirklich.»
«Also, pass auf, liebe Selma. Ich kann dich doch nicht nur als Hochzeitsfotografin engagieren, hallo?» Dann erzählte sie äusserst aufgeregt, dass sie sich ein ganzes Buch wünsche mit vielen tollen Fotos und schönen Texten.
Aha, dachte Selma. Das rechtfertigte nun auch das hohe Honorar. Viel Arbeit. Aber trotzdem noch immer sehr gut bezahlt.
Julia erzählte von ihrem Konzept. Erstes Kapitel: Die Hochzeit in der kleinen Kapelle im Fextal. Zweites Kapitel: Das Fest in der Chesa Lej da Diavolezza, der Villa in St. Moritz. Drittes Kapitel: Das Brautpaar auf dem Piz Bernina. Und auf dem Titel sollte der Gipfelkuss zu sehen sein. «Ich bin so glücklich, euch beide in meinem Team zu haben», beendete Julia ihren Vortrag. Dann bestellte sie beim mürrisch dreinschauenden Barkeeper drei Glas Sekt.
Das war sie also, die Braut. Die Braut, die Jonas Haberer «stinkreiche Tussi» genannt hatte. Aber nichts deutete darauf hin, dass sie tatsächlich eine solche war. Julia trug ein verwaschenes T-Shirt und keinen Schmuck. Sie war nicht einmal geschminkt. Auch im Gespräch wirkte sie alles andere als arrogant. Sie interessierte sich für Selmas Arbeit, für ihre Erlebnisse, für die Wölfe und für Selmas Mission, sich für den Tier- und Naturschutz einzusetzen.
Selma hatte auch rasch erkannt, dass Julia eine wohlerzogene, gebildete Frau aus besserem Hause war. Wie sich Julia ausdrückte, wie sie zuhörte, wie sie sich bewegte – all das erinnerte Selma an ihre Mutter Charlotte. Und natürlich an sie selbst.
Was Selma ebenfalls auffiel: Julia schwärmte für Stefano wie ein Teenager. Auf dem Smartphone zeigte sie Bilder von ihm. Ja, da hatte Haberer wohl recht. Stefano entsprach dem Bild des italienischen Machos hundertprozentig: Schwarze Haare, dunkler Teint, auf den meisten Bildern trug er eine Sonnenbrille und lächelte charmant in die Kamera. Manchmal etwas schief, aber durchaus sexy.
«Wir drei Frauen gehen die Himmelsleiter hinauf und finden zu unserem Glück», sagte Julia und hob ihr Glas.
Nach dem Prosten schickte sie Selma ihre Kontaktdaten als Visitenkarte aufs Handy und sagte: «Du kannst mich jederzeit anrufen. Selma, es ist so schön, dass du in meinem Team bist.»
Team? Schon wieder erwähnte sie das. Was Selma etwas seltsam vorkam. Selma nahm einen Schluck Sekt, schaute sich die virtuelle Visitenkarte an. Und hätte sich beinahe verschluckt.
Julia von Gernhild stand da.
War sie, Selma Legrand-Hedlund, tatsächlich die Hochzeitsfotografin von Julia von Gernhild?
10
«Mama, was für eine Überraschung!», sagte Elin, als sie Charlotte die Türe ihres Hauses in Riehen öffnete. «Willkommen in meiner versnobten Villa.» Das Wort «versnobt» betonte sie.
«Elin, Liebes», säuselte Charlotte. «Versnobt habe ich noch nie gesagt. Aber es ist eine Villa, und ich bin hier.» Charlotte wechselte in einen sachlichen Tonfall: «Ich muss dringend mit dir reden.»
«Ist in Basel das Haus ‹Zem Syydebändel› abgebrannt, ein neues Virus im Anmarsch oder ein Absatz deiner High-Heels abgebrochen?»
«Mir ist nicht nach Scherzen zumute», sagte Charlotte trocken.
«Kaffee?»
«Wasser, bitte. Diese Hitze ist unerträglich.» Sie fächerte sich mit den Händen Luft ins Gesicht.
«Möchtest du in unseren Pool?»
«Mon dieu, Elin, wie dekadent!» Charlotte lachte kurz. «Das war ein Scherz.»
«Dann bist du also doch zu Scherzen aufgelegt», sagte Elin, füllte aus dem in den Kühlschrank integrierten Wasserspender ein Glas Wasser und reichte es ihrer Mutter.
«Nicht, wirklich, Elin. Ist alles in Ordnung bei euch? Wie geht es Eric? Wie geht es meinen lieben Enkeln Sören und Sven?»
«Alles bestens. Die Buben sollten bald nach Hause kommen. Also Mama, was ist so dringend, über das wir nicht am Telefon hätten reden können?»
«Wie du weisst, kommt Arvid Bengt Ivarsson in die Schweiz. Zusammen mit seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seinen Enkeln.»
«Ich freue mich. Das ist schön.»
«Sehr schön.»
«Ist das nun zynisch …»
«Nein. Es ist mir ernst. Aber ich muss vorher noch etwas herausfinden. Und dazu brauche ich deine Hilfe.»
«Schiess los!»
Charlotte nippte an ihrem Glas, nahm aus ihrer Handtasche ein Taschentuch, tupfte die Lippen vorsichtig trocken, sodass der bordeauxrote Lippenstift nicht verschmiert wurde, fischte ein neues Taschentuch aus der Packung und tupfte die Schweissperlen von ihrer Stirn. «Diese Hitze», seufzte sie. «Der Buschauffeur entschuldigte sich. Er meinte, die Klimaanlage sei bei diesen Temperaturen überfordert.»
«Du bist mit dem Bus gekommen?»
«Natürlich, Liebes, natürlich.»
«Warum hast du kein Taxi genommen?»
«Elin, ich bitte dich.»
«Wenn du zum Abendessen bleibst, wird dich Eric sicher nach Hause fahren.»
«Ihr seid gütig.»
«Also, Mama, worum geht es?», hakte Elin etwas forscher nach.
Charlotte räusperte sich, sah ihrer Tochter in die Augen und sagte: «Ich brauche einen Saal. Einen grossen Saal mit guter Beleuchtung.»
Elin blickte etwas irritiert und fragte: «Planst du eine Party? Brauchst du einen DJ? Discokugeln?» Sie hob die Hände und wippte hin und her.
«Nein.»
«Bon. Du willst Arvid Bengt und seiner Familie einen Empfang bereiten. Roter Teppich, Catering, Blumenmeer?»
«Ich merke, diese mörderische Hitze bekommt dir nicht gut», meinte Charlotte schnippisch.
«Excusé, Maman. Worum geht es dann?»
«Um Kunst.»
«Du planst eine neue Ausstellung für Selma? Wunderbar. Die Wolfsbilder kommen sicher sehr gut an. Meiner Meinung nach sind das Selmas beste Werke. Vielleicht nicht die künstlerisch wertvollsten, aber sicher die populärsten.»
«Deine Einschätzung ist nicht einmal so verkehrt, Liebes. Aber nein, es geht nicht um eine Vernissage. Es geht mehr … sagen wir mal, es geht um ein Experiment.»
«So richtig wissenschaftlich?»
«Könnte man sagen.»
«Ich bin dabei.»
«Könntest du also einen Saal organisieren?»
Elin überlegte kurz. Dann sagte sie: «Ich könnte den Riehener Gemeindepräsidenten fragen, ob wir den Bürgersaal im Gemeindehaus benutzen dürfen. Der hat grosse Fenster und auch eine gute Beleuchtung.»
«Kennst du denn den Gemeindepräsidenten?»
«Klar.»
«Chapeau. Du scheinst in diesem noblen Kaff angekommen zu …»
«Omi!», schrie plötzlich eine Kinderstimme. «Grand-mère!», eine zweite. Dann stürmten die beiden Buben Sven und Sören in die Stube und umarmten Charlotte. Sie war etwas überfordert und versuchte, die beiden auf Distanz zu halten.
«Kommst du auch baden?», fragte Sören.
«Baden? Mon dieu!»
«Bitte, bitte, bitte!»
Tatsächlich war Madame Charlotte Svea Legrand-Hedlund zwanzig Minuten später im kleinen Pool und lieferte sich mit ihren Enkeln eine Wasserschlacht. Sie trug einen Bikini ihrer Tochter, der ihr zwar etwas zu gross war, in dem sie sich aber dennoch wohlfühlte.
Elin sass am Beckenrand, streckte ihre Füsse ins Wasser und staunte über ihre eigene Mutter. So fröhlich hatte sie sie seit Langem nicht gesehen. Lag es an Sören und Sven? Lag es an diesem Kunstexperiment? Oder lag es daran, dass ihre einstige grosse Liebe Arvid Bengt Ivarsson bald zu Besuch kam?
Charlotte blieb fast eine Stunde im Wasser. Erst als ihr Schwiegersohn nach Hause kam und die Bespassung von Sören und Sven übernahm, kletterte sie aus dem Pool.
«Mein Make-up ist ruiniert», bilanzierte sie als erstes.
«Das lässt sich reparieren, Mama», meinte Elin. «Magst du jetzt einen Kaffee?»
«Eine wundervolle Idee», sagte Charlotte. «Ich fühle mich wie zwanzig.»
«Oder eher wie Ende zwanzig?»
«Bitte?»
«Schweden. Mittsommerfest. Arvid Bengt?»
«Mach dich ruhig lustig über mich. Ich zieh mich um, du kochst Kaffee.»
«Und bereite unser Znacht vor. Café complet?»
«Oh, sehr gerne. Esst ihr überhaupt sowas? Kein Filet Mignon heute?»
«Maman!»
Charlotte lächelte. Seit Elin mit ihrer Familie im Villenquartier, wie es Charlotte nannte, in Riehen wohnte, zog sie ihre Tochter gerne damit auf. Elins Mann Eric musste wirklich gut verdienen. Auch wenn er in Charlottes Augen «nur» für eine Versicherung arbeitete. Pharma oder Bank hätte sie bevorzugt. So wie ihr Ehemann, der Bankier Dominic-Michel oder ihr Vater Hjalmar. Aber gut. Über Geld sprach man in der Familie Legrand-Hedlund eh nicht. Man hatte es. Und lebte sparsam. Bei Charlotte hatte es immer Café complet zum Abendessen gegeben. Milchkaffee, Brot, Käse, Joghurt. Manchmal noch Salat oder Obst. Fleisch nur sonntags.
Als Eric seine Schwiegermutter nach dem Abendessen nach Hause fuhr, rutschte Charlotte etwas nervös auf dem Beifahrersitz herum. Er fragte, ob sein Fahrstil nicht in Ordnung sei.
«Nein, ich fühle mich sehr wohl. Ich habe nur vergessen, Elin etwas Wichtiges zu sagen.»
«Ruf sie doch an. Oder ich richte es ihr aus.»
«Das würdest du tun?», fragte Charlotte und tat so, als wäre sie erstaunt.
«Charlotte, ich werde es ihr ganz besonders ans Herz legen.»
«Das weiss ich doch», sagte Charlotte und lächelte. Natürlich hatte sie nicht vergessen, Elin etwas mitzuteilen. Es war Absicht, ihr Anliegen über Eric anzubringen. Sie war sich sicher, dass es Elin dann ernster nehmen würde. Zudem gab es dadurch einen für Elins Eheglück durchaus wichtigen Mitwisser. «Weisst du, ich habe Elin heute um einen Gefallen gebeten. Und ich würde es sehr bevorzugen, wenn Selma nichts davon erfahren würde.»
«Natürlich», sagte Eric kurz.
«Es soll eine Überraschung sein.»
«Natürlich», meinte Eric noch einmal. «Selma liebt Überraschungen.»
«Mais non, tut sie nicht», entgegnete Charlotte. «Das wissen wir beide. Aber sehr nett, dass du das gesagt hast. Ich nehme einmal mehr zur Kenntnis, dass du mich bestens verstehst.»
«Natürlich, meine liebe belle-mère.»
11
Selma hatte mal wieder einen Bad-Hair-Day. Sie sass im Zug zurück nach Basel und fummelte dauernd in ihren Haaren herum. Immer wieder schaute sie ihr Spiegelbild im Fenster an und zupfte an ihrer Frisur herum. Es war zum Verzweifeln. Lea musste ran. Auch wenn sie erst um Mitternacht Zeit hätte.
Selma hatte grottenschlecht geschlafen, was vermutlich daran lag, dass sie schon miesgelaunt ins Bett gegangen war. Sie hatte sich gleich im Hotel Selina ein Zimmer genommen, nachdem sie dort Julia von Gernhild getroffen hatte.
Julia war ein Spross der deutschen Familiendynastie von Gernhild, die mit dem Handel von Tuch, Gewürzen, Kaffee und Tee in Hamburg zu Reichtum gekommen war. Die Nachfahren des Firmengründers Werner von Gernhild vergrösserten das Unternehmen kontinuierlich, mischten in der Seefahrt mit, aber auch in der Waffenproduktion. Was dem Konzern nach dem Zweiten Weltkrieg einen herben Rückschlag verpasste und einen Schatten auf die Familie warf. Trotzdem schafften es die von Gernhild, sich zurückzukämpfen und erfolgreich zu wirtschaften. Ihr Vorteil war auch, dass der Name von Gernhild der breiten Öffentlichkeit nahezu unbekannt war, da es keine Produkte, Marken oder Firmen mit diesem Namen gab. Sämtliche Familienmitglieder achteten stets auf Diskretion. Von Julia von Gernhild, eine der wenigen direkten Nachkommen und der Haupterbin des Familienvermögens, gab es im Internet nur ein einziges Bild. Es zeigte sie lachend auf einer Bergspitze zusammen mit anderen Personen. Damals war sie deutlich jünger. Selma schätzte, dass sie vielleicht 17 oder 18 Jahre alt war. Die blonden Haare und vor allem die hellgrünen Augen waren schon damals sehr auffällig. Selma vermutete, dass das Foto bei einem Ausflug mit Schulkameraden des Lyceum Alpinum Zuoz geschossen worden war, einem international renommierten Institut im Engadin für Kinder wohlhabender Familien.
Selma war also die persönliche Hochzeitsreporterin einer Milliardenerbin. Damit war die Notwendigkeit des Verschwiegenheitsvertrags geklärt.
Das alles hätte Selmas Stimmung keineswegs in den Keller sacken lassen. Schliesslich war Julia eine nette, liebenswürdige und keineswegs arrogante Frau. Auch dass sie für einmal für eine private Reportage engagiert war, war okay. Was Selma aber sauer machte: Ihr Auftraggeber Jonas Haberer wusste das alles. Er wusste auch, dass es sich bei der sogenannten Wanderung mit dem Brautpaar um eine schwierige Tour auf den Piz Bernina handelte. Er hatte es ihr schliesslich gestern Abend am Telefon gestanden. Gewusst habe er es nicht wirklich, hatte er gesagt. Aber geahnt. Selma war sich sicher, dass Haberer bei seinem talentfreien Politikerkumpel Chasper Decurtins ein gewaltiges Honorar für sich herausgeschlagen hatte. Weil er genau wusste, dass Julia unbedingt Selma als Fotografin wollte. Und dass Geld keine Rolle spielte.
«Kotzbrocken», schimpfte Selma leise im Zug nach Basel. «Er war und ist und wird immer einer bleiben.» Sie erinnerte sich an ihre Zeit bei «Aktuell», einer grossen Gratiszeitung. Selma hatte gerade ihre Ausbildung zur Fotografin abgeschlossen. Jonas Haberer, damals der charismatische Chefredaktor dieser Zeitung, heuerte Selma an, machte sie zur Reporterin und hetzte sie von einer Story zur anderen. Wie alle anderen auch. Haberer war ein knallharter Boss und ging über Leichen. Und belog und schikanierte seine eigenen Leute. Hauptsache er bekam eine heisse Story. Der Erfolg gab ihm recht. Da er zudem keine Manieren hatte, verlieh ihm das Team den Übernamen «Kotzbrocken».
Mit den Manieren war es seither etwas besser geworden. Auch sein Umgang mit Menschen hat sich gebessert, dachte Selma. Aber sein neuster Streich bewies etwas anderes. Obwohl er sich entschuldigt und gesäuselt hatte, wie schwer ihm die Lügerei gefallen sei, er aber keine andere Möglichkeit gesehen hätte, um Selma für diesen Hochzeitsjob zu gewinnen. «Bla bla», machte Selma leise.
Sie versuchte, sich zu entspannen. Ihre Gedanken schweiften zum Piz Bernina, zum alten Bergführer mit dem weissen Schnauz, zu ihrem bevorstehenden Training und zu ihrem künftigen Hobby mit Marcel. Was ihre Emotionen gleich wieder hochschiessen liess. Der liebe Marcel hatte sich gestern Abend am Telefon wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, fand Selma. Warum es ihr so wichtig sei, dass sie ein gemeinsames Hobby hätten, hatte er gefragt. Meine Güte, was für eine Frage? Allein die Tatsache, dass sie «ein gemeinsames Hobby» überhaupt erwähnt hatte, zeigte doch, dass es ihr wichtig war. Männer! Schlimmer: Psychologen!
Als Selma in Basel ankam, war sie noch schlechter gelaunt. Nun störte sie auch die Hitze. Aber dann kam ihr ein Typ in Bergsteigerhosen, mit Steigeisen an den schweren Schuhen, einem umgehängten Seil, Helm und Gletscherbrille entgegen. Marcel!
«Ich mache alles mit», sagte er. «Wir trainieren in einer nach Schweiss und Arnika und Harz riechenden Kletterhalle. Aber den Piz Bernina lasse ich aus. Und das würde ich auch dir dringend empfehlen. Viel zu gefährlich. Da fallen Bergsteiger am Laufmeter hinunter. Okay, das ist übertrieben. Aber das schaffe ich nicht. Nenn mich Weichei oder Warmduscher. Ich bin ein Intellektueller. Ein intellektueller Tram- und Busfahrer. Ich bin ein Stadtmensch, kein Bergler. Ich bin auch kein Abenteurer. Aber ich liebe dich und werde deine Hand halten. Also unten, nicht auf dem Piz Bernina. Ich werde deine Muskeln massieren und dich psychisch stärken. Ich werde dir eintrichtern, dass du dich quälen musst. Du brauchst das. Du bist ein Tier, Selma.» Marcel machte animalische Geräusche. «Aber ich bin …»
«Du bist sexy», unterbrach Selma.
Als sie in Selmas Wohnung am Totentanz ankamen, fielen die beiden übereinander her und liebten sich trotz der enormen Hitze wild und leidenschaftlich wie damals in ihrer ersten Nacht in Engelberg.
«Du bist auch ein Tier», sagte Selma völlig verschwitzt danach.
«Ja, Selma, gib mir Tiernamen, bitte, bitte, dann kann ich gleich nochmal.»
Dann lachten beide, bis ihre Bäuche schmerzten.
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