Читать книгу: «Gott im Hotel», страница 3

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Sie vermietete damals, als sie noch in London lebte, ein Zimmer ihrer Wohnung, so dass ich, als ich oft nach London fuhr, immer mal wieder eine Woche bei ihr wohnte. Heute frage ich sie, ob sie denn mir als Deutscher nie Ressentiments gegenüber gehabt hätte. »Nein, nie«, meinte sie. David, ihr Sohn, schon. Ich erinnere mich, wie er mit versteinertem Gesicht am Tisch saß oder die Küche verließ, wenn ich mir einen Kaffee aufbrühte. Ich dachte damals, das wäre Ausdruck pubertierender Befindlichkeiten.

Was war ich unbewusst und versunken in meine eigenen heiligen Angelegenheiten, dass ich das Offensichtliche gar nicht sah. Verzeih mir, David, verzeih mir.

Ich erinnere mich an meine Schulzeit, als ich einmal mit einer Mitschülerin aus der Parallelklasse an einem Tisch in der Kantine saß. Während wir unsere Suppe löffelten, bemerkte ich plötzlich, dass sie ein Goldkettchen mit einem Davidstern um den Hals trug. Und verstummte. Alles zog sich in mir zusammen. Ich wusste nicht mehr, was es zu sagen gab und nicht gelogen war. Wusste nicht mehr, meinen Löffel zu halten und wie das Atmen geht. Ich konnte die Geschichte unserer Mütter und Väter nicht vom Tisch nehmen, das Mädchen sehen, wie es war, so wach und sympathisch, ein undurchdringlicher Schleier wehte in mir vor ihr. Die Geschichte lag zu nachtbraun, noch zu nah, schwer auf meinem Herz, so dass weder meine Wissbegier nach ihrem Leben und dem ihrer Familie noch der Mut einen Spalt Licht in unsere Begegnung gebracht hätte. Ich war so feige und setzte mich nie mehr zu ihr. In meiner Generation kam erst der Versuch von Sprache, als wir begannen, unseren Eltern mit dem Hochmut derer, die im Frieden lebten, Vorwürfe zu machen. »Warum habt ihr nichts getan?«

Ich stelle mir seitdem die Frage selbst, immer wieder, ob ich den Mut gehabt hätte, unter Bedrohung meines Lebens zu handeln, zu schützen, meinen Mund aufzumachen. Hätte ich? Was sehe ich nicht heute alles und tue nichts und sage nichts wirklich laut – ohne dass mein Leben bedroht wäre? Könnte ich nicht nach Sachsen in einen der heißen rechten Orte ziehen und mich hinstellen, aufrecht, und mit denen sein, die es sich nicht leisten können, wegzugehen und mit denen, die voll Hass sind? Es versuchen, was geschieht, wenn ich einem, der hasst, mit Interesse und Liebe begegne? Ihn treffe im Herz des Menschen. Mein Leben wäre – gehen wir davon aus – nicht bedroht. Es wäre nur rasant unbequem. Bin ich hier, um es in meinem Leben bequem zu haben? Wer kommt mit?

Seit der Zeit, als die Sprache zurückkam, gibt es so etwas wie einen tiefen Aufschrei in mir: Ich vermisse euch schmerzlich in meinem Land. Und es ist nicht diese Seite des unaussprechlichen Schmerzes, des Mit-ihnen-Seins über das, was sie in meinem Land erlitten haben, das Grauen, das selbst, wenn wir es in den Ozean der Ewigkeit werfen, mit der nächsten Welle zurückkommt. Es ist der Schmerz über ihre Abwesenheit, über den Mangel ihres kreativen Reichtums, ihres Lichts, ihrer Größe in meiner Kultur. Ich höre das Echo in meiner Bildung, in meinem Herzen, in der Seele dieses Europas, in der Poesie, in eurer unverwechselbaren Kraft. Es ist unermessliche Liebe, tiefste Dankbarkeit und Sehnsucht nach dieser jüdischen Schwester, nach dir, jüdischer Bruder.

In Hanna habe ich diese Schwester. Zum Abschied erzählt sie mir von einem wunderbaren Markt in Jerusalem, und ihr Erzählen klingt so lebendig, dass ich gleich Lust bekomme, die nächsten Heiligtümer den Jordan hinunterrauschen zu lassen.

Na ja. Nur noch den Tempelberg.

Vor dessen Eingang ich dann kurz danach lande, beziehungsweise in der mindestens zweihundert Meter langen Warteschlange, es könnte also zwei Stunden dauern. Eine Weile stehe ich ratlos davor, auf einen eindeutigen Impuls wartend. Nein, das war’s nicht. Der Ruf des Berges scheint nicht mir zu gelten. Keine alte Geschichte mehr, keine Moschee, die ich als Frau sowieso nicht betreten darf. Also – stattdessen bunter Markt, voll Leben soll er sein, meinte Hanna. So steige ich ins Taxi und komme mit dem Taxifahrer ins Gespräch. Auch über Bethlehem. Ob er mich bringen solle.

Ich hatte gestern Abend nach allem weihnachtlichen Gewimmel und Gemützel noch sehr ausführlich meinen Reiseführer studiert. Es wäre gefährlich mit einem gelben, israelischen Nummernschild, wie ich es an meinem Leihwagen habe, nach Bethlehem zu fahren und trotz allen Vertrauens will ich das Leben ja auch nicht herausfordern.

»Ist das mit dem Taxi möglich?«, frage ich ihn.

»Ja, selbstverständlich.«

»Keine Kontrollen?«

»Kann passieren.«

»Keine Behinderung auf palästinensischer Seite mit gelber Nummer?«

»Sie können Sie als Touristin erkennen, wenn Sie mit dem Taxi kommen, und die wollen sie ja.«

»Und der Preis?«

Dollar habe ich nicht, aber Euro nimmt er auch.

So komme ich doch noch nach Bethlehem, der Fährte folgend, die durch den feinen Sand des Lebens läuft. Der Weg bereitet sich von selbst.

Ibrahim, mein Fahrer, ist israelischer Araber. Seit mehreren Generationen lebt die Familie in Jerusalem. Er erzählt von den Schikanen, die er in ‚seinem‘ Land erlebt, obwohl er doch formal dessen Bürger sei. Sie bekämen nur niedrige Arbeit, die keiner sonst tun will, sie seien mitunter achtzehn Stunden mit Hin- und Rückweg zum Arbeiten unterwegs, eben einfach Bürger zweiter Klasse.

Ich frage mich in kindlicher Unschuld, warum nicht alle in einem Staat leben, mit einem Recht, das für alle gilt, dann könnte man sich viel Stacheldraht, Gewehre, Hass und Traumata sparen. Der naive Traum einer Liebenden, die als Vertreterin der Mystik durch die Welt reist und sie kostenlos als Allheilmittel anbietet. Ich bekomme also gleich eine schmerzvolle Führung durch einen der schwer verwundeten Landstriche dieser Welt.

Morgen werde ich in ein Dorf fahren, das genau das Gegenteil übt.

Ibrahim zeigt mir die breit angelegten Siedlungen im Westjordanland, wir fahren durch Straßen, die links und rechts mit von mindestens vier Meter hohen, doppelseitig mit Stacheldraht gesäumten Mauern und Türmen eingeschlossen sind. Mir kommt gleich dieses kalte Gefühl aus meiner Zeit in Westberlin hoch, wenn ich nach Ostberlin fuhr oder die Transitstrecke benutzte – und es scheint nicht nur mir so zu gehen. An der Mauer auf der rechten Straßenseite taucht das Graffiti auf: Ich bin ein Berliner. Hier waren Familien auseinandergerissen, haben ihre Heimat verloren, wurden Familienmitglieder getötet. Er zeigt mir, wo die frühere jordanische Grenze verlief, welches noch die ganz vereinzelten arabischen Häuser sind.

Es ist klar, was sein Hintergrund ist – ein arabischer Israeli ohne die Rechte eines Israeli. Er erzählt nicht wütend, eher traurig, resigniert. Und natürlich aus dem Blickwinkel der einen Seite. Auch dieser ist eine Realität. Wie alle anderen auch.

Wie immer – es ist ein Unterschied, über all diese Aspekte gelesen zu haben oder mitten darin zu sein.

So lande ich etwas aufgeweicht in Bethlehem. Schon bei der Einfahrt stelle ich klar, dass ich in keinen Souvenirshop möchte und keinen Führer in der Kirche.

Ich wolle beten, sage ich ihm und handle unter einigem Kraftaufwand immerhin eine halbe Stunde Wartezeit für ihn heraus. Eine Viertelstunde wäre ihm lieber gewesen und schon scheucht er mich davon.

Nach diesem Aufflackern tausendjähriger Menschheitsgeschichte, gespiegelt im Schicksal eines einzelnen Menschen im Land von Menschen, über deren Schicksal kaum zu sprechen ist, betrete ich eine der ältesten Kirchen demütig gebückt durch ein niedriges – damit ich nicht zu Pferde einreiten kann – Tor …

Griechisch-orthodoxe Priester, mit ihren hohen Hüten und schwarzen Sutanen durchflattern die riesige, mit ewigen Lichtern, ziselierten Silberampeln und Kronleuchtern sanft erleuchtete, dunkle und monumentale Basilika. Obwohl dieser hohe Feiertag ist, kann ich ruhig und frei umherstreifen und mich überwältigen lassen, nicht von der äußeren Morbidität, abgefallener Vergoldung, dunkelbraunen Holzkonstruktionen, sondern vom Licht, das aus dem Boden zu steigen scheint. Ich werfe nur einen kurzen Blick auf den silbernen, in den Boden eingelassenen Stern in der unterirdischen Geburtsgrotte, vermeide die Schlange davor, nehme mir einen Stuhl, platziere ihn mitten in diesem riesigen Raum, setze mich und höre das Licht der Welt in seiner Herberge in meinem Herzen. Meine halbe Stunde ist kurz, ein ganzes Leben würde mir nicht reichen.

Da kommt auch schon ein bärtiger, grimmiger Priester und verscheucht mich, nimmt meinen Stuhl und trägt ihn wieder an den Rand. Was nicht das lodernde Feuer in mir nimmt. Das Brennen dieses Lichts hat keinen Ort.

Ich folge dem Mann zu einem kleinen Devotionalien-Pult, schaue ihm in die Augen, lächle ihn an und kaufe ein kleines Tütchen mit Erde aus dem Boden von Bethlehem (wenn’s stimmt, aber darum geht es ja nicht) und einen kleinen Maria-Anhänger für eine Freundin, die sich etwas von meiner Reise gewünscht hat.

Und jetzt raus ins bunte Leben. Gott ist überall, innen, außen, in jedem Blättchen und jeder Tiefseeschnecke, in Stacheldraht und in jedem Ort einer Geburt, auch der dieses einen Moments. Wo nicht? Ich bitte Ibrahim, mich jetzt zum Markt zu fahren, lehne mich etwas erschöpft zurück, noch leicht in Trance und hungrig.

Ein westlich-modern-orientalischer Markt – über so viel Fülle und Farbe und Gerüche freuen sich die Gernelebenden. Viele sind für ihren Shabat-Einkauf in den hellen, weiten Basar-Straßen unterwegs.

Ich habe keine schweren Einkaufstaschen zu tragen, schaue zu, wie Reiswaffeln produziert werden, schlendere an den reichen Obst-, Fleisch-, Gemüse-, Gewürzständen vorbei und da ich Tahin so gerne esse, habe ich die Ehre, einmal Beobachterin einer Sesammühle in Aktion zu sein. Wie der Samen sein Inneres gibt und sanft sein Öl nach unten in eine Auffangschale fließt und tropft. Mein Hunger drängt.

Überall links und rechts sind kleine Lokale mit in die Straße hinein vorgebauten Holzterrassen, ich muss nur noch wählen – und falle in orientalische Vorspeisen-Schälchen voll Humus, Tahin, Petersilie, Auberginen, Falafel und viel Gemüse hinein.

Vor fast fünfzig Jahren hauste ein jüdisch-christlicher Priester, weil er lange in Ägypten gelebt hatte, die Araber liebend – in einer windigen Hütte ohne Wasser und Strom, ohne befestigte Zufahrtsstraße, auf einem trockenen, verwüsteten Steinfeld, das auf einem Hügel gleichweit von Jerusalem, Tel Aviv und Ramallah entfernt lag. Er hatte von seinem Provinzial in Paris die Genehmigung bekommen, sich ganz seiner Idee zu widmen – dem Wort des Jesaia folgend: Mein Volk wird in einer Oase des Friedens leben.

So soll dieses Dorf, das er errichtete, heißen: Whahat al- Salam – arabisch, Neve Shalom – hebräisch. Mit zwei Familien beginnt er auf diesem durch zwei Kriege verwüsteten, kahlen Landstrich unter extrem schwierigen Bedingungen sein Projekt zu verwirklichen. Christen, Muslime und Juden sollen einst in diesem Dorf in Frieden leben. Der Samen ist aufgegangen – heute leben sechzig Familien im Dorf. Der Schwerpunkt hat sich etwas verschoben, es geht nicht mehr um die religiöse Zugehörigkeit, sondern um die Ausgewogenheit von jüdischen und palästinensischen Familien. Und die Idee des friedlichen Zusammenlebens sieht die Lösung nicht in Gleichmacherei oder Anpassung, sondern darin, ein Leben der eigenen Identität im Austausch mit den jeweils anderen zu finden, wie ein Modell für das ganze Land.

Die Steine haben sich auf diesem Weg des Wachstums natürlich etwas entmaterialisiert, so bleibt der vielleicht noch härtere Weg und verlangt noch viel innere und äußere Arbeit. Und derer sind und waren sich die Bewohner bewusst.

Heute gibt es in Whahat al-Salam – Neve Shalom eine Kinderkrippe, einen Kindergarten, weiterführende Schulen – alles zweisprachig, alle Gremien und Lehrenden doppelt besetzt von einem jüdischen und einem palästinensischen Mitglied. Über das Dorf hinaus gibt es eine Friedensschule, für die extra Programme entwickelt wurden, die nicht nur von inzwischen Zehntausenden Juden und Arabern besucht werden, sondern von Menschen aus der ganzen Welt, ob aus Konfliktregionen oder einfach, um zu lernen. Vor allem für junge Leute gibt es sehr weit entwickelte Programme,

Und es gibt in diesem Dorf inzwischen Straßen, üppiges, aus der Wüste geschlagenes Grün, die Hortensien am Weg sind schon zu ahnen, in den Knospen der riesige Rhododendren schimmert schon Purpur und Mauve, Palmen, Bananenbäume und kleine Kräuter- und Gemüsegärten, ein Café mit einer von Weinreben beschattende Pergola, ein Restaurant und – ein Gästehaus. Es besteht aus kleinen Bungalows, geschmackvoll eingerichtet, mit einem eigenen Balkon und separatem Eingang. Gott hat es sich einfach eingerichtet hier und empfängt ganz still. Das westliche Licht wärmt den Raum mitten im Winter.

Am Rand des Dorfs, abgeschirmt in einer lieblichen Mulde, steht ein Rundbau, das Haus des Schweigens. Ein gewölbter Raum mit einem über die ganze Stirnseite gehenden Fenster, das den Blick in die grüne, einstige Wüstenlandschaft freigibt. Dort ist es tief-still, ein Ort für Meditation und Gebet. Ein Psalm nennt die Stille ‚Lob Gottes‘ und im Koran ist es die ‚innere Ruhe‘, die in die Herzen gelegt wird. Verschieden in Kultur und Religion ist Stille überall ein gemeinsamer Ort.

Ich bin mit Freunden gekommen, um das zu tun – beten und meditieren. Was soll ich in diesem Land auch anderes tun, wenn ich es schon nicht schaffe, alle an die Ufer des Jordans und des Mittelmeers zu setzen, ihnen die Füße zu waschen, wie ein Meister dieses Landes, und dabei heimlich alles aus den Herzen zu reißen, was jetzt nicht mehr notwendig ist. Was würde dann bleiben?

Also, bis dahin, beten und meditieren. Und weil wir viele sind, reicht dieser kleine Rundbau nicht, sondern es steht uns das große, befestigte Veranstaltungszelt – sieht aus wie zwei riesige Tipis – zur Verfügung

Und mir ein kleines Hotelzimmer mitten im Dorf. Gott im Hotel, das Hotel in Gott – ein Übungsfels der Liebe.

Vor einigen Jahren las ich einmal ein Buch über die Geschichte einer Jüdin und eines palästinensischen Israelis. Welche Zerreißprobe ihr Zusammengehen war. Wie die Familien sich sperrten, den zukünftigen Partner demütigten und welch weiter, innerer Weg es ist, die Geschichte von Völkern in die persönliche Geschichte wirklich zu integrieren, um frei zu sein.

Die beiden waren eine der ersten Familien hier im Dorf, das von der Idee her ja nicht auf eine Vermischung angelegt ist. Sie hatten also so etwas wie einen doppelten Weg zu gehen. In der ersten Mittagspause spaziere ich durchs Dorf und suche die beiden, vielleicht sind sie ja auch hier heute …

Unter den Freundinnen und Freunden, mit denen ich hier bin, sind viele Juden, teils hier aus Israel, teils aus den USA, einige, sehr wenige Palästinenser und viele Deutsche. Und wenn Juden und Deutsche in Stille zusammen sind, dann kommt einiges hoch und zwar heftig. Und wenn dieses Auftauchende in Liebe gehalten ist, wird es noch heftiger.

Ich komme aus der Generation der Scham. Auch wenn ich selbst nicht mehr beteiligt war, fiel ich mit meiner Geburt in einen Boden, der glühte, lag der Geruch des Rauches noch in der Luft, waren meine Eltern, Großeltern, Lehrer, das Dorf meiner Kindheit sprachlos, es lag ein undeutbares Flackern in der Atmosphäre, das sich in meinen Zellen Raum griff, Füße setzten zum Tanz auf schwarzem, morschen Eis, dessen Kälte unsichtbar alles durchdrang. Ich, die ich schon als junges Mädchen unsterblich in die Poesie verliebt war, las Adornos Frage, ob man ‚danach‘ noch dichten könne und las Celans Antwort darauf – die Todesfuge.

Da tragen die Kinder die Schuld genauso verstummt weiter. Wer weiß, wie viele Generationen noch. Bis ins siebte Glied.

Aber jetzt, nach Jahrzehnten des Lesens, Suchens, Begegnens, Retreats in Ausschwitz, Lieben von Freunden, sitze ich hier mit offenem Herzen. Mit dem Mut, auch in den Schrei der Verantwortung des zweiten Glieds zu sinken. Im Kollektiven bin ich auch Täterin. Und im EINS alles.

Manche können zuerst gar nicht mit Deutschen in einem Raum sein. Manche sind überwältigt und halten Abstand. Sieben lange Tage arbeiten wir uns durch die Schichten einer traumatischen Geschichte. Die jüdischen Frauen sind stark.

Manche, deren Seelen in unserer gemeinsamen Schwingung angestoßen sind und über die Zeiten springen, beginnen, uns in die Augen zu sehen, aus dem tiefen Bedürfnis heraus, sich zu verstehen.

Schmerzlich, wahrhaftig und immer wieder still. Stille schützt und gebiert. Der stille innere Raum kann diesen Schmerz der Grausamkeit in den Zellen der Familiengeschichten über alle Ebenen des Bewusstseins hinaus heilend halten. Weit und raumlos. Und Wahrhaftigkeit, die Oberfläche der Wahrheit, findet in die Lücken des Lebens. Manchmal recht laut und heftig.

Zum Beispiel in der Silvesternacht. Denn auch im Dunklen ist Tanzen möglich, dünnhäutig liebend. Und wenn da jemand ist, der nicht im selben Raum mit mir sein kann, weil ich Deutsche bin, kann er dann letztlich doch mit mir tanzen. Nach Mitternacht beginnt das Neue.

Im frischen Licht des neuen Jahres, nach fünf Tagen, habe ich das Dorf verlassen, bereit, die Heimreise anzutreten, und sitze wieder in der Lobby meines edlen Hotels aus alter Pilgerstätte. Die spanischen Priester singen mit ihren jungen Schülerinnen ein munteres Lied des Marienlobs. Die japanischen Nonnen verlassen die Lobby strahlend im Licht der Stadt. Ihre Freude über das Hiersein macht ihre Augen leuchtend. Ein junger Portugiese bindet sich ein Palästinensertuch um den Kopf. Sprachen, die ich nicht kenne. Pakistani vielleicht, deren Schuhe auf dem Marmorboden klappern. Immer in Gruppen. In dem Kreis von Sesseln neben mir eine Gruppe von jungen Brasilianern, die gerade aufbrechen.

Alle, die nach draußen rennen, zu ihren Bussen und Taxis, alle, die zu Fuß in die Altstadt trippeln, kommen an einer überdimensionierten Marienstatue vorbei, die auf dem weiten Vorplatz aufgerichtet ist. Die Königin des Friedens. Sie bewacht seit Jahrzehnten generationsübergreifende Kampfhandlungen. Alle Gemäuer um sie herum waren zerstört. Sie blieb stehen. Heute soll sie der Welt als Ort einer fruchtbaren spirituellen Entwicklung dienen.

Ich bin dabei.

Der Muezzin ruft.

bremen
fließendes licht

JETZT, IM MAI, BLÜHEN DIE RHODODENDREN. In Purpur und Mauve, Weiß, Violett und Gelb. Hier ist der Garten ein Park. Ein Park mit verzweigten Wasserstraßen und Wiesen zum Spielen und Essen, mit Raum für Wildkräuter mitten in der Stadt.

Vor mir ein kleiner See mit sprühender Fontäne in der Mitte, der Rundweg von Rhododendren gesäumt. Und einem Hotel, das sich etwas mühsam denkmalgeschützt über seine Geschichte als Ausflugsziel hinauswagt und Grandhotel geworden ist, wie ein Schloss mit linkem und rechtem Seitenflügel und in der Mitte darüber der Kuppelbau über der Seeterrasse.

Ich bin mit Jakob hier und wir beziehen eines der Zimmer im rechten Seitenflügel, zwei große Türen öffnen den Blick aufs Wasser, die Fontäne, die Farben der teilweise fast baumhohen, schwer an ihren Blüten tragenden Rhododendren.

Es gibt Städte und Regionen auf dieser Welt, mit denen ich mich verbunden fühle, sobald ich aus dem Zug steige. Und welche, die mir fremd bleiben, selbst wenn ich Jahre hier gelebt habe. Zu dieser Stadt hier hatte ich nie eine Verbindung gefunden, was nichts mit der Stadt zu tun hat … So ist es mir ganz recht, dass mir zwar die Zimmerknappheit an Pfingsten recht heftig meinen Geldbeutel ausräumt, mich aber in diesen Park geworfen hat, mittendrin und doch abseits.

Morgen, am Pfingstsonntag, wird die Hochzeit eines meiner Neffen sein. Der Brudersohn hat uns zur Feier eingeladen, in ein spezielles Hochzeitshaus, in dem auch sonntags Trauungen stattfinden. Die Kirchen ziehen sich geschwächt zurück, die jungen Menschen kreieren sich andere Rituale. Ich war damals noch jünger als die beiden, als ich das Haus der Frommen verließ, ich hatte dort keinen Platz für das Feuer in meinem Herzen gefunden.

Viel später erst, nachdem ich die Mystikerinnen an anderen Orten traf, entdeckte ich die meines eigenen Kulturraums, erkundete sie in ihrer Fülle, hatte begriffen, dass die Mystiker aller Religionen und Wege in der Essenz vom selben sprechen. Merton hat ja so viel davon erzählt.

Also Pfingsten. Inzwischen kann ich auch die Seelenstufen und die damit verbundenen Wandlungsprozesse erleben, die sich im Inneren christlicher Feste bewegen. Die Symbolik des Lichts, das mit einer winterlichen Geburt einhergeht, die besondere Stille der Inwendung eines Karfreitags und von der großen Seelenöffnung des Sonntags danach. Und vom inneren Wissen, vom sich stets Erneuernden der Pfingsterfahrung.

Es ist mir das nächste Fest. Irgendwie geschieht seit vielen Jahren in meinem Leben an oder um Pfingsten herum etwas Besonderes, Neues, Ungeahntes. Etwas, das mich weiterträgt. Der Geist schlüpft dann in eine Begegnung, berührt mich in Gestalt eines Buchs, geschickt aus einer unerwarteten Quelle, in einem Satz aus feinem Licht, der ein Tor in eine Mauer schlägt. Nachdem mir nach einigen Jahren das Zusammentreffen dieser Überraschungen an Pfingsten das erste Mal bewusst wurde, hatte ich natürlich die Befürchtung, es werde nicht mehr geschehen. Und es geschah doch. Selbst als ich es erwartete. Es gibt diesen Moment in einer Erwartung, in dem man sie vergisst und genau in diese Lücke schlüpft der Geist.

So auch an diesem Sonntagmorgen in der fremden Stadt, ich hatte den besonderen Tag ganz vergessen; ich bin hier wegen der Hochzeit und frühstücke prächtig in den Gestaltungsbrüchen dieses Hotels. Ein Grandhotel mit mahagonifarbenen Stühlen und gerafften Stores, eingebettet in eine Architektur Ende des vorigen Jahrhunderts, etwas verbaut, wenn ich nur an die Wege vom Zimmer in den Frühstücksraum denke, aber die Brötchen schmecken, der Tee ist heiß und die Früchte frisch. Mir begegnet sogar eine Maracuja mit ihrem tropischen Aroma, das immer ein richtiges Lustgefühl in mir auslöst.

Pfingsten habe ich vergessen, als ich wieder zurück in unser Zimmer gehe für meine Morgen-Meditation, heute nach dem Frühstück. Etwas dunkel ist es in mir schon seit ein paar Wochen, spröde, trocken. Aber der Stille ist es egal, unter welchem Boden sie sich weitet. Also meditiere ich einfach weiter, eben etwas dunkel und spröde, verknote, so gut es geht, meine Beine auf dem gepolsterten Mahagonistuhl, falle in meine Trockenheit und stolpere durch die unruhige Zeit verborgener Stille.

Und höre plötzlich in mir einen Satz von Mechthild von Magdeburg – das fließende Licht der Gottheit. Alles wird still. Ganz fein beginnt es zu fließen – das Licht, die Liebe durchweichen mein enges Herz. Scheu übt es wieder das Atmen, leise das Lieben.

Aus irgendeinem tiefen Grund taucht diese große Mystikerin nach 800 Jahren in meinem Schloss hier auf. Es ist lange her, als ich in das mystische Gedicht ihrer intensiven, brennenden Poesie gezogen wurde.

Ich hatte viel gelesen von und über diese moderne Frau, die vollkommen eigenständig und radikal ihrem Weg folgte – wider den Anfechtungen des Klerus und trotz der damaligen Rolle als minderwertiges Weib. Mit zwölf Jahren hatte sie ihr Erweckungserlebnis – als ich alleine war, wurde ich in überaus seligem Fließen vom Heiligen Geist gegrüßt …

Passt ja. Mechthild die Nahe. Die in ihrer Zeit vom Heiligen Geist spricht, wie wir heute wohl von einem sich weitenden Bewusstsein. Alles, was sie schrieb, strömte aus dieser EINEN Lichtquelle, ist wie eine Zwiesprache zwischen der Seele und Gott in Einheit – wenn ich scheine, so musst du leuchten, wenn ich fließe, so musst du tosen, wenn du aber liebst, so werden wir zwei eines, und wenn wir zwei eines sind, so kann niemals mehr Trennung geschehen, sondern ein lustvolles Harren wohnt zwischen uns beiden.

Ich bin hier zur Hochzeit des jungen Liebespaars, und die Sehende fällt in mein Innerstes mit der großen, zeitlosen Hochzeit. Mit Worten höchster Intensität, mit Leuchten und Tosen und dem Vibrieren im Harren.

Und dem Lustvollen. Sie singt vom Eros der Mystik. Was dazu führte, dass die Kirchenmänner sie eines irdischen Geliebten verdächtigten und ihre ganze Gotteserfahrung infrage stellten. Sie konnten sie nicht verstehen. Wer weiß, welche Fantasien der eine oder andere hatte – während sie vom Ungetrennten, vom Heimlichsten aller Geliebten sang.

Mechthild verließ mit vierundzwanzig Jahren ihr adliges Elternhaus und schloss sich den Magdeburger Beginen an, um sich ganz ihrem spirituellen Weg zu widmen. Dazu gehörte für sie auch, sich um die Armen zu kümmern. Und das Elend der Bevölkerung war groß, da muss man sich schon hinzulangen getrauen. Wer bei Gott eintaucht, wird beim Mitmenschen auftauchen.

Und es bedeutete auch – ihrer inneren Wahrheit verpflichtet – ihre Wahrnehmung von Formen der ausufernden Verweltlichung des Klerus kritisch zu benennen.

… die Worte, die niemand gehört hat.

Doch sie findet überraschenderweise einen Unterstützer aus kirchlichen Kreisen in jener für Frauen so gefährlichen Zeit. Ohne Hilfe, ohne jemanden, der die größere Wahrheit in ihren Schriften sehen konnte, wäre sie sicher der Ketzerei angeklagt worden. Sie konnte gar nicht anders als sprechen – die Seele –je stiller sie schweigt, desto lauter ruft sie.

Sie wird vom Klerus angefeindet und bedroht; eine Frau, und mag sie noch so adlig sein, die ohne theologische Ausbildung, ohne Lateinkenntnisse, in Volkssprache, so kühn von ihren spirituellen Erfahrungen schreibt – das geht nicht. Wär ich ein gelehrter geistlicher Mann, du würdest ewige Verherrlichung dafür empfangen. Stattdessen wird sie belehrt, dass, wenn sie nicht davon absähe zu schreiben, es – immerhin nur das Buch, nicht sie – in Flammen aufgehen würde.

Gott beruhigt sie – die Wahrheit kann niemand verbrennen. Dieses Buch, das heute nicht nur als literarischer Edelstein erscheint, war das erste mystische Werk in unserem Kulturraum, noch vor den Schriften Meister Eckharts, mit dem sie voranging, den so unebenen Weg gebahnt hat – mit der einzigen Vollmacht, die sie hatte, dem göttlichen Auftrag.

Vielleicht ist die Zeit endlich reif dafür, dass die unmittelbare Quelle der Mystikerinnen – es kommen ja noch viele nach ihr, hier und in ferneren Ländern – die Basis für uns Frauen werden, den Boden harter, patriarchaler Strukturen zu erweichen mit dem aus dem Innersten geborenen Mut, der viel tieferen, existenziellen Befreiung, der Liebe. Ohne die nichts milde wird.

Mich packt ihre Radikalität, Jahrhunderte vor Merton, dieses bedingungslose Folgen, dieses sich ganz, vollkommen auf DAS Beziehen. Ein Leben im Namenlosen als höchste Priorität, durch alle Anfechtungen hindurch, der äußeren, der inneren. Natürlich begegnete auch sie der Dunkelheit der Seele, der inneren Wüste. … du sollst das Nichts lieben, war die innere Antwort.

Wie kann ich es lieben, das verschlossene Herz?

Meine Pein ist tiefer als der Abgrund, mein Herzleid ist weiter als die Welt, meine Furcht ist größer als die Berge, meine Sehnsucht reicht höher als die Sterne. In diesen Dingen kann ich dich nirgends finden.

Ist ihre Antwort.

Die ich auf Erden zu mir herziehe, denen tut der Zug sehr weh.

Ist die Antwort.

Ich stelle mir meinen mahagonifarbenen Stuhl in die Sonne auf dem kleinen Balkon und ziehe mit meinem Laptop auf den Knien durch meine und Mechthilds Seelenräume. Mein Herz fließt wieder, versinkt, versingt sich in den Liebesworten. Da Gott sich nicht mehr halten konnte, erschuf er die Seele und gab sich ihr in großer Lieb zu eigen.

Und führt diese Seele mit Gewalt in die heilige, wahre Erkenntnis ein.

Ich liebe diese Gewalt. Ich sehne mich nach dieser Gewalt.

Ich sehne mich nach der Sicherheit der Seele, nach der großen Zunge der Gottheit, nach dem Erkennen der unaussprechlichen Ordnung, nach der Berührung des heiligen Geistes mit seiner fließenden Flut.

Was hat diese Frau für eine Poesie. Und ich fließe in ihr, mit dem Blick auf die Rhododendren in Purpur, Weiß und Violett.

Die durchsichtige Klarheit und ethische Kraft Mechthilds, ihre tiefsten Erfahrungen, aus denen sie spricht in einer Modernität, nimmt mir auch Jahrzehnte nach meiner ersten Begegnung mit ihr den Atem.

Alle, die dieses Buch verstehen wollen, müssen es neunmal lesen. Neun Stufen der Seele, neun Stufen des Bewusstseins. Jedes Mal neu.

Diese Worte bergen so eine zeitlose Dynamik, die Übersetzung bräuchten in eine Zeit aus Jetzt, getragen von den Wellen der Evolution, unversehrt-zeitlos, hoch modern. Um die Suchenden des zweiten Jahrtausends den feinen Duft der Worte aus fließendem Licht ahnen zu lassen.

Der Herr sagt: dieses Buch wird beständig unerschüttert bleiben und du mögest dieses Buch behüten vor verlogener Aufmerksamkeit.

Mich erschüttert es. Jetzt, heute, 800 Jahre später.

Gott hatte recht.

Mit etwas wackligen Knien wühle ich aus meinem Koffer das Kleid für die hiesige Hochzeit heraus, leicht flatternd in der Synchronizität des Lebens aus innerer und äußerer Hochzeit.

Im Bad lege ich etwas Farbe über mein verweintes Gesicht, eine heilige Aufmerksamkeit sollen wir für uns selber haben. Wobei vermutlich das Überschminken nicht so genau damit gemeint war …

Ich lege meinen Schmuck an. Wie die Braut im Hohen Lied, dessen Sprache sich Mechthild in ihrer Kühnheit bediente, die Braut, die heute nicht ich bin, es der Jungen überlasse; oder es immer war, schon immer, seit ich hier bin. Braut mein ganzes Leben.

Der Schmuck ist eine Kette meiner verstorbenen Mutter, für meinen Neffen, dass auch etwas seiner geliebten Großmutter bei seinem großen Fest dabei ist, die Ahnin auch mitträgt.

Nicht nur, weil die Beine noch zittern, sondern auch aus dem Spaß an hohen Absätzen hänge ich mich elegant in den Arm meines hiesigen Bräutigams, durchschreite die weichen Teppiche, die verbauten Flure und trete in den blendenden Pfingstsonntag im Park.

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