Читать книгу: «Gipfelkuss», страница 2
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Der Vorsatz war da, aber mit der Umsetzung haperte es. Selma sass an ihrem Laptop, trank bereits den dritten Milchkaffee und hatte noch keinen Satz zustande gebracht. Der Cursor blinkte unaufhörlich unter der Anrede «Hei Nellie».
Selma hatte selten einen Schreibstau, wenn sie eine Reportage schreiben musste. Und wenn, dann half Kaffee. Aber in diesem Fall hatte auch das nichts gebracht.
Da sie nicht nur genügend Kaffee getrunken, sondern auch schon ihre Haare hatte frisieren lassen, gab es nur noch eines: einen Spaziergang. Oder Marcel. Oder beides. Sie schrieb Marcel eine Nachricht und freute sich, dass er kurz darauf antwortete. Sie verabredeten sich in einer Stunde in der Confiserie Seeberger an der Schifflände. Also würde sie vorher noch ein bisschen durch die Stadt spazieren. Sie warf einen prüfenden Blick in den grossen Spiegel, der im Entrée stand, war zufrieden und wollte ihre Wohnung verlassen. Doch dann drehte sie um, ging ins Schlafzimmer und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Ihr war in den Sinn gekommen, dass sie die kurze Jeanshose, die sie gerade anhatte, gestern Abend schon getragen hatte, als Marcel zu ihr gekommen war. Also musste sie etwas anderes anziehen. Nein, sie musste nicht, sie wollte. Marcel würde es wahrscheinlich nicht bemerken, aber schliesslich musste sie sich selbst gefallen. Zweimal hintereinander in den gleichen Kleidern zu erscheinen, ging nicht. Das hatte sie von ihrer Mutter Charlotte gelernt.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es war erneut ein heisser, wolkenloser Frühsommertag. Selma hatte Lust auf ein Kleid. Oder doch auf einen Rock und ein freches Oberteil? Jedenfalls etwas Leichtes, Kurzes. Sie tänzelte von einem Bein aufs andere, fuhr mit den Händen durch ihre Haare, drehte an ihren silbernen Fingerringen. Ach, sie hatte einfach nichts anzuziehen. Sie müsste unbedingt shoppen gehen.
Sie entschied sich schliesslich für das weisse Sommerkleid mit dem Pflanzenmuster, betrachtete sich im Spiegel, ging zum Schuhschrank und musste feststellen, dass sie keine Schuhe besass, die zu diesem Kleid passten. Sie müsste auch Schuhe kaufen. Unbedingt. Sie nahm die weissen Sneakers aus dem Kasten, zog sie an, prüfte sich erneut im Spiegel – und war einigermassen zufrieden.
Im Treppenhaus setzte sie sich wie fast immer auf den Handlauf und rutschte Etage um Etage ins Parterre. Erst dort wurde ihr bewusst, dass ihr Kleid weiss war und durch die Rutscherei jetzt dreckig sein könnte. Schnell huschte sie in Leas Coiffeursalon und fragte ihre Freundin, ob das Kleid verschmutzt sei. Lea verneinte und strich das Kleid an ihrem Po glatt.
«Du siehst toll aus», sagte Lea. «Hast du ein Date?»
«Ja», antwortete Selma, zwinkerte Lea zu und lächelte.
«Oh, dieses umwerfende Lächeln und das süsse Grübchen», meinte Lea. «Du wirst Marcel den Kopf verdrehen.»
«Marcel? Besteht meine Männerwelt nur noch aus Marcel?»
«Natürlich nicht», sagte Lea gespielt erstaunt. «Wie hiessen deine letzten Lover schon wieder? Res, Lasse, Björn?»
Res, der Senn vom Saanenland, mein Jugendschwarm, den ich auf der Alp wiedergetroffen habe, sinnierte Selma. Lasse und Björn, die beiden Schweden, die ich in Engelberg kennengelernt habe. «Tiefste Vergangenheit», sagte Selma zu ihrer Freundin. «Res hat mit seiner früheren Sennerin und heutigen Frau Martina einen Sohn bekommen. Hotelier Björn verträgt sich dank Marcels Therapie wieder mit seiner Frau. Und der schöne Alles-ist-easy-Lasse ist tatsächlich mit der gestalkten Sylvia nach Schweden zurückgekehrt.»
«Und du bist endlich mit Marcel zusammen», sagte Lea. «Nur ich bin alleine.» Sie liess die Mundwinkel hängen und tat so, als müsste sie weinen. Dann lachte sie und umarmte Selma.
Mit leichten Schritten und schönen Gedanken verliess Selma Leas Salon und ging Richtung Innenstadt.
Doch schon nach wenigen Metern hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. War das nicht Marcels Stimme? Selma drehte sich um und sah tatsächlich Marcel vor sich. Er trug die Uniform der Basler Verkehrs-Betriebe und strahlte sie an.
Selma gab ihm einen Kuss und fragte: «Warum bist du schon da? Wir haben doch erst in einer Stunde abgemacht.»
«Die Stunde ist längst vorbei, Liebste.»
Hatte sie tatsächlich so viel Zeit vor ihrem Kleider- und Schuhschrank vertrödelt? «Oh», machte Selma nur.
«Dein Kleid ist umwerfend.»
«Danke. Aber die Schuhe passen nicht.»
«Die passen bestens. Und du warst bei Lea. Deine grossen Wellen im Haar gefallen mir.»
Selma hängte sich bei Marcel ein und schlenderte mit ihm zur Confiserie Seeberger an der Schifflände. Dort bestellten sie sich je einen Latte Macchiato. Selma erzählte Marcel von Nellies Mail, von deren Absicht, mit ihrer Familie in die Schweiz zu reisen, und dass sie es einfach nicht fertigbringe, ihr zurückzuschreiben und sie einzuladen «Du sagst gar nichts», meinte Selma plötzlich.
«Ich komme nicht dazu.»
«Oh, der Herr Psychologe ausser Dienst ist beleidigt! Er hört sich lieber selbst reden.»
«Das weisst du ja, Liebste. Aber endlich sprichst du einmal über dieses Thema. Wenn du Nellie nicht schreiben möchtest, verstehe ich es. Vielleicht brauchst du einfach noch etwas Zeit.»
«Was würdest du tun?»
«Liebste, es gibt so viele Unklarheiten. Du hast doch damals in Engelberg selbst gefragt: Warum schickte dein leiblicher Vater Arvid Bengt seine Gemälde an deine Mutter just nach dem Tod deines Stiefvaters Dominic-Michel Legrand? Was wusste er wirklich von dir? Hat deine Mutter etwas verschwiegen? Es geht nicht nur darum, deinen Vater kennenzulernen, es geht auch darum, dich selbst und deine Mutter neu kennenzulernen.»
«Was würdest du tun?», fragte Selma geradeheraus.
«Ich würde Nellie und ihre Familie willkommen heissen.»
Willkommen heissen, wiederholte Selma stumm. Er wirkte so sicher. Sie spürte, wie sich ihre Zerrissenheit auflöste. Wie sich Gewissheit breitmachte. Gewissheit darüber, dass sie endlich den schwedischen Teil ihrer Familie kennenlernen sollte.
Selma schaute Marcel lange an, ohne etwas zu sagen. Sie lächelte. Denn sie hatte gerade noch eine andere Gewissheit erlangt. Die Gewissheit, dass Marcel immer noch ihr bester Freund war. Auch wenn er jetzt ihr Liebhaber und ihr Partner war. Selma legte ihre Hand auf Marcels Arm und sagte: «Danke.»
«Danke wofür?», fragte Marcel irritiert.
«Dass du für mich da bist.»
«Das ist doch selbstver…»
«Nein, ist es nicht», unterbrach Selma. «Danke für deine Freundschaft.»
Marcel wollte etwas sagen, doch Selma lehnte sich zu ihm hinüber und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.
«Wir wollen natürlich nicht stören, aber auf einen Kaffee hätten wir auch Lust.»
«Mama, Elin!», sagte Selma erstaunt. «Was macht ihr hier?»
«Ich war einkaufen», sagte Charlotte und stellte ihre zwei grossen Tüten auf den Boden. «Deine Schwester hat mich freundlicherweise begleitet.»
«Ist das ein Vorwurf?»
«Natürlich nicht, Liebes. Du hast schliesslich …», sie warf einen Blick zu Marcel, «… wichtigeres zu tun, als mit deiner alten Mutter durch die Läden zu ziehen. Ist es gestattet?»
Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sich Charlotte neben Selma an den Tisch und zog ihren kurzen Rock über die Knie. «Hach, das tut gut.»
«Gut seid ihr da», sagte Selma und fuhr mit beiden Händen durch ihre Haare. «Ich habe euch etwas zu sagen.»
«Da sind wir gespannt», meinte Charlotte und lächelte Marcel an. «Bekommt das Haus ‹Zem Syydebändel› einen neuen Mitbe…»
«Mama», unterbrach Selma. «Wir werden bald Besuch bekommen. Ich werde Nellie und ihre Familie einladen.»
«Toll», sagte Elin sofort. «Endlich. Komm her, Selma.» Die beiden Schwestern umarmten sich lange.
Charlotte hüstelte, zupfte ein Taschentuch aus ihrem Jäckchen und tupfte sich die Nase. «Darf ich fragen, meine liebe Selma Legrand-Hedlund, wen du genau meinst, wenn du von Nellies Familie sprichst?»
«Liebe Maman Charlotte Svea Legrand-Hedlund», antwortete Selma ebenso förmlich, «ich meine damit Nellies Bruder, ihre Eltern und …» Sie hielt inne.
«Arvid Bengt Ivarsson», murmelte Charlotte und starrte auf den Tisch. «Nellies Grossvater. Dein Vater.»
4
Die Mail an Nellie war nun schnell geschrieben. Sie tat das Richtige. Davon war Selma überzeugt, auch wenn die Reaktion ihrer Mutter etwas seltsam war. Seit jenen Tagen in Engelberg, als Selma, Elin und Charlotte die lebenslustige Nellie kennengelernt und sich versprochen hatten, die familiäre Vergangenheit aufzuarbeiten, war nicht viel passiert. Selma bekam regelmässig Nachrichten von Nellie, schrieb ihr auch zurück, aber meistens nur sehr oberflächlich. Charlotte hatte einmal mit Arvid Bengt telefoniert, sich danach aber nie mehr gemeldet. Und Elins Fragen nach dem Stand der Dinge kamen bei den beiden anderen Legrand-Hedlund-Frauen nicht gut an. Selma und Charlotte verhielten sich so, als könnte diese Geschichte durch Nichtbeachtung aus der Welt geschafft werden. Ein Muster, das in der Familie Tradition hatte.
Doch jetzt war Selma froh, dass ihre Nichte nicht lockergelassen hatte. Und sie war Marcel und Lea dankbar für ihre klaren Worte. Und ein bisschen stolz war sie auch auf sich selbst.
Keine Viertelstunde, nachdem Selma die Mail geschickt hatte, antwortete Nellie bereits. Sie würde sich sehr freuen, Selma und ihre Familie anfangs August endlich wiederzusehen. Sie würde gleich die Flüge buchen und ein Hotel reservieren. Selma schrieb zurück, dass sie sich nicht um ein Hotel bemühen müsste. Sie würde das organisieren.
Selma öffnete den Kalender in ihrem Smartphone und sah, dass auch Marcel zu dieser Zeit Ferien hätte. Das war gut. Das war sogar sehr gut. Selma und Marcel hatten sich vorgenommen, einige Tage gemeinsam und einige Tage getrennt zu verbringen. Warum eigentlich?, fragte sich Selma gerade. Weil sie es so gewollt hatte? Ja, so war es. Nun war sie aber froh, dass weder sie noch Marcel konkrete Ferienpläne hatten.
Selma hatte in dieser Zeit auch keine Aufträge. Der ganze Sommer war mau. Einige Werbeshootings gab es. Aber Selma hatte Lust, endlich wieder eine grosse Reportage zu machen. Doch die Verlage waren zurückhaltend mit der Auftragsvergabe. Waren Naturreportagen aus der Mode gekommen? Müsste sie sich wieder mehr auf Menschen konzentrieren?
Auf Menschen, die heiraten! Selma ärgerte sich erneut über den Auftrag, den ihr Jonas Haberer, ihr Hauptauftraggeber in Bern, zuschanzen wollte. Wie konnte er nur! Hatte er trotz seines politischen Netzwerks in der Schweizer Hauptstadt keine besseren Aufträge zur Hand?
Sie rief ihn gleich nochmals an.
«Selmeli!», schrie Jonas Haberer. «Ich wusste es. Du machst die Hochzeit. Weil bei dir sicher auch bald die Hochzeitsglocken bimmeln. Zwar bin nicht ich der Glückliche, aber …»
«Jonas!», unterbrach Selma. «Vergiss die Hochzeit. Kannst du mir wirklich nichts Besseres anbieten? Eine Reportage?»
«Nein. Tote Hose. Bei mir selbst sieht es schlecht aus. Wenn es so weitergeht, muss ich das Bier in der Ping-Pong-Bar anschreiben lassen.»
«Du willst nicht behaupten, dass du immer noch in dieser Spelunke in der Berner Matte verkehrst?»
«Nein, ich verkehre nicht, ich wohne mittlerweile dort», sagte Haberer und lachte kurz. «Ach, Selmeli», fuhr er fort, «all die Krisen, Nöte und Ängste auf der Welt. Es beelendet mich. Schliesslich kann ich nicht die ganze Welt retten.»
«Du hast also keinen Job für mich?», fragte sie nochmals.
«Selmeli, ich kann dir nicht helfen», sagte er mit weinerlicher Stimme. «Ich hoffe, du und deine Frau Maman müssen nicht am Hungertuch nagen. Da hat man es zu Reichtum und Ansehen gebracht, dann passiert irgendetwas auf der Welt, die Menschheit gerät durcheinander, man stürzt aus dem Hochadel ab, lebt plötzlich unter der Brücke und muss in einer Kloake baden. Wie ist die Welt doch unge…»
«Jonas, es reicht!», ging Selma genervt dazwischen. Sie mochte es nicht, wenn sich jemand darüber lustig machte, dass sie aus besserem Hause stammte und deswegen nicht unmittelbar mit Geldsorgen konfrontiert war. Gereizt sagte sie: «Ich komme für meinen Lebensunterhalt selbst auf.»
«Ach, Selmeli, so war es doch nicht gemeint. Ich dachte wirklich, ich könnte dich für eine schöne Hochzeitsreportage begeistern. Endlich wieder etwas Positives, etwas Schönes und Freudiges. Und dann erst noch im Engadin, in St. Moritz.»
«Engadin», sinnierte Selma leise.
«Ja, im Engadin, habe ich das nicht erwähnt? Eine magische Gegend», säuselte Jonas. «Die magischste Gegend der ganzen Welt. Deshalb kam ich ganz spontan auf dich. Ich dachte, vielleicht erledigst du diesen Job inklusive toller Bergwanderung mit dem Brautpaar, bleibst ein paar Tage länger und fotografierst diese wunderschöne Landschaft. Du könntest sogar die Staffelei mitnehmen und malen. Wie der grosse Giovanni Segantini selig. Vielleicht bekommst du dann auch ein eigenes Museum.»
«Du scheinst dich mittlerweile gut in der Kunstwelt auszukennen.»
«Dein riesiges Gemälde hängt über meinem Bett, Selmeli, seither schlafe ich wie ein Murmeltier und habe ein Sexleben wie Dschingis Khan.»
Selma musste schallend lachen. Dann meinte sie: «Es freut mich, dass du mein Bild von der Alp im Saanenland gekauft hast, mein Lieber. Aber dein Gesäusel ist übertrieben. Wo ist der Haken bei dieser Hochzeit?»
«Es gibt keinen. Mal abgesehen von einer kleinen Wanderung, die das Brautpaar unternehmen will. Ein bisschen Abenteuer. Kein Problem für dich.»
«Abenteuer? Aha. Und von wem hast du den Auftrag?»
«Von Chasper, meinem Politikerfreund aus dem Bündnerland. Ein lieber Kerl, aber politisch absolut talentfrei.» Haberer lachte laut, hustete und sagte schliesslich: «Er ist übrigens ganz begeistert von deinen Wolfsreportagen.»
«Jetzt lügst du, mein Lieber. Also nochmals, wo ist der Haken?»
«Selma, es gibt keinen.»
Selma überlegte. Nein, sie fantasierte bereits, sah wunderschöne Landschaftsfotografien vor sich. Stellte sich vor, wie sie in einem Arvenwald sass und Bäume malte.
«Selma?»
«Ja?»
«Selma, die Braut will wirklich dich. Nur dich. Ihr haben die verrückten Skibilder aus Engelberg so gut gefallen. Und dass du lawinen- und gletschertauglich bist. Und erst die Wolfsbilder. Sie ist begeistert von dir.»
«Habilein, du bist furchtbar.»
«Ich weiss. Also, was ist?»
«Wann soll die Hochzeit stattfinden?»
«Im August. Dort oben im Engadin ist es auch nicht so mörderisch heiss.»
«Im August, okay», sagte Selma und vergass, dass Nellie und ihre Familie ebenfalls im August in die Schweiz reisen wollten. «Und wie lauten die Konditionen?»
«Selmeli, du geldgieriges Mädchen», sagte Haberer frohlockend. «Wir machen einen Fixpreis. Fünfstellig im mittleren Bereich. Okay?»
«Fünfstellig im mittleren Bereich?», fragte Selma erstaunt nach. Das kam ihr doch etwas sehr hoch vor.
«Logisch! Plus ein paar Extras, die ich für dich raushaue. Du siehst es dann im Vertrag.»
Selma musste schlucken.
«Mäuschen, Myysli?»
«Bin noch da. Wo war der Haken nochmal?»
«Kein Haken. Also, was ist?»
«Ich überlege es mir.»
«Selmeli! Was ist los mit dir? Ich schicke dir den Vertrag per Mail, du unterschreibst, schickst ihn mir sofort zurück und alles ist gut. Musst mich nicht mal besuchen. Na los, ich habe Durst und brauche ein Bier. Und einen Wodka!»
«Wozu brauchen wir einen Vertrag?»
«In diesem Vertrag geht es neben dem Honorar um eine Verschwiegenheitsklausel.»
«Verschwiegenheitsklausel?»
«Genau. Weil das Management des Brautpaars es so will. Die Fotos sollen nicht an die Öffentlichkeit. Völlig normal bei stinkreichen Leuten.»
«Aha …»
«Selma, was ist los? Hat dich der alte Haberer schon mal verarscht?»
«Ja, zum Beispiel, als du mich …»
«Papperlapapp», sagte Haberer nur.
Doch, er hatte Selma schon mehrmals verarscht. Hatte sie tagelang über einen vermeintlichen Politskandal recherchieren lassen, von dem er genau wusste, dass nichts dran war. Hatte sie zu einem «organisierten» Fototermin mit einem Prominenten geschickt, der sich als Paparazziauftrag entpuppte – Selma musste tage- und nächtelang in Gstaad in einem Auto vor einem Chalet warten, bis sich der Hollywoodstar endlich kurz zeigte. Schliesslich hatte er sie für eine Reportage in ein Krisengebiet geschickt, die Geschichte aber nie veröffentlicht, weil er sie «langweilig» fand. Aber das war alles lange her.
«Deal? Selma, beim Augenlicht meiner verstorbenen Mutter, ich brauche dich.»
«Blödmann. Also: St. Moritz, Hochzeit, Kapelle, Bergwanderung, ein bisschen Abenteuer, Verschwiegenheit, gutes Honorar?»
«Ich hätte es nicht besser zusammenfassen können.»
«Okay.»
«Selmeli, ich liebe dich. Ich liebe dich.» Weg war er.
Selma zweifelte. Irgendetwas stimmte da nicht.
5
Selma bekam Bauchschmerzen, nachdem sie Haberers Vertrag ausgedruckt, unterschrieben, gescannt und zurückgemailt hatte. Die Summe war tatsächlich fürstlich, die Extras in Form von Spesen ebenfalls, doch dies bestärkte Selmas Gefühl, dass irgendetwas faul war an der Sache.
Selma zog trotzdem ihren pinken Bikini an, strich Sonnencrème ein, schlüpfte in ihre kurze Jeanshose und ein weisses T-Shirt, packte ihren wasserdichten Badesack und ging auf der Kleinbasler Seite dem Rhein entlang in Richtung Tinguely Museum. Die Sonne brannte. Selma schwitzte. Sie nervte sich über ihre Haare. Obwohl die Bauchschmerzen schlimmer wurden, stieg sie beim Museum des bekannten Schweizer Malers und Maschinenkünstlers Jean Tinguely am kleinen Kiesstrand in den Rhein, tauchte kurz ab und umklammerte den Badesack. In diesem hatte sie Hose, T-Shirt und Schuhe verstaut. Nun liess sie sich zusammen mit Hunderten anderen Badenden den Rhein hinuntertreiben.
Bereits nach kurzer Zeit bekam sie zusätzlich Seitenstechen. Selma begann zu frösteln. Kurz vor der Wettsteinbrücke schwamm sie deshalb zum Ufer und stieg aus dem Wasser. Sie setzte sich auf den letzten freien Stein, schüttelte ihre Haare und liess sich von der Sonne wärmen. Sie hielt sich den Bauch. Was war los mit ihr? Warum konnte sie sich nicht auf den neuen, äusserst lukrativen Job freuen? Weil es sich bloss um Hochzeitsfotografie und nicht um einen grossen Reportageauftrag handelte? Dafür würde er im Engadin stattfinden. Sie könnte einige Tage dranhängen und malen.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie im August Nellie und ihre Familie eingeladen hatte. Hatte Haberer nicht gesagt, dass auch die Hochzeit im August stattfinden würde? «Ich dumme Nuss», fluchte Selma leise, zog sich an und ging mit schnellen Schritten nach Hause. Sie schaute auf dem Vertrag nach. Tatsächlich, der Job war im August. Datum noch nicht genau definiert. Warum nicht? Geheimhaltung? Was sollte das? Sie wollte Haberer erneut anrufen. Doch dann sah sie, dass er ihr eine Nachricht geschrieben hatte. Für weitere Infos soll sie sich bei einer Frau namens Katharina melden.
Selma trank zuerst einen Schluck Wasser aus dem Hahn, spuckte dieses aber gleich wieder aus, weil es viel zu warm war. Sie wählte Katharinas Nummer.
«Hallo?», meldete sich eine freundliche Stimme.
«Hei, ich bin Selma. Sind Sie Katharina?»
«Ja, die bin ich.»
«Ich heisse Selma Legrand-Hedlund. Ich rufe wegen dem Fotoauftrag von Jonas Haberer an.»
«Von wem?»
«Haberer, Medienunternehmer aus Bern.»
«Sagt mir nichts.»
«Es geht um eine Hochzeit.»
«Oh, die Hochzeit, die Chasper organisiert. Oder mitorganisiert. Weiss es auch nicht so genau.»
Chasper, der talentfreie Politiker, wie Haberer ihn genannt hatte. Selma erinnerte sich, musste lächeln und sagte: «Chasper ist ein Freund meines Auftraggebers. Ich habe diesen Job angenommen und soll mich bei Ihnen melden.»
«Gut, dann setzen wir uns doch am besten mal zusammen.»
«Können wir es nicht am Telefon besprechen?»
«Das sollten …» Katharina stockte und sprach erst nach einigen Sekunden weiter. «Das sollten wir nicht tun.»
«Und warum nicht?»
«Ich kenne Sie nicht und darf mit niemandem reden. Schon gar nicht am Telefon.»
«Geheimhaltung?», fragte Selma verärgert.
«Ja. Entschuldigen Sie, mir kommt das auch ein bisschen übertrieben vor. Aber es geht nicht anders. Ich musste sogar unterschreiben, dass ich den Auftrag vertraulich behandle.»
«Musste ich auch. Sind Sie denn die Hochzeitsplanerin?»
Katharina lachte. Es war ein sympathisches Lachen. «Nein», sagte sie. «Das gäbe eine Katastrophe.»
«Was sind Sie dann?»
«Hören Sie, ich kann nicht darüber sprechen. Machen wir einen Termin aus. Wann können Sie herkommen?»
«Moment», sagte Selma, nahm das Smartphone vom Ohr, schaltete den Lautsprecher an und öffnete den digitalen Kalender. Die nächsten Tage waren alle frei. Und Marcel war am Arbeiten. Seit sie ein Paar waren, schickte er ihr immer seine Bus- und Tramschichten bei den Basler Verkehrs-Betrieben. «Also, ich könnte zum Beispiel …» Selma überlegte kurz und entschied sich dann, Katharina so bald wie möglich zu treffen, damit sie endlich erfahren würde, worum es bei dieser ominösen Hochzeit gehen würde. «Ich könnte gleich morgen», sagte sie. «Morgen nach dem Mittag.»
«Morgen. Oh. Das passt.»
Als Treffpunkt vereinbarten die beiden Frauen den Bahnhof in Pontresina. Selma legte das Telefon beiseite und konnte sich nun endlich etwas entspannen. Das Seitenstechen war weg, auch der Bauch schmerzte bereits viel weniger. Selma hasste vage Einsätze.
Sie setzte sich an den Laptop und schrieb Nellie ein Mail, dass sie gerade einen Auftrag erhalten habe, der im August stattfinden würde, ihren Besuch aber nicht tangieren sollte. Selma rechnete damit, dass die Hochzeit und die von Haberer erwähnte Wanderung mit dem Brautpaar nicht mehr als zwei, drei Tage in Anspruch nehmen würde, höchstens eine Woche.
Danach schrieb sie Marcel eine WhatsApp-Nachricht und bat ihn um Verständnis, dass sie heute Abend zu Hause bleiben möchte, da sie morgen früh aufstehen müsse. Eigentlich hatten sie abgemacht, dass sie ihn besuchen würde.
Marcel antwortete wenige Minuten später, dass dies in Ordnung sei. Sie könnten später noch telefonieren.
Selma fühlte sich nun noch entspannter. Befreiter. Sie mochte Marcels Wohnung nicht besonders. Den Grund dafür wusste sie nicht. Lag es an der kargen Einrichtung? Am riesigen Büchergestell, das sie so ungebildet fühlen liess? Oder fühlte sie sich einfach in Marcels Reich nicht zu Hause? In Marcels Leben?
Selma wusste es wirklich nicht. War sie seltsam geworden? Eigen? Verschroben? Die Zeit würde all diese Fragen beantworten. Hoffentlich.
Sie verliess ihre Wohnung, rutschte auf dem Treppengeländer vom dritten Stock zum Hauseingang und holte in der Confiserie an der Schifflände zwei Hefeschnecken. Dann ging sie zurück ins Haus «Zem Syydebändel» und klingelte im ersten Stock bei ihrer Mutter.
«Fika?», fragte sie, als ihre Mutter die Türe öffnete.
«Selmeli», sagte Charlotte erfreut. «Was für eine Überraschung! Natürlich mache ich eine Kaffeepause mit dir. Sehr gerne sogar.»
Die Hefeschnecken konnten die schwedischen Zimtschnecken zwar nicht ersetzen, dafür schmeckte der Filterkaffee mit Zichorie richtig skandinavisch. Die beiden Frauen waren in der Stube, Charlotte sass mit angewinkelten Beinen aufrecht auf dem abgewetzten Biedermeiersofa. Selma erzählte, dass sie einen neuen Auftrag erhalten habe und dass sie bereits morgen für einen oder zwei Tage ins Engadin reisen würde. Danach führten sie den Smalltalk, wie er mit Charlotte Svea Legrand-Hedlund üblich war.
Schliesslich teilte Selma ihrer Mutter mit, dass sie mit Nellie definitiv abgemacht hätte: «Sie besucht uns im August. Zusammen mit ihrem Bruder Kristian, ihren Eltern Inger und Dagmar sowie ihrem Grossvater Arvid Bengt.» Selma hielt einen Moment inne und ergänzte: «Meinem leiblichen Vater.»
«Mon dieu, Selma, Liebes», sagte Charlotte, zog ihren Rock in die Länge und hüstelte. «Schon so bald?»
Selma ging nicht auf die Frage ein: «Darf ich noch den Rest deiner Hefeschnecken verdrücken? Ich war im Rhein und habe Hunger.»
«Bedien dich, Selmeli. War das Bad erfrischend? Du weisst hoffentlich, wie gefährlich der Rhein sein kann. Ich werde nie verstehen, wie man in dieser …» Charlotte suchte nach dem richtigen Wort.
«Kloake», ergänzte Selma. «Unser Freund Jonas Haberer nennt den Rhein Kloake.»
«Oh ja. Da hat Jonas recht. Weisst du, zu meiner Zeit …»
«Mama», unterbrach Selma. «Ich werde schon sehr bald meinen Vater kennenlernen. Und du wirst deinen Liebhaber wiedersehen.»
«Liebhaber! Selmeli, ich bitte dich.» Charlotte schüttelte den Kopf, und musste danach eine Haarsträhne ihrer Bob-Frisur wieder an den richtigen Ort rücken.
«Wie auch immer. Ich werde meinen Vater kennenlernen und ihm all die Fragen stellen können, die mich seit Monaten beschäftigen.»
«Aha», sagte Charlotte und starrte eine Zeit lang auf ihre Kaffeetasse. Schliesslich meinte sie: «Du kannst doch auch mich fragen.»
«Damit ich zu hören bekomme, wenn du überhaupt antworten würdest, dass Arvid Bengt erst vor Kurzem erfahren hat, dass es mich gibt? Damit du mir abermals versicherst, dass Arvid Bengt seine Gemälde dir ganz zufällig kurz nach dem Tod deines Ehemannes Dominic-Michel Legrand zugeschickt hat?»
«Selmeli», sagte Charlotte und erhob sich. «Es gibt Dinge, die von der Nachfolgegeneration moralisch anders bewertet werden, als …»
«Ich weiss», unterbrach Selma ihre Mutter abermals. «Trotzdem: Sage mir einfach die Wahrheit. Schliesslich bin ich deine Tochter. Und ich liebe dich, was auch immer ans Licht kommen mag.»
Selma umarmte ihre Mutter. Drückte sie fest an sich.
Charlotte sagte leise: «Selmeli. Ich würde dir die ganze Wahrheit erzählen, wenn ich sie kennen würde. Aber glaube mir: Ich kämpfe mit mir. Schon seit ich mit dir schwanger war.»