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Philomène Atyame

Salomos Söhne

Roman

ATHENA

Literaturen und Kulturen Afrikas

Band 8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

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1. Auflage 2012

Copyright © 2012 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-303-9

ISBN (ePUB) 978-3-89896-822-5

Schade für alle, die aus Adas Geschichte keine Lehre gezogen haben! Schade für sie alle, Salomos Söhne, die den Fußpfad des alten Königs weiter gehen! Sie verehren ihn weiter, beneiden ihn um seine tausend Frauen, dabei sagen sie die Eitelkeit ihres eigenen Lebens voraus. Aber eins vergessen sie: Es ist nicht alles eitel!

Meinen Töchtern

Marcelle und Fatou-Myriam

Fernes Tcholliré

Gott allein weiß, warum das Blut unserer Eltern unsere weichen Herzen so stark bewegt, warum wir, die vernachlässigten Töchter oft diejenigen sind, die sich an unsere Eltern so eng gebunden fühlen! Jahrelang flossen aus meinen Augen bittere Tränen, bis ich nicht mehr wusste, warum ich so viel unter der Schuld am Tod meines Vaters zu leiden hatte! 1995 brachte der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen!

Es war gegen Ende jenes Jahres. Seit Papas Tod in Tcholliré waren inzwischen sechs Jahre vergangen. Aber die Vorstellung, dass er – wie meine sehr sensible Tante Mintya es immer wieder betonte – »seinen Kindern zuliebe einen Mord beging, den er gar nicht begehen wollte«, quälte weiter mein sehr waches Gewissen. Ich war einem Zusammenbruch nah, als ich entschied, nach Tcholliré zu fahren, zu diesem geheimnisvollen Ort, an dem mein Vater wie ein Heimatloser aus dem Leben schied. Ich wollte Papa um Verzeihung bitten, ihm alles beichten, was ich, seine älteste Tochter zu seinen Lebzeiten falsch gemacht hatte! Oh Gott, wer hatte eigentlich etwas falsch gemacht? Ich oder Papa? Den armen Geist des vernachlässigten Geschöpfes, das ich damals war, verwirrte diese Frage jedes Mal. Aber heute, heute weiß ich, dass ich mir mit dieser Beichtabsicht Unrecht tat!

Ich werde nie die aufregendsten Augenblicke jenes Reisetages vergessen. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich mich auf den Weg in den Norden unseres Landes. Es war kurz vor achtzehn Uhr. Ich hatte schon die Fahrtstrecke Ebolowo’o – Yaoundé hinter mich gebracht, stand voller Hoffnung am Bahnhof Yaoundé und betrachtete die noch stehenden Waggons des Nachtzuges, der uns nach Ngaoundéré fahren sollte. Er hatte schon dreißig Minuten Verspätung, als die Lokomotive mit einem Hupen die Abfahrt meldete. Mein sonst langsam klopfendes Herz begann schnell zu schlagen, was ich zunächst als normale innere Aufregung empfand. Doch als die Lokomotive zum zweiten Mal hupte, kam mir meine Reiseabsicht so sinnlos vor, dass mich das törichte Gefühl ergriff, ich sei nichts anderes als eine Schlafwandlerin.

Es war wie in einem Alptraum! Das letzte Hupen unseres Zuges hörte sich wie das drohende Gebrüll eines zornigen Elefanten an, dieser Zug, den ich mir so sehr herbeigewünscht hatte! »Endlich!« »Endlich!«, riefen die ungeduldigen Reisenden, die sogleich zu ihren Waggons liefen. Ich aber zögerte, fragte mich, was ich so spät und allein auf einem Bahnhof in der Hauptstadt, weit weg vom Süden zu suchen hatte, während meine Stiefbrüder, für die mein Vater wirklich gestorben war, sich im Dorf auf die kommenden Schlafstunden in ihren Bambusbetten freuten. Noch schwerer wurden meine Schritte, als mir erneut die bittere Wahrheit durch den Kopf schoss, dass ich von Papas 29 Kindern das allererste war, das er mit einer seelisch verkümmernden Mutter im Stich gelassen hatte! »Mein Gott warum? Warum muss ausgerechnet ich, das wirklich verlassene Kind, auch jetzt das erste sein, das Papa an seinem Grab alles beichtet?« Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Und kopfschüttelnd stieg ich in einen Zug, dem von vorneherein ein Stein im Weg lag.

Vom Süden in den Norden Kameruns ist der Weg sehr lang, insgesamt 1500 Kilometer, und nicht ohne Gefahren. Man fährt 700 Bahnkilometer die ganze Nacht durch. Mit Buschtaxis kann man 500 Kilometer weiter nach Norden fahren. Danach – bis zur Nordgrenze – findet man schwierig Fahrgelegenheiten. Wer wie ich von Ebolowo’o kommt, muss fast das ganze Land durchqueren. Die Nachtfahrt mit dem Zug von Yaoundé nach Ngaoundéré ist die anstrengendste. Entgleisungen und Kurzschlüsse kommen oft vor, eine Gelegenheit für Diebe, die Reisenden zu überfallen. Die anschließenden Fahrten mit Buschtaxis sind auch nicht ohne Risiken. Bei einer Panne kommen manchmal kriminelle Banden von überall, les coupeurs de routes. Oft drohen sie den Reisenden mit Waffen, wenn sie sich weigern, ihnen Geld zu geben.

»L’argent!«, flüsterte mir ein Mann mit einem Messer in der Hand ins Ohr. Es war ein stämmiger Mann fast im mittleren Alter, mit dem ich mich bisher in gelassener Stimmung unterhalten hatte. Er war in Nanga-Eboko eingestiegen und hatte sich gleich zu mir gesetzt. Ich saß in einem dieser Züge, die auf unserer schmalen Schienenlinie auffällig langsam fahren. Ich hatte noch den langen Weg nach Tcholliré über Ngaoundéré vor mir, den Weg bis ins Gefängnis, hoffte, man würde mir dort sagen, wo man die Gefangenen beerdigt hatte, die 1989 im Gefängnis verhungert waren. Neben ihren Leichen soll die Leiche meines Vaters gelegen haben. Es war einer der Gefängniswärter Tchollirés, der meinem Großvater Otam dies über den Vermittlungsdienst von Ebolowo’o mitteilte. Er stammte aus dem südlichen Dorfkreis Ma’an und soll Papa in Tcholliré kennengelernt haben.

Wir waren in der Nähe von Belabo, blieben dort wegen eines großen Steins stecken, den eine Räuberbande auf die Schienen niedergelegt hatte. Mit einer zitternden Hand zog ich mein Portemonnaie aus der Handtasche, hielt es noch unentschieden in der Hand, als der Mann es wegriss. Er blieb weiter sitzen, aber nur kurz. Plötzlich stand er auf und ging. Wohin? Das weiß ich bis heute nicht!

Ich saß nun allein in dem Waggon, hatte kein Geld mehr, getraute mich auch nicht, in diesem unheimlichen Zug jemanden anzusprechen, weil ich das Gefühl hatte, darin säßen viele Diebe. Aber es war selbstmörderisch, weiter in diesem Waggon allein und schweigend zu sitzen. Auch ich stand auf, wollte mich aber gleich wieder setzen, als ich merkte, dass der nächste vordere und hintere Waggon kein Licht hatten. Doch ich fasste Mut, ging zunächst langsam nach vorne, lief dann schnell von einem Waggon zum anderen, »Oh voleur! Oh voleur!« rufend, bis ich dort hielt, wo ich viele Leute in einem beleuchteten Waggon fand.

Ich stand nun im dritten Waggon, keuchte vor Frauen und Kindern, die auffällig ähnlich aussahen. Gleich vor mir saß eine alte Frau, drei kleine Kinder riefen sie »Na«. Rechts von dieser alten Frau saß eine junge Frau, die Kinder riefen sie »Mma«, wahrscheinlich die Tochter der alten Frau.

»Sag mal! Was war das für einer?«, fragte die junge Frau.

»So ein Kleiner«, antwortete ich.

»Braun? Dunkelbraun?«

»Ja. Habt ihr ihn gesehen?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Eben, eben ist so einer ausgestiegen. Das war schon merkwürdig. Da draußen ist nur Wald und Dunkelheit, und pinkeln kann man hier drin«, bemerkte sie.

»Den finde ich nicht mehr. Er ist mit meinem Portemonnaie weg«, sagte ich verzweifelt.

»Das gibt’s nicht! Warum hast du nicht sofort laut geschrien?«, fragte mich die alte Frau.

»Er hatte ein Messer. Er wollte mich töten. Wir waren ganz hinten.«

»Warst du allein mit ihm in dem Waggon?«, forschte die Alte.

Ich wollte »nein« sagen, weil ich schon ahnte, worauf sie mit ihrer Frage hinaus wollte. Aber ich kann nicht lügen.

»Ja«, erwiderte ich.

»Warum lasst ihr jungen Mädchen euch immer gleich auf fremde Männer ein? Das ist leichtsinnig! Zu leichtsinnig! Der ist schon weg! Und du? Was machst du nun?«

Ich schwieg, aber nicht, weil ich nichts mehr zu sagen hatte, sondern weil es einfach keinen Sinn hat, manchen Alten zu widersprechen. Für sie war ich nichts anderes als eine Hure, die ein Unbekannter beklaut hat. Alles andere, was ich ihr erzählt hätte, hätte sie bloß als eine Lüge empfunden.

»A sya Sita, A sya Sita«, bedauerte die junge Frau. »War es viel Geld?«, fragte sie.

»30 000«, antwortete ich.

»Gott! So viel?«, staunte die Alte.

»Armes Mädchen! Warte auf die Zugbegleiter! Sie sind da vorne, bei den Gleisarbeiten, dort, wo du Taschenlampen siehst. Sprich den ersten an, der zurückkommt«, riet mir die junge Frau.

»Oh nein, lieber nicht. Lieber nicht.«

»Wieso nicht?«

»Ich habe kein Ticket mehr. Es war in dem Portemonnaie. Das darf keiner von ihnen erfahren. Sonst machen sie Probleme!«

»Wieso? Man hat es dir gestohlen. Das müssen sie sogar erfahren!« bekräftigte sie.

»Nein nein nein … Oh Gott, was soll ich tun? Ich muss zurückfahren …, ich fahre nach Yaoundé zurück. Ich steige in Belabo aus. Ich werde trampen. Ich habe keine Wahl …«, entschied ich in diesem Augenblick großer Verzweiflung.

»Oooh! Oooh! Das finde ich noch gefährlicher! Es ist bald Mitternacht!«

»Lass sie tun, was sie will. Es gibt Mädchen, die Abenteuer mögen«, schloss die Alte.

Ich setzte mich links von dieser anscheinend sittenstrengen alten Frau und schaute durch das Fenster. Ich sah nichts als Dunkelheit. Die Zugbegleiter waren schon im Zug. Ich fühlte, wie Trauer tief in meinem schnell klopfenden Herzen saß. Ich wollte laut, ganz laut weinen, aber ich hatte Angst vor den Zugbegleitern. Sie wären gleich zu mir gekommen und hätten mich gefragt, warum ich weine. Gerade das wollte ich nicht. Ich versuchte, mich zu beherrschen. Als der Zugfahrer mit einem Hupen das Ende der Gleisarbeiten meldete, traten mir Tränen in die Augen. »Ouf! Ouf!«, rief die junge Frau erleichtert. Ich war völlig verzweifelt.

Die nächste Haltestelle war Belabo. Ich stieg als Erste aus, besorgt und erleichtert zugleich. Ich war den Kontrolleuren aus dem Weg, fühlte mich aber in der fortgeschrittenen Nacht jedem Mann ausgesetzt. Am Bahnhof sah ich nur Männer. Ich prüfte ihre Gesichter, ging unsicher zu dem nächsten, um ihn zu fragen, ob man in dieser Stadt um diese Zeit Fahrgelegenheiten nach Yaoundé findet und ob man überhaupt hier trampt. Es war verrückt, was ich da vorhatte. Aber die Engel Gottes sind überall in unseren Städten. In diesem Augenblick traf ich wie im Traum meinen früheren Lehrer aus Elat. Überrascht sah er mich an und fragte mich, was ich hier zu suchen hatte. Mit Tränen in den Augen erzählte ich ihm von dem Diebstahl. »Oooh! Das tut mir aber leid! Das tut mir wirklich leid!«, bedauerte er. »Aber sei froh, dass du noch am Leben bist! Er hätte dich auch töten können! In diesen Zug steigen unterwegs viele Diebe ein. Nie wieder allein mit einem fremden Mann in einem Waggon sitzen! Was nun? Ich habe nicht viel Geld. Gut, ich schlage vor, dass du sofort nach Yaoundé zurückfährst, sonst findest du keine Gelegenheit mehr. Es ist fast Mitternacht«, sagte er, während er Geld aus seiner Hosentasche holte. Zehntausend Fcfa. »Träume ich?«, fragte ich mich. Nein, es war kein Traum, es war wirklich Geld, Scheine, zehntausend Fcfa. Welch eine Erleichterung! Ich dankte ihm, diesem guten Engel Gottes, den ich nie vergessen werde. Ich dankte als nächstem Gott, der für diese zufällige Begegnung gesorgt hatte. Als ich meinen Retter in den Zug steigen sah, verlangte es mich, meine Reise fortzusetzen. Er wollte seinen Bruder in Maroua besuchen. Mein Weg war nicht so weit, Tcholliré liegt zwischen Ngaoundéré und Maroua. Ich hatte leider nicht genügend Geld. Mit zehntausend Fcfa wäre ich nur hin-, aber nicht zurückgekommen. Außerdem hatte ich noch Angst vor diesem Zug, konnte noch dieses scharfe Messer auf mich gerichtet sehen, nur weil ich mit meinem verstorbenen Vater sprechen wollte. Ich hatte keine Wahl, musste zurückfahren. Zum Glück genügten die zehntausend Fcfa für die Fahrstrecke Belabo – Ebolowo’o über Yaoundé.

Ich fand gleich hinter dem Ausgang ein Taxi, das mich in die Station der Buschtaxis ins Stadtzentrum brachte. Dort fand ich noch eine Fahrgelegenheit nach Yaoundé, wahrscheinlich die letzte.

Es war ein kleiner weißer Bus. In diesem Bus sah ich keine Frau. Mir kam dieser Transportwagen wie mein Grab vor. »Muss ich wirklich sterben, nur weil ich mit meinem toten Vater sprechen wollte?«, fragte ich mich wieder. Ich stieg in den Bus ein, bat Gott um einen neuen Schutzengel und kehrte in derselben Nacht nach Yaoundé zurück.

Es dämmerte schon, als wir in Yaoundé ankamen. Dort stieg ich in das erste Buschtaxi ein, das sogleich nach Ebolowo’o abfuhr.

Was nun? Ich wusste es nicht recht. Die Zeit sollte wieder entscheiden. Tage, Nächte, Wochen, Monate und Jahre vergingen, inzwischen sind es neun Jahre, ja, seit insgesamt fünfzehn Jahren belastet mich das Gefühl, am Tod meines Vaters schuld zu sein.

Ich musste etwas tun, um mich endlich von diesen Schuldgefühlen zu befreien, und ich wusste, dass nicht meine Verwandten, die (um sich die Hände zu waschen) mit dem Finger auf uns, Papas Kinder zeigten, mich davon befreien werden, sondern ich allein. Daher entschied ich, etwas zu tun, das kein Kind gern tut. Kinder reden ungern über die Versäumnisse ihrer verstorbenen Eltern. Nicht zu Unrecht. Es gibt nichts anderes auf dieser Welt, was ein Kind so schwermütig machen kann wie die Erinnerung an die Fehler seiner verstorbenen Eltern. Aber wenn ich weiter schweige, werde ich nie wieder reden können, dann werde ich wie meine Mutter schweigen. Gerade das will ich nicht, weil ich schon Kinder habe, die mich reden hören wollen.

Aber ich fürchte, dass das Schweigen mächtiger als der Mensch ist, dass es sich im Menschen durchsetzt, wenn er völlig erschöpft ist. Ich muss mich schon jetzt so sehr aufraffen, um etwas zu sagen! Aber bevor ich endgültig schweige, werde ich, so weit ich es noch kann, alles sagen, was mich im Leben so bedrückt hat. Ich werde alles sagen, was ich über meine Familie weiß und was ich, Papas ältestes Kind, in dieser Familie empfunden habe.

Es war einmal

Es ist leider kein Märchen, sondern die Wahrheit, eine trostlose Wahrheit, die mich immer wieder so fürchterlich quält. Wüsste ich nur, wie lange ich mit diesen quälenden Schuldgefühlen noch ringen muss! Ich fürchte bis zum Tod! Mein schon sehr schwermütiges Gesicht bekommt jedes Mal neue Falten des seelischen Elends, wenn mich plötzlich die Schuld an Papas Tod zu quälen beginnt. Gerade das verdiene ich nicht, weil es auf dieser Welt keinen anderen Menschen gibt, den ich mir so herbeigesehnt habe wie Papa! Jetzt gebe ich meinem Urgroßvater Recht, Vamba Obeme, den ich eines Tages sagen hörte, dass das Gefühl der Schuld erst recht jene Lebenden quält, die keinen Abschied von ihrem Toten genommen haben.

Es sind nicht viele auf dieser Erde, jene Menschen, die den Leichnam ihrer Eltern nicht gesehen haben. Ich zähle heute zu ihnen, zu diesen von Schuldgefühlen ständig Gequälten, die bei der Grablegung ihrer Liebsten wider Willen nicht dabei waren. Aber vielleicht war es die Vorschrift einer unbekannten Allmacht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Papa im Sinne unserer Bräuche ein Grab in Mbaangok bekommen hätte, wenn er nicht im Gefängnis in Tcholliré gestorben wäre. Papa wäre auch nicht in diesem Gefängnis gestorben, wenn er keinen Mord begangen hätte. Die andere Wahrheit ist, dass Papa diesen Mord beging, weil er – wie er selbst vor Gericht sagte – Geld für seine Kinder brauchte. Papa wollte vor seinem Tod den Schulerfolg seiner auserwählten Kinder sicherstellen, seiner sechs auserwählten Jungen. Leider entspricht der Lebenslauf nicht immer den Wünschen der Menschen. Diese Lehre habe ich aus Papas Leben gezogen.

Er hatte sich nie neunundzwanzig Kinder gewünscht, aber wir wurden tatsächlich so viele, neunundzwanzig Kinder, weil Papa viele Jungen haben wollte, um im Sinne unserer Bräuche ein würdiger und glücklicher Vater zu sein. Oh! Papa wusste nicht, dass viele unserer Bräuche würdelos sind, er wusste auch nicht, dass das Glück ein verlockendes Ziel ist, wonach jeder Mensch sein ganzes Leben lang strebt und nur ab und zu kurze Augenblicke davon empfindet, die aber immer wieder rasch wie ein Blitz vergehen.

Es gibt gewisse Gründe, die die Männer Mbaangoks zwingen, viele Kinder zu haben: Der erste, auf ihn hatte aber Papa nie Wert gelegt, ist jener Brauch, der die Mädchen Glück nennt, solange sie ihre Eltern mit Brautpreisen bereichern; der zweite ist auch ein Brauch, der aber anders als der erste die Jungen als einzige Erben und deshalb als einziges Glück der Familie nennt, so dass eine Frau, die zuerst Mädchen gebärt, solange gebären muss, bis sie Jungen bekommt; der dritte ist der bekannteste, der Brauch der Vielehe, der das Glück eines Mannes an der Zahl seiner Frauen misst; der vierte ist kein Brauch, aber immerhin eine Gewohnheit, die den zeugungsunfähigen Männern Mbaangoks eigen ist, ich meine ihre Neigung, alleinstehende Frauen mit Kindern zu heiraten, auf der Suche nach dem Vaterglück, die leider immer am Ende vergeblich ist, weil das Glück selbst so vergänglich ist! Es gibt selbstverständlich andere Gründe, aber was Papa betrifft, sind vor allem der zweite, aber auch der dritte und vielleicht auch ein mir noch unbekannter Grund die Ursachen seines Todes. Wie gesagt, ganz auszuschließen ist der erste Grund, ich betone es noch einmal, damit niemand glaubt, Papa hätte mit seinen Töchtern jemals die Absicht gehabt, sie an Männer zu verkaufen, nein, zumindest in dieser Sache ist mein Vater ein Vorbild geblieben.

Er brauchte unseretwegen viel Geld und jeden Tag mehr, bis er eines Tages entschied, seiner letzten Hoffnung zuliebe – Papas letzte Hoffnung waren seine sechs Jungen – bei einem Verwandten einzubrechen, im Glauben, dieser Verwandte würde ihn niemals bei der Polizei anzeigen. Mitte des Jahres 1989 verurteilte die Justiz meinen Vater wegen eines Diebstahls und eines Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Nur wenige Monate nach seiner Überführung von Kondengui nach Tcholliré starb Papa. Es war der Hunger, der meinen Vater im Gefängnis umbrachte.

Schlimm ist, dass bis heute keiner weiß, wo genau Papa in Tcholliré ruht. Außer mir hat keiner aus der Familie versucht, es herauszufinden. Sie wollen es gar nicht, wollen es nicht einmal versuchen, weil – das meinen sie – wir Kinder selbst damit fertig werden sollen, vor allem ich, weil ich Papas ältestes Kind bin… Sie reden sich heraus, wollen nicht zugeben, dass sie es versäumt haben, einen Stammesverwandten im Dorf zu begraben. Sie überließen Papas Schicksal ganz dem Staat .

Aber sie könnten ihr Versäumnis wiedergutmachen, könnten sich mindestens jetzt auf die Suche nach Papas Grab machen, anstatt den Pontius Pilatus zu spielen, anstatt sich die Hände zu waschen, sie, die weiter über die tödlichen Bräuche Mbaangoks schweigen, obwohl sie genau wissen, dass es in erster Linie diese Bräuche sind, die Papa umgebracht haben.

Trostlos gute alte Zeiten

Es gibt immer noch viele unverständliche Dinge auf dieser Welt. Zu diesen Dingen zählen jene Unglücke, die sich meistens plötzlich ereignen und den wenigen guten Männern auf dieser Erde widerfahren. Das größte dieser Unglücke ist der Tod ihrer Frauen nach einer schwierigen Geburt. So starben die Frauen meiner Vorfahren. Ich soll an diese Frauen erinnern, um die Missetaten meiner Eltern nicht ohne ihre Ursachen bloßzulegen, um überhaupt das Rätsel zu klären, warum Übeltaten in unseren Bräuchen noch so tief verwurzelt sind.

Mein Urgroßvater Obeme be Afane, den wir Vamba nannten, war eine Ausnahme: er hatte nur eine Frau.

Sie starb genau sieben Jahrzehnte vor dem Todesjahr meines Vaters. Es war im Jahre 1919. Abiaye Abe, der wir Urenkel heute mit dem Würdentitel der Ahninen »Nane« gedenken, war erst dreißig, hatte kaum gelebt. Ihr Name erinnert an die Leiden unserer Ahnen. Dieser Name machte alle, die ihn zum ersten Mal hörten, neugierig, versammelte an vielen Orten im Süden Kameruns immer und immer wieder Kinder, die etwas über die Geschichte dieser Ahnin wissen wollten. Da war mein Urgroßvater, ein schweigsamer Witwer, in seinem Geburtsort Mbaangok sehr gefragt. Aber nach dem Tod seiner geliebten Frau wollte er mit niemandem mehr sprechen, nicht einmal mit uns, seinen Urenkeln, die er über alles liebte.

Er reiste oft zwischen Mbaangok und Ebolowo’o in Begleitung meiner Mutter, um, wie ich später erfuhr, meine Stiefgeschwister zu besuchen, aber auch wegen seiner Augen und seines Rückens. Er hatte von den Feldarbeiten starke Rückenschmerzen und wegen seines Alters schwache Augen. Es waren die Ärzte von Enonga, einem Stadtteil Ebolowo’os, die ihn behandelten. Sie hatten damals einen guten Ruf und waren sehr bekannt für die Behandlung von altersbedingten Erkrankungen.

An einem Abend in Ebolowo’o, in dem bekannten Stadtteil Elat (Vamba Obeme und meine Mutter waren gerade vom Krankenhaus zurückgekehrt), versammelte mein Ahne, der kaum noch sehen konnte, seine Urenkel, meine Stiefgeschwister in einem der geräumigen Häuser unseres Vaters in diesem Stadtteil. Achtundzwanzig waren dabei, nur ich fehlte. Ich blieb in Mbaangok, wie meine Mutter es mir vorschrieb, genoss zuhause die Besuche von Opa Otam, meinem Großvater, der nur einige Schritte von uns entfernt wohnte und mir fast jeden Abend alte Weisheiten, Märchen, Geschichten über gute und schlechte Zeiten, Fabeln und alte Volkslieder beibrachte. Mein Urgroßvater bedauerte meine Abwesenheit sehr. Daher bat er meine Mutter, zurück in Mbaangok, mich über alles zu unterrichten.

Zwei Tage nach dem Familientreffen erfuhr ich alles. Meine Mutter und ich waren auf ihrem Maisfeld und säuberten es mit zwei großen Hacken von Unkraut. Da Reden beim Arbeiten uns immer munter machte, unterhielten wir uns über alles, was uns einfiel. Es war für meine Mutter die beste Gelegenheit, das zu tun, was Vamba Obeme von ihr erwartete.

»Obeme liegt mir am Herzen. Seine Frau war mit mir verwandt, eine Ezakok. Sie stammte aus Meyozo, wo auch ich herkomme. Obeme war so gut zu ihr, dass ich glaubte, alle Männer Mbaangoks wären genau so. Ahnungslos wie ich war, heiratete ich deinen Vater. Ein Fehler, den meine Kusinen aus Meyozo wiederholten, deine Stiefmütter.«

Zunächst abwesend hörte ich sie sprechen. Ich glaubte, sie wollte wieder über Papa jammern, wie sie es so oft tat. Aber irgendwann lenkte sie meine Aufmerksamkeit auf diesen Ort, Meyozo, ihren Geburtsort, zugleich den Geburtsort meiner Stiefmütter, auch den Geburtsort anderer Frauen, die ich in Mbaangok täglich sah.

»Sie hatte einen ungewöhnlichen Namen, Abiaye Abe«, fuhr sie weiter.

»Abiaye Abe?«, fragte ich überrascht.

»Ja«, antwortete sie.

»Die Geburt des Bösen?«, übersetzte ich.

»Ja.«

»Mama, warum hatten die Leute früher solche Namen?«, fragte ich lachend.

»Dein Urgroßvater ist derjenige, der dir besser antworten kann. Aber vorgestern hat er mich gebeten, euch allen, seinen Urenkeln, Abiaye Abes Geschichte zu erzählen«, erklärte sie.

»Waren alle da?«, forschte ich weiter.

»Nein, Liebste, du warst ja nicht dabei.«

»Das weiß ich. Ich meine die anderen.«

»Ja, sie waren alle da«, erwiderte sie. »Es war wie bei einem Schulklassentreffen«, berichtete sie weiter. »Achtundzwanzig Kinder«, sie meinte meine Stiefgeschwister, »saßen eins neben dem anderen, zwischen ihnen saßen dein Vater und ich, und zwischen uns beiden saß Obeme, dein Urgroßvater. Dazu kamen Ozila, Nkouse’e, Ebolo und Kulu, meine vier Kusinen, die dein Vater geheiratet hat. Fast die ganze Familie war da, eine Gelegenheit für Obeme, weiter zu schweigen. Er brach sein Schweigen nur für kurze Zeit, sprach mit mir, nur eine Bitte habe er an mich, mehr wolle er nicht sagen.« Meine Mutter verriet mir alles, was die ganze Familie an diesem Tag hörte, genau wie ich es von meinem Urgroßvater selbst (sehe ich von seinen eigenen Ergänzungen ab) bestätigt bekam. Sehr aufmerksam hörte ich ihr zu:

»Mama, du bist Papas erste Frau«, begann dein Vamba.

»Aber Mama, wieso ruft dich Vamba immer Mama? Auch hier im Dorf rufen dich alle Mama. Warum?«, unterbrach ich sie.

»Weil Obeme damit angefangen hat. Am Tage meiner Hochzeit sagte er zu mir: ›Deinen Mann, der eigentlich Tate heißt, rufen wir alle Papa, weil sein Taufname Tate im engeren Sinne des Wortes Vater bedeutet. Für uns ist er also der Vater der Yemezem, und du bist ab heute unsere Mutter. Deswegen werden wir dich nicht Ella, wie du eigentlich heißt, rufen, sondern Mama.‹ Ich bin für Obeme die Mutter, die Gott für die Leute von Mbaangok bestimmt hat, die Mutter der Yemezem. Und ehrlich gesagt, ich sehe alle Yemezem als meine Kinder. Deswegen fällt es mir sehr schwer, die Alten hier mit Papa, Opa oder Vamba anzureden. Vorgestern hatte ich wieder das Gefühl, auch Obeme wäre mein Sohn. »Mama, du bist Papas erste Frau. Du hast deswegen besondere Verpflichtungen in unserer Familie«, fuhr er fort.

»Ja«, erwiderte ich. Was sollte ich sonst sagen? Ich bin ja nun die erste Frau seines Sohnes.

»Da auch du aus demselben Dorf wie meine Abe stammst, gehe ich davon aus, dass du ihre Geschichte gut kennst.«

»Ja«, antwortete ich wieder.

»Früher, als meine Abe noch lebte, habe ich meinen Enkeln, deinem Mann Papa und seinen Schwestern diese Geschichte gern erzählt. Papa kann es bestätigen. Aber heute kann ich es nicht mehr, ich schaffe es einfach nicht mehr. Kaum mache ich den Mund auf, klingt mir jedes Wort traurig. Seitdem meine Abe tot ist, fällt es mir schwer, über sie zu reden … Ich glaube, ich bin noch nicht darüber hinweg. Ich bitte meine Urenkel deshalb um viel Verständnis. Mama, ich habe eine Bitte an dich: Kannst du den Kindern Abes Geschichte erzählen? Sie dürfen schon davon wissen, der Älteste ist schon acht Jahre alt.«

»Opa, die Älteste, nicht der Älteste. Du meinst doch Ada! Oder?«, fragte dein Vater seinen Großvater.

»Doch Ada, Ada meine ich. Tja, Papa, es ist das Alter, in meinem Alter wird man vergesslich. Aber, ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob es in unserer Familie jemanden gibt, der die Geburtsfolge deiner Kinder gut kennt. Zu viele Kinder auf einmal! Du bist in Mbaangok der erste, der in acht Jahren neunundzwanzig Kinder bekommen hat.«

»Opa, mit fünf Frauen ist alles möglich. Außerdem sind viele Zwillinge dabei und einmal Drillinge!«, bemerkte dein Vater.

»Ja, aber so was tut kein guter Papa«, meinte Obeme mit einer ernsten Miene.

»Opa, das ist Männlichkeit«, erwiderte dein Vater stolz.

»Lass das, Enkelchen. Das wirst du in ein paar Jahren nicht mehr sagen. Es kommt eine Menge auf dich zu … So, mein Lieber, kann Mama jetzt reden?«

Dein Vater hatte mit Obemes belehrenden Bemerkungen zu seiner großen Familie gerechnet. Er war sie schon gewohnt, aber sie ließen ihn nie gleichgültig, deshalb redete er weiter, sprach weiter von Männlichkeit, Zeugungsfähigkeit und Potenz in Gegenwart seiner Kinder, die da saßen und ihn anstarrten.

Aber seine Männlichkeit bedeutet ihm viel, und dein Vater meinte, dass die Bräuche es ihm erlauben, mit seinem Großvater zu scherzen, selbst wenn man sich dabei beleidigt.

»Opa, sollte ich etwa wie du nur eine sterbende Kuh heiraten, mit ihr ein einziges Kind zeugen und am Ende die tote Kuh begraben? Ist es das, was du von mir erwartest?«

Erschrocken sah dein Vamba seinen Enkel an! Ich fragte mich, ob Tate den Verstand verloren hatte. Welcher Enkel in Mbaangok hätte nur einmal gewagt, seinem Großvater so etwas zu sagen? Obeme war tief verletzt, ich sah es ihm an, aber dein weiser Vamba verzichtete auf einen großen Streit.

»Papa«, sagte er enttäuscht, »kannst du, auch wenn du Tate heißt, mich nur eine Sekunde ernstnehmen? Hör mir bitte zu! Ich rede heute wie ein Vater zu dir, und nicht wie dein Großvater, der ich eigentlich bin. Aber ich tue es, weil mein einziger Sohn Otam, dein Vater, es immer versäumt, seine Pflichten zu tun … Ich fürchte …, wirklich, ich fürchte, dass du bald unser König Salomon wirst. Nur, vergiss nicht, dass er seine tausend Frauen und zahlreichen Kinder – ich möchte die Zahl seiner Kinder nicht wissen – versorgen konnte, weil er ein reicher König war! Aber du, was hast du? Allein mit deinen Kakaofeldern schaffst du es nie, Papa, nie, nie und nie! Bitte, denk darüber nach! Außerdem: Ich habe deine Familie heute wegen einer Angelegenheit versammelt, die du schon hättest erledigen können.«

»Ist in Ordnung, Opa«, wagte dein Vater noch zu sagen.

»Das hoffe ich … Außerdem …, ich muss dir noch etwas sagen, bevor Mama zu reden beginnt. Ich versammele euch alle heute wegen Ossounou, deinem fünften Kindes, wenn mich mein Gedächtnis nicht wieder täuscht.«

»Dieses Mal nicht, Opa«, bemerkte dein Vater. Während er unter Tränen lächelte, warfen wir ihm vorwurfsvolle Blicke zu. Nur Ossounou kicherte. Aber Obeme ließ sich nicht weiter stören und sagte:

»Heute, nach dem Mittagessen habe ich mich eine Weile mit Ossounou unterhalten. Da fragte sie mich plötzlich, was ein häßlicher Name wie Abe in unserer guten Familie zu suchen habe.«

»Mein Kompliment, Töchterchen«, rief dein Vater. Ich war außer mir, konnte seine Frechheit nicht mehr aushalten. Abe war für Vamba Obeme alles. Wie konnte Tate in seiner Gegenwart so etwas sagen?

»Mann, wirst du jemals erwachsen sein?«, fragte ich ihn.

Erwachsen? »Es gibt Männer, die nie erwachsen werden. So ist dein Vater!«, sagte meine Mutter immer zu mir. Ich wollte mehr wissen, hörte ihr weiter mit Aufmerksamkeit zu:

Erst nach dieser Bemerkung, die ihn sehr hart traf, schwieg dein Vater. Ich konnte Wut in seinem Gesicht sehen. Seine verkniffenen Lippen und die plötzlich rot gewordenen Augen verrieten seine verletzte Männlichkeit, die ihm selbstverständlich nicht alles, aber doch viel bedeutet. Am liebsten hätte er mich auf der Stelle beschimpft, mich »unfruchtbares Weib« gerufen, aber er schwieg, musste schweigen, weil er keinen großen Streit mit Obeme wollte. Denn, das weiß dein Vater besser als ihr alle, ich bin in seiner Familie die einzige Frau, die sein Großvater mag … Obeme war, ich konnte es ihm ansehen, mit meiner Bemerkung zufrieden. Zu seinem Enkel gedreht, redete er weiter:

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9783898968225
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