Читать книгу: «Rabenflüstern», страница 4

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Als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen, putzte er die Klinge an der Kleidung des Enthaupteten ab und begann, die Männer zu durchsuchen. Voller Bewunderung sah die Königstochter ihm dabei zu.

Danach wuchtete er die Leichen zu einem Gebüsch, in dem er sie notdürftig versteckte. Ihre Waffen lehnte er an die Wand in der Höhle. Ein fürstliches Geschenk für den nächsten Reisenden, dachte er befriedigt. Unter den Dingen, die er den beiden abgenommen hatte, befand sich auch ein gut geschliffenes Jagdmesser mit Horngriff, das er Heikhe reichte. Würdevoll nahm sie es entgegen und verstaute die kleine Waffe unter ihrem Rock. »Danke«, sagte sie. »Du bist gar nicht so alt.« Er tätschelte liebevoll ihren Kopf.

»Weck deinen Bruder, wir brechen auf.«

Zurück auf dem Pfad entdeckten sie die angebundenen Pferde der Verfolger. Rhoderik nahm den Jungen vor sich auf den Sattel und hielt die Zügel des zweiten Tieres, das Heikhe bestiegen hatte, damit es nicht mit ihr durchgehen konnte. Sie kamen jetzt wesentlich schneller voran, doch der alte Krieger wusste nicht einmal, ob das gut oder schlecht für sie war. Anfangs bereitete das Reiten durch den Wald den Kindern noch Freude, vergnügt jauchzten sie, wenn ihnen ein Reh begegnete. Nach zwei Tagen ununterbrochenen Reitens kannten sie die Kehrseite; sie klagten über Schmerzen in Gesäß und Oberschenkeln.

Ihr Weg führte sie durch Tannen- und Mischwälder, vorbei an klaren Gebirgsseen, über Bergpässe, Täler hinab und wieder hinauf. Die Kinder hatten ihren Beschützer lieb gewonnen, vor allem Heikhe, die ohnehin von den beiden das Sagen hatte, war seit dem Geschehnis vor der Höhle wie ausgewechselt. Nachts, wenn die Wölfe heulten, kuschelte sie sich an ihn und tags erzählte Rhoderik Geschichten, meist über ihren Vater. Über ihre Mutter, die zweite Frau des Königs, die bei Gunthers Geburt gestorben war, wusste er nicht viel zu berichten. Sie war eine stille, zurückhaltende Frau gewesen. Und so betonte er stets lediglich ihre Großherzigkeit und Treue. Auch brachte er den beiden das Fischen und Jagen bei, zeigte ihnen, wie man Fallen stellte, und erklärte ihnen, dass man Respekt vor seinem Fang haben sollte so wie auch sonst vor allem, was lebte.

Die Nähe der Häscher nicht ahnend, die oft nur wenige Steinwürfe hinter ihnen die Gegend absuchten – einmal war es allein der Gunst der Götter und Rhoderiks vorsorglicher Achtsamkeit zuzuschreiben, dass sie nicht entdeckt wurden –, verlebten sie eine unbekümmerte und harmonische Zeit. Doch wie alle glücklichen Zeiten, musste auch diese irgendwann enden.

Als Rhoderik die Menschen aus ihren Dörfern ziehen sah, wusste er, wie weiter vorzugehen war. Ostera stand vor der Tür, was bedeutete, dass alle, die konnten, in die Städte reisten, um dort das große Fest gemeinsam zu zelebrieren. Ihr Ziel hieß Brisak. Die Pferde an einem Waldrand zurücklassend schlossen sie sich einer bunten Festtagsgruppe an, die ohnehin schon viele Kinder mit sich führte. Unter ihnen dürften seine zwei Schützlinge kaum auffallen, dachte sich der Krieger. Das Schwert verbarg er, so gut es ging, unter seinem Fellumhang, Gesprächen ging er weitestgehend aus dem Weg. Schnell hatten die Geschwister mit einigen der anderen Kinder Freundschaft geschlossen.

Dem wortkargen Sonderling wurde keine nähere Beachtung geschenkt, zumal er vorgegeben hatte, seine Frau, die Mutter der beiden, sei vor Kurzem erst am Fieber gestorben. Nach drei Tagen erreichten sie gegen Nachmittag die Feste am Rhein. Es regnete heftig und ohne Nachfragen der Stadtwachen drängten sie mit dem Rest der Ankömmlinge durch das Tor. Viele führten Vieh mit sich, Kinder und Frauen hatten sich Blumen in die Haare geflochten, die ihnen wegen des Regens im Gesicht klebten. Ein heilloses Durcheinander war entstanden, in dem jeder versuchte, Schutz unter den über die Straßen ragenden Dächern zu suchen, und Mütter aufgeregt nach ihren Kindern riefen, die sie im Tumult aus den Augen verloren hatten. Sobald sie jenseits der Mauer waren, verließen sie unbemerkt ihre Reisegruppe. Heikhe war ungehalten, sich nicht von ihren neuen Freunden verabschieden zu dürfen, folgte schließlich aber doch, ohne aufzubegehren.

Heute Abend würden die Festlichkeiten beginnen. Rhoderik überfiel das übermächtige Gefühl, den Fehler begangen zu haben, genau dort zu sein, wo der gesichts- wie namenlose Feind sie haben wollte. Täuschte er sich oder hatte sich tatsächlich ein Schatten an ihre Fersen geheftet? Wäre er vom Gegenteil überzeugt gewesen, hätte er auf der Stelle kehrtgemacht. So gab es nur die Flucht nach vorn. Den engen nassen Straßen folgend fragten sie sich zum Hafen durch.

Auf der Suche

Mittlerweile war der Greis mit einer angewachsenen Zuhörerschaft ins Ratshaus umgezogen. Durch die offenen Fenster drang das letzte Zwitschern der Vögel, es war der Ausklang eines milden Sommertages. Von den Kindern war nur noch Fried wach, dessen Eltern beide tot waren und um den sich deshalb häufig alle, zuweilen aber auch niemand sorgte. Kaila schlief, den Kopf im Schoß des Greises gebettet. Die anderen waren zu Bett geschickt worden, als die Geschichte zunehmend düsterer und beklemmender geworden war.

Eine der Frauen hatte dem Alten trotz der angenehmen Witterung eine Decke über den Rücken gebreitet und Lorenz, der Schreiner, stopfte ihm jedes Mal, wenn seine Stimme müde wurde, einen neuen Pfeifenkopf. Sinnierend Ringe in die Luft blasend machte er eine Pause, was Fried zu einer Zwischenfrage ermutigte.

»War sie schön?«

»Wer?«, fragte er zwischen zwei gelungenen Ringen.

»Heikhe, natürlich.« Einige der Erwachsenen schauten ihn belustigt an.

»Für ihr Alter … Ich würde sagen, ja. Aber trotz der roten Wangen und ihrer hellen Locken eher von einer kühlen, strengen Schönheit.«

Lorenz schielte auf seine Pfeife, ein gutes Stück, an dem schon sein Vater gern genuckelt hatte. »Woher«, fragte er, seine Worte wohl überlegend, um den Alten nicht zu beleidigen, »kennst du die Geschichte eigentlich?«

Er bekam die Pfeife zurückgereicht. »Vieles wurde mir berichtet. Einiges, muss ich gestehen, reimte ich mir erst später zusammen, einen Großteil aber habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen.« Alle außer Fried nahmen die Worte nicht für voll, interpretierten sie als zusätzliches Spannungsmoment, immerhin waren seitdem Generationen gekommen und gegangen.

»Weshalb hasste Berbast Kraeh und Sedain so sehr?«, meldete sich eine der Frauen zu Wort.

»Eine gute Frage«, gestand er ihr zu. Sanft hob er Kailas Kopf an und verlagerte ihn etwas, damit ihm nicht die Beine einschliefen.

»Es war kein wirklicher Hass, eher eine Mischung aus Verachtung und Neid. Ihr müsst verstehen, dass die beiden in ihren Umgangsformen untypisch für ihre Zeit waren. Sie lebten ohne Zwänge in einer Gesellschaft, die aus unendlich vielen Regeln und Gesetzen bestand. Er war auch nicht der Einzige, der daran Anstoß nahm.«

»Werden sie den Stein der Macht finden?«, warf Fried vorlaut ein, das lange Sitzen und Nichtstun hatten ihn unruhig werden lassen.

»Wart’s ab, der Ohm wird es uns schon erzählen«, blaffte die Frau den Jungen an.

Der Alte nickte ihr dankbar zu, beschwichtigte Fried, zu dem er eine gewisse Affinität verspürte, jedoch gleich darauf: »Alles sollte anders kommen, als es zunächst schien. Die Krähe war damals noch jung und ungeduldig und meinte, alles schon zu wissen, so wie du. Dinge waren ins Rollen geraten, deren Folgen nicht einmal die Weisesten vorauszusehen imstande waren. Die Welt stand wieder einmal am Rande eines Abgrundes, doch niemand ahnte die Gefahr … Hört und seht selbst.«

***

Der Eindruck, verfolgt zu werden, hatte sich zur Gewissheit entwickelt. Beinahe konnte Rhoderik die Schritte des gedungenen Mörders hören, der ihnen auf Schritt und Tritt folgte. Die Kinder vor sich herschiebend, hastete er durch das Hafenviertel. Sie erblickten die beiden auslaufbereiten Schiffe durch den immer noch anhaltenden Regen.

Berbast war, nachdem die Taue eingeholt waren, unter Deck des Schiffes am Nachbarsteg verschwunden, während Kraeh und Sedain noch an der Reling ihres Zweimasters standen und einem Matrosen zusahen, wie er gefährlich schwankend den letzten Sack Salz auf dem Rücken tragend über den schmalen Landungssteg balancierte.

Der alte Krieger erkannte ihre Chance. Sie rannten jetzt, nur noch wenige Manneslängen, dann würden sie den Steg erreichen. Auch hinter ihnen war das Trippeln ihres Verfolgers zu hart auf dem Pflasterstein aufschlagenden Schritten angestiegen. Die Kinder waren zu langsam, ein Dolch wurde aus einer Scheide gerissen. Da surrte ein Bolzen durch die Schlieren des Regengusses. Keiner der drei sah zurück, sie hörten nur den dumpfen Aufschlag des Mannes, der hinter ihnen von der Wucht des Geschosses zu Boden geschleudert wurde. Ohne ein anderes Ziel waren sie über den schmalen Steg und auf das Deck des Schiffes geeilt. Nach Luft ringend, die beiden Kinder an sich drückend, sah er zu den beiden ungleichen Männern auf. Der tätowierte Halbelf lächelte vergnügt, der andere schaute fragend, nickte dann aber schlicht. Er hatte eine schlohweiße Mähne …

Hinter ihnen herrschte reges Treiben an Deck. Die Segel wurden gesetzt und auf Kraehs Geheiß die Seile, die sie noch mit Brisak verbanden, eilig losgemacht. Peitschender Wind und das gleichmäßige Aufschlagen von Rudern setzte die Fraja in Fahrt – gefolgt von ihrem Schwesterschiff. An der Anlegestelle hatte sich mittlerweile eine Traube dunkel gekleideter Häscher versammelt, deren Augen ihnen finster nachblitzten.

Immer noch keuchend stellte Rhoderik sich und die Kinder vor. »Ein Glück, dass wir dich gefunden haben. Woher wusstet ihr, wann wir kommen?«

Kraeh sah fragend zu seinem Freund hinüber.

»Wussten wir nicht«, gab Kraeh zurück. »Die Kinder unsres Königs, sagst du? Gunther ist tot.«

»Bin ich nicht!«, begehrte der Junge auf.

»Ich hatte es befürchtet«, sagte Rhoderik, den Blick auf die kleiner werdende Stadt gerichtet. »Wieso habt ihr uns dann geholfen?«, wandte er sich an Sedain, in dessen Hand noch die Armbrust ruhte.

Er zuckte amüsiert die Schultern. »Wir wurden seit Tagen von diesen Kapuzenmännern beobachtet; als ich das Messer sah, habe ich geschossen – nicht mehr als ein glücklicher Zufall für euch.«

Kraehs Miene war ernst. »Ihr könnt uns nicht begleiten; wir fahren in den Norden. Wenn dir«, er sah dem alten Krieger direkt in die Augen, »an den Kindern liegt, verlasst ihr uns so schnell wie möglich. Dies ist der unsicherste Ort, an den du sie hättest bringen können.«

Nicht ganz, dachte Rhoderik und sah nach Brisak zurück. »Unter Deck!«, mischte sich Sedain geistesgegenwärtig ein, »bevor Berbast sie zu Gesicht bekommt.« Rhoderik verstand nicht, brachte die Kinder aber sofort nach unten. Kraeh informierte den Kapitän über die unerwarteten Passagiere, ließ ihre Familienzugehörigkeit dabei aber wohlweislich unerwähnt.

Heikhe stand vor einer unbesetzten Ruderluke, durch die der Wind ihr Gischt und Regen ins Gesicht blies. Ihren Bruder, der immer noch nicht verstanden hatte, hielt sie an der Hand. Schon oft hatte sie ihn zu den Trollen gewünscht, jetzt war sie froh über die Berührung des kleinen kalten Händchens. Eine einzige Träne rollte ihre Wange hinab.

Um Brisak herum war der Fluss begradigt gewesen, ein geschwind dahinfließender Strom, bald schon verästelte er sich jedoch und wurde gediegener. Acht Mann zu jeder Seite des Schiffes mühten sich, den gebrüllten Befehlen des Kapitäns zu gehorchen. Ein Fehler und sie könnten an Felsen stoßen oder in zu seichtes Gewässer geraten. Die Nebenarme des Rheins waren tückisch und sie wären nicht die Ersten, die sich gestrandet auf einer sumpfigen Insel wiederfänden. Doch der Kapitän verstand sein Handwerk. Der alte Haudegen, von dem Gerüchte kursierten, er sei früher unter Totenkopfflagge gesegelt, war Kraeh von Anfang an sympathisch gewesen. Ein gestutzter Kinnbart unterstrich die wettergegerbten Züge seines rauen Gesichts, während er auf dem unteren der beiden Ausgucke die Richtung angab. Der Krieger hatte selbst außergewöhnlich gute Augen, wunderte sich daher umso mehr, wie der Kapitän im matten und verhangenen Mondschein überhaupt etwas sehen konnte. Oft streiften sie weit in den Fluss ragende Äste, doch nie setzten sie auf Grund auf. Immer wieder verloren sie Berbasts Schiff aus der Sicht, um es kurz darauf in eine Richtung, die Kraeh für unbefahrbar gehalten hätte, abbiegen zu sehen.

Kraeh saß am Bug und genoss die bis zum Morgengrauen dauernde gespenstische Fahrt. Sedain döste neben den Kindern und Rhoderik in der für die Nacht angebotenen Kapitänskajüte. Die zwanzig Krieger, die Kraeh unterstanden, schliefen im Kielraum, während die restliche Mannschaft sich mit dem Rudern ablöste. Insgesamt fünfzig Seelen befanden sich auf dem Zweimaster, auf direktem Weg zur Hel, feixte Kraeh still für sich und wurde jäh von seinem Scherz eingeholt.

Im ersten Licht des neuen Tages schälten sich Gestalten aus der Uferböschung. Sie versuchten, sich im Schutz der auf den sumpfigen Untergrund eingestellten Weiden, Birken und Sträuchern zu bewegen, was die Statur ihrer Körper aber nur schwerlich zuließ. Orks, schoss es ihm durch den Kopf.

Ohne seine Entdeckung preiszugeben, schlenderte er, ein Gähnen vorschützend, unter den Hauptmast. In einem lauten Flüstern, das der Wind forttragen sollte, bat er Thorwik, den Kapitän, von seinem Posten. Dieser kam dem Gesuch nach. Schon seit einiger Zeit war der Fluss ruhiger geworden, die Matrosen hatten das Rudern eingestellt, allein vom Wind in den Segeln getragen glitten sie über das dunkle Wasser.

Mit einem Satz war er unten. »Sie folgen uns seit Mitternacht. Blutschilde, dreißig bis fünfzig Äxte, schätze ich. Aber sie sind sicher nur die Vorhut.«

Kraeh nickte. »Worauf warten sie?«

»Auf die Pappelkreuzung, dort wird der Fluss schmal«, sagte der Kapitän ruhig und fügte hinzu: »Bei gleich bleibender Geschwindigkeit müssten wir sie morgen Abend erreicht haben.«

Sedain war aus dem Schiffsbauch erschienen, warf einen kurzen Blick zum Ufer und trat dann neben sie. »Eine Rotte Wildschweine versteht sich besser aufs Anschleichen«, warf er trocken ein.

Kraeh ging nicht darauf ein, sondern fragte, ob es einen anderen Weg gebe.

»Aye«, bestätigte Thorwik, »aber der würde uns gefährlich nahe an die Drudenwälder führen. Und davor durch das Stammesgebiet von Gorka.«

Der Name des orkischen Häuptlings war wohlbekannt. Berichten zufolge hatte er seinen eigenen Vater erschlagen und galt als der mächtigste Kriegsherr unter den Stämmen.

»Wie verstehen sich Blutschilde und Gorkas?«, wollte Kraeh wissen.

Thorwik erzählte von den Fehden, die die Orks unter sich austrugen, und dem weitestgehend erfolgreichen Versuch Gorkas, die alten Feindschaften, meist mithilfe seiner Zweihandaxt, beizulegen. Die Blutschilde allerdings, unter der Führung Barks des Einarmigen, stellten sich immer noch gegen einen Großhäuptling. »Der Alte hat zwar nur noch einen Arm, dafür aber alle seine Sinne beisammen. Er vermeidet jedes Treffen mit Gorka, damit dieser keine Gelegenheit bekommt, ihn zum Zweikampf aufzufordern, den er nicht ablehnen könnte, ohne sein Gesicht und damit das Ansehen seiner Krieger einzubüßen.«

»Dann stellen wir ihn doch vor die Wahl«, entschied Kraeh.

Der Kapitän wirkte wenig erfreut, ging aber sofort zum Steuermann, um die neuen Instruktionen weiterzugeben.

»Behalte sie im Auge«, sagte Kraeh zu Sedain und verschwand unter Bord. Kurz darauf kam er mit Rhoderik, einen geborgten Langbogen haltend, zurück.

»Kannst du schreiben?«, fragte er den alten Krieger und kramte einen Fetzen Pergament und ein Stück Kohle aus der Tasche.

»Diktiere.«

Kraeh reichte ihm beides und formulierte die knappe Botschaft. Danach wickelten sie das Pergament um einen Pfeil und warteten. Als das Schwesternschiff in geeigneter Position zu ihnen stand und sie den General im Bärenfell am Heck erblickten, fragte Rhoderik: »Ist das der Kerl, dessentwegen die Kinder die Sonne nicht sehen dürfen?«

»Ganz recht.«

Rhoderik wies auf den Bogen. »Darf ich?«

Der Jüngere reichte ihn ihm und riet mit Blick auf die runzlige Haut am Unterarm des Schützen: »Irgendwo aufs Boot.«

Die Haut spannte sich wie die Sehne des Bogens. Nie hätte er dem Alten so viel Kraft zugetraut. Gleich würde das Holz splittern, dachte er, da kehrte sich die gespeicherte Kraft um und der Pfeil schoss durch die Luft.

Berbast aß einen Apfel und lehnte an einem Balken des Geländers, das in einem nach vorne offenen Quadrat die erhobene Hinterseite des Schiffes umkleidete. Die Pfeilspitze bohrte sich eine Haaresbreite neben seinem Unterarm in das Holz. Vor Schreck wäre er beinahe hintenübergekippt.

Als Kraeh sah, dass er schimpfen konnte, ihm also nichts geschehen war, winkte er provokativ, dann drehte er sich zu Rhoderik.

»Guter Schuss.«

»Leider daneben«, warf Sedain ein.

Der andere lächelte. »Das Alter … Vor zwanzig Jahren hätte ich ihn erwischt.«

Eine Perle Schweiß tropfte von seiner Stirn. »Ich schaue nach den Kindern.«

»Lass mich das tun«, schlug Kraeh vor, »ich brauche sowieso Schlaf.«

Froh über das Angebot, stütze er sich nachdenklich geworden an die eisenbewehrte Balustrade, während Kraeh im Bauch des Schiffes verschwand.

Die Ruder waren eingezogen. Kraeh durchschritt die Reihe der Schlafenden und trat in den anschließenden Raum. Dort fand er die Kinder vor, wie sie auf einer Speerschleuder, die erst im Notfall hochgeschafft werden sollte, umhertollten. Gemeinsam machten sie sich an der Spannvorrichtung zu schaffen, brachten aber nicht genug Kraft auf, die Wurfarme zurückzubiegen.

»Na, na«, sagte der Krieger, »dafür seid ihr noch etwas zu jung.«

»Pferdepisse!«, keifte ihn Heikhe mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht an. Er gestand ihnen zu, sich ein wenig weiter abzumühen, und richtete dabei ein Lager für die Nacht. Nebensächlich bemerkte er: »Ich dachte, ihr wollt vielleicht eine Geschichte hören über euren Vater … Aber wenn ihr Wichtigeres zu tun habt …« Er drehte den Kopf zur Wand.

»Ich will lieber die Geschichte hören«, fiel der Junge auf den Trick herein, auch weil seine Hände bereits schmerzten von der rauen Faser des Spannriemens, der sich einfach nicht vom Fleck rühren wollte.

»Gunther!«, mahnte seine Schwester säuerlich. Worauf er unsicher in der Mitte des Raums auf halbem Weg stehen blieb. Sie war ihm körperlich überlegen, was sie ihn auch, wann immer es ihr angemessen schien, spüren ließ.

»Kennst du ihn denn?«, fragte sie misstrauisch den seltsamen Mann mit den eisblauen Augen, die sie an die Kälte langer Winternächte erinnerte.

Seine Stimme war jedoch viel wärmer, als sein Äußeres vermuten ließ. »Kaum«, bekannte er, »aber ein Krieger ist zugleich auch immer ein Geschichtensammler. An vielen Feuern habe ich von den Taten eures Vaters gehört.«

Heikhe hatte von der Schleuder abgelassen und war neben ihren Bruder getreten.

»Er ist tot, oder?«, fragte sie unsicher.

»Er ist bei seinen Vorvätern in der großen Halle.«

Das kleine Mädchen bebte – erst vor Kummer, dann vor Wut. »Wenn ich seinen Mörder finde, bringe ich ihn um.« Dabei hatte sie den Dolch hervorgekramt, den sie zitternd vor sich hielt. Gunther stand reglos da.

Kraeh erhob sich und kniete vor ihr nieder. Der Mut der Kleinen rührte ihn. Er umschloss das Händchen, das sich an den Griff der Waffe klammerte, und sprach leise zu ihr. »Und ich werde dir dabei helfen, Heikhe Gunthertocht.« Ohne Gegenwehr senkte er die kleine Klinge.

»Doch jetzt«, sagte er an beide gewandt, »ist nicht die Zeit für Rache. Ihr müsst euch versteckt halten. Es wird der Tag kommen, da ihr mündig und stark sein werdet, bis dahin gilt es, am Leben zu bleiben.« Die Kinder fielen ihm in die Arme. Obwohl Kraeh ein derartiger Ausdruck von Vertrauen und Zuneigung fremd und beinahe unheimlich war, ließ er es geschehen und drückte sie, ihnen Schutz gewährend, noch fester an sich. Eine Geste, die er nie vergessen sollte.

Die Kinder lauschten seinen Geschichten, solange sie sich wach halten konnten, wie der junge Gunther, ein Mann der sich durch Gerechtigkeit und Härte auszeichnete, den ihm zugedachten Thron gewann und über die Jahre hinweg verteidigte.

Stunden später betrat Rhoderik den Raum und fand die drei innig umschlungen schlafend vor. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt, so ließ er die Hoffnung zu, hatte er seinen Teil erfüllt und den beiden konnte nichts mehr geschehen.

***

Tief unter der Stadt Brisak gab es ein Reich, das weder dem Gesetz des Fürsten Bran noch sonst einem menschlichen Gesetz verpflichtet war. Es war ein finsterer Ort, der die Sonne nicht kannte.

Die darüberliegenden Verliese stellten einen Platz der Muße dar, im Vergleich zu den Abscheulichkeiten darunter, deren Urheber in der Mitte einer achteckig angelegten Grotte stand, im Herzen der Erde. Das Wesen, das an der Oberfläche der Seher genannt wurde, war außer sich vor Wut. Seine Späher hatten ihm berichtet, wie die Kinder entkommen waren und nun an Kraehs Seite weilten – eine Koinzidenz, die seine Pläne unangenehm durcheinanderbrachte.

Zu jeder Seite des Raumes ging eine aus Gitterstäben bestehende Tür ab. Die Klageschreie dahinter waren verebbt und einer fatalistischen Apathie gewichen. Ein Umstand, der den Seher, nun in der roten Robe eines Zeremonienmeisters, zusätzlich erzürnte. Es roch nach Fäulnis und Tod. Von dem Überbringer der schlechten Nachricht und dem Kerkermeister waren nur noch verkrümmte Klumpen gemarterten Fleisches übrig. Nachdem anschaulich demonstriert worden war, wie Versagen vergolten wurde, hatte er all seine Diener bis auf drei fortgeschickt. Wenn sie geglaubt hatten, ihre verdammten Seelen kennten keine Furcht, sahen sie sich nun mit dem Gegenbeweis konfrontiert.

»Schafft die Erwählten heran!«, wurden sie barsch angewiesen.

Jetzt waren doch Laute des Jammers zu vernehmen. Grob zwangen die bleichen Diener sechs kahl geschorene Kinder aus ihren nach Unrat stinkenden Zellen. Ketten um wund gescheuerte Arm- und Beingelenke wurden abgenommen; sie waren ohnehin zu schwach, sich zu wehren, und in der Stimme des Rotgewandeten lag eine Macht, der sie nicht widerstehen konnten. Trotz der Grausamkeiten, die sie hatten mit ansehen müssen, traten sie wie befohlen in einen mit Blut gezogenen Kreis, in dessen Zentrum der Peiniger sie erwartete. Die Decke des Raumes war höher, als sie von ihren Zellen aus hatten sehen können. Dickflüssiges Blut tropfte aus der in Schwärze versinkenden Höhe herab und sprenkelte ihre dürren Leiber.

»Die Tiere!«, forderte der Seher laut. Sechs große Hunde und ein Käfig, in dem sich Greifvögel der gleichen Anzahl befanden, wurden herangeschafft. Zuletzt wurde eine hölzerne Kiste abgestellt und der Deckel geöffnet. Im Inneren kreuchte, krabbelte und schnappte es. Die Kinder zuckten zusammen, da ihre getrübten Blicke auf lange, behaarte Beine an Chitinkörpern fielen.

Der Seher umschritt den Kreis nach rechts, einen martialischen Gesang intonierend. Die Diener warfen ihre Kutten ab und entblößten damit von Dunkelheit und Feuchtigkeit aufgedunsene, bleiche Haut und verkümmerte Glieder. Die Nackten nahmen vor je einer Tiergattung Aufstellung. Emotionslos stimmten sie in die Beschwörungsformeln ihres Meisters ein.

Nachdem der Seher dreimal der Blutspur gefolgt war, hob er in entrücktem Tonfall an: »Ba’al, Herr der Welt. Dreiköpfiger Gott der Zwischensphäre, deine Macht rufe ich an!« Die Luft begann zu knistern. Vor den schwachen Augen der wartenden Opfer flimmerte es.

»Ba’al Sebub, bei Donner und Sturm, ich rufe dich an!«, schrie er seinen Hass in die Welt.

Er ging zu einem der Kinder, einem hageren Mädchen, und riss dessen Kopf zurück. Geübt legte er einen Krummdolch an die freigelegte Kehle.

Dann folgte Stille. Auch die Diener hatten in ihrem Gesang innegehalten und verharrten in demütigem Schweigen.

Plötzlich erklang ein Donner von solcher Lautstärke, dass die Wände der Grotte wackelten. Staub gesellte sich zu dem von der Decke rinnenden Blut.

»GIB SIE MIR!«, hallte es gierig in das Getöse.

Alle bis auf den Seher pressten schmerzerfüllt die Hände vor die Ohren. Triumphierend lachte dieser auf.

Was nun folgte, entbehrt der Erklärung durch Worte. Finsterste Magie verschmolz in Pein und Verzweiflung die elendigen Kreaturen. Begleitet von orgiastischen Schreien und Anrufungen wurden aus Pein geschaffene Geschöpfe in eine Welt geboren, die ihnen nichts als Schmerz versprach. Das Ergebnis war grotesk und schrecklich zugleich. Mischwesen, wie die schlimmsten Albträume sie nicht hervorzubringen imstande sind, machten Bekanntschaft mit ihren neuen Gliedern. Einer der Diener hatte die Gefahr nicht schnell genug erkannt; ein zangenbewehrtes Bein war ihm in die Seite gefahren. Voller Entsetzen sah er in die milchig weißen Augen des Untiers. Er wurde hoch in die Luft geschleudert, wobei seine herausgerissenen Gedärme den Flug begleiteten. Bevor er wieder auf dem Boden aufkam, wurde sein Körper von Fängen und Schneidewerkzeugen gänzlich in Stücke gerissen.

Die beiden anderen Gehilfen hatten in eine Ecke gekauert seinem Tod zugesehen. Als die Aufregung unter den Wechselbälgern abgeebbt war, schritt der Seher gebieterisch vor sie. Fauchend und geifernd neigten sie ihre verunstalteten Köpfe.

»Und jetzt, meine Kinder«, ging er sie an, »bringt mir die Herzen dieser beiden Gören!«

Schwingen spannten sich von verkrümmten Wirbelsäulen und schlugen Luft. Mit schrillem Krächzen flogen die sechs Bestien zur Kuppel der Höhle, folgten einem Tunnel, der ihnen den Weg hinaus in die Schwärze der Nacht wies.

***

Die Fraja glitt durch brackiges Wasser. Es war bereits dunkel geworden und sie befanden sich auf einem Seitenarm, der sie nach Nordwesten an den Rand des Reiches der Druden zwang, um den seichteren Gewässern, wo der Kapitän einen Hinterhalt vermutete, zu entgehen.

Der Tag war trotz der sie begleitenden Verfolger ruhig verlaufen. Sie hatten gefischt und genug Fang gemacht, um die Vorräte nicht anrühren zu müssen. Wenn es die Breite des Flusses zugelassen hatte, waren sie Seite an Seite mit Berbasts Schiff gesegelt, damit jener keinen Verdacht schöpfte.

Kraeh, Sedain, Thorwik und Rhoderik standen abseits der Grüppchen, die sich unter den Soldaten und Mannschaften gebildet hatten, gemeinsam auf dem Achterdeck und planten das weitere Vorgehen.

»Es kann so nicht weitergehen mit den Kindern«, bemerkte Kraeh.

»Wir brauchen eine Amme«, schlug Rhoderik vor.

Sedain schüttelte den Kopf. »Ihr macht euch darin doch ganz gut«, grummelte er und schenkte seinem Freund einen verächtlichen Blick. »Das Beste wäre, sie einfach in den Fluss zu werfen.«

Der Alte wollte aufbrausen und etwas erwidern, doch Kraeh winkte rechtzeitig ab. »Die Kinder bleiben bei uns«, sagte er bestimmt.

Der Halbelf betrachtete den Punkt nicht als erledigt und hub erneut an: »Welche Verantwortung knüpft ...«, wurde aber jäh von Thorwik unterbrochen. »Ein Sturm zieht auf!«

Alle sahen hinauf. Eine breite Wolkenbank hatte sich vor den Sternenhimmel gezogen und eine düstere Stimmung legte sich mit den Schatten über das Schiff. Innerhalb weniger Augenblicke war es stockfinster, woraufhin eilig Laternen angezündet wurden. Keinem war entgangen, dass die dichten Schwaden sich gegen den Wind bewegt hatten.

»Holt die Fock ein!«, rief der Kapitän.

Ein Donnergeheul erhob sich, wie es niemand zuvor je gehört hatte. Die Fraja verlangsamte ihre Fahrt und die Soldaten zogen ihre Schwerter. Auch auf dem Schwesternschiff hatte man Lichter entzündet. In erwartungsvoller Stille trieben sie in gedrosseltem Tempo voran.

Nach kurzer Zeit war der Spuk vorbei. Leichter Regen löste sich aus den Wolken und vertrieb die beklemmende Atmosphäre. Die Klingen verschwanden wieder in den Scheiden.

Der Kapitän machte ein Zeichen zur Abwehr gegen das Böse. »Drudenzauber«, argwöhnte er und spuckte aus.

»Seid wachsam«, mahnte Kraeh.

Die Segel wurden wieder gehisst. Ein konstanter, wassergeschwängerter Wind trieb sie voran. Die Fauna um sie herum hatte sich leicht geändert. Die Bäume waren älter, ihre ins Wasser ragenden Wurzeln größer und knorriger. Leicht wiegten ihre Äste hin und her und schienen sich Worte zuzuraunen. Ein dünner Streifen Wasserpest zog sich in dunklem Grün am Ufer entlang. Nach dem Donner war von den Orks nichts mehr zu sehen oder hören gewesen. Zumindest eine Gefahr hatten sie abgeschüttelt. Dennoch schlief kaum einer in dieser Nacht. Die Soldaten gaben sich lässig, doch Kraeh spürte ihre Anspannung. Sie kannten die beunruhigenden Geschichten über den Wald, den sie durchquerten.

Es war nach Mitternacht, die Luft kündigte einen kühlen Morgen an, als sie die Grenzsteine des Drudenvolkes passierten. Im Eigentlichen waren es keine Steine, sondern ehrwürdige Trauerweiden. Ging es darum, einen Verirrten vorzuwarnen, verfehlten sie ihr Ziel nicht. Die Männer auf den Schiffen betrachteten angsterfüllt ihre Früchte. Orks, Menschen und Rassen, von denen sie noch nie gehört hatten, hingen mit den Häuptern nach unten an ihren Kronen. Die kleinen, gefiederten Leiber von Raben und Krähen waren auszumachen. Gelegentlich hackte ein Schnabel nach einem Auge oder in eine halb verweste Wunde. Etliche Bäume waren auf diese Weise geschmückt. Die andere Seite des Seitenarms musste die Grenze zum Stammesgebiet der Gorka-Orks markieren. Immer wieder waren Pfähle auszumachen, auf denen Köpfe steckten.

Sedain trat neben Kraeh, in der Hand eine Schüssel Porridge, aus der er gelegentlich einen Löffel zum Mund führte. Eine seiner Armbrüste war gespannt. »Die meisten stammen von Frauen«, sagte er den Blick auf die linke, die orkische Seite gerichtet.

Kraeh atmete tief durch. Zwischen ihnen bestand Redebedarf, doch er wusste nicht, wo er beginnen sollte. Er war sich selbst nicht sicher, was sich geändert hatte. Umso erleichterter war er, als sein Freund ihm die Last abnahm.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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ISBN:
9783957770035
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