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Damit liefern Theorien der Sozialen Arbeit bewusst allgemein gehaltene Analysen der Sozialen Arbeit. Will man sie nutzen für konkrete Situationsanalysen in der eigenen Praxis, muss man sie gewissermaßen in Gebrauch nehmen, und dabei konkrete Ableitungen für die eigene Praxisreflexion mehr oder minder selbst vornehmen. Eine solche Eigentätigkeit beim Gebrauch von Theorien bietet dann zugleich die Möglichkeit, sich die Frage zu stellen, ob man die Annahmen der Theorie auf der allgemeinen Ebene überhaupt teilt und als nachvollziehbar empfindet.

Die Annahmen unterschiedlicher Theorien der Sozialen Arbeit zu ihrem Gegenstand ähneln sich teilweise. Sie unterscheiden sich jedoch teilweise auch deutlich voneinander. Denn – um dies noch einmal ins Gedächtnis zu rufen – Theorien der Sozialen Arbeit stehen zu ihrem zentralen Gegenstand, der Sozialen Arbeit, im Grunde in einem ähnlichen Verhältnis wie Studierende der Sozialen Arbeit.


Auf den ersten Blick liegt das Erkenntnisinteresse aller Theorien der Sozialen Arbeit, ähnlich wie bei Studierenden der Sozialen Arbeit, auf ein und demselben – nämlich Sozialer Arbeit. Erst ein differenzierterer Blick lässt deutlich werden, dass dieses Interesse jenseits des gemeinsam genutzten Begriffs auf etwas sehr Unterschiedliches zielen kann. Für einen Nachvollzug von Studierendeninteressen im Studium ist es somit nicht allein entscheidend, dass alle Studierenden denselben Begriff der Sozialen Arbeit benutzen, wenn sie ihr übergreifendes Interesse betiteln. Es kommt vielmehr darauf an nachzuvollziehen, welche konkreten Vorstellungen sich bei unterschiedlichen Studierenden jeweils mit der Nutzung des Begriffs „Soziale Arbeit“ verbinden, und wofür der Begriff somit in ihren Augen jeweils steht. Ähnliches gilt, wenn man ein genaueres Verständnis von Theorien der Sozialen Arbeit erlangen möchte. Auch hier kommt es zunächst auf eine Rekonstruktion des jeweiligen Verständnisses von Sozialer Arbeit an, welches sich in einzelnen Theorien der Sozialen Arbeit findet. Dass sie dabei alle denselben Begriff der Sozialen Arbeit nutzen, ist erst im zweiten Schritt entscheidend, nämlich dann, wenn man vergleichen möchte, wo sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Theorien erkennen lassen, um hierüber das Gesamtbild der Diskussion um Theorien der Sozialen Arbeit besser zu verstehen.

Ein solches Vorgehen ist unseres Erachtens gewinnbringend, da sich Theorien der Sozialen Arbeit noch in einem weiteren Punkt nicht sonderlich von Studierenden der Sozialen Arbeit unterscheiden: So wie jede/r Studierende von Beginn des Studiums an bestimmte Vorannahmen, Ideale, besondere Aufmerksamkeiten und Sozialisationserfahrungen mitbringt und kein „unbeschriebenes Blatt“ ist, was die eigenen Wahrnehmungen angeht, startet auch keine Theorie in ihren Annahmen über Soziale Arbeit bei null. Auch hier wird auf je besonderen Vorannahmen und Idealen aufgebaut, es werden jeweils besondere Aufmerksamkeitsschwerpunkte gesetzt und damit spezifische Perspektiven auf Soziale Arbeit entwickelt.

Theorien der Sozialen Arbeit sind so gesehen alle ähnlich, aber eben auch alle sehr verschieden. Welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede einem in ihrer Beobachtung auffallen, liegt vor allem auch daran, auf welche Weise man sich ein Bild von ihnen macht. Und d.h. genauer: Es kommt darauf an, welche Theorie man in Gebrauch nimmt oder entwirft, um sich ein Bild von Theorien der Sozialen Arbeit zu machen. Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir in eine kurze Gedankenschleife zum theoretischen Blick, den das vorliegende Buch entwirft, einsteigen wollen.

Wir möchten m.a.W. die Gelegenheit nutzen, unseren eigenen Blick auf Theorien der Sozialen Arbeit noch einmal etwas systematischer auszuweisen. Die Begründung dafür lautet, dass die LeserInnen dieser Einführung nicht nur implizit – durch den Gang unserer Argumentation – sondern auch explizit – durch eine Reflexion unserer Argumentation – darauf aufmerksam gemacht werden sollen, welcher Perspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit sie sich anvertrauen, wenn sie dieses Buch lesen. Das scheint uns für das weitere Verständnis des vorliegenden Buches hilfreich zu sein, soll die LeserInnen aber zugleich auch offen dazu anregen, die in diesem Buch aufgemachte Perspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit als nicht einfach selbstverständlich zu begreifen, sondern kritisch zu hinterfragen.

Damit übertragen wir das, was wir bisher allgemein zum Wechselverhältnis von Theorien und ihren Gegenständen dargestellt haben, auf den Gegenstand des vorliegenden Buches – Theorien der Sozialen Arbeit. Und hier wird etwas deutlich, was auf den ersten Blick verwirrend, auf den zweiten aber nachvollziehbar ist. Es wird deutlich, dass man Theorie benötigt, um sich mit Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigen zu können. Denn auf welche Weise man Theorien der Sozialen Arbeit rekonstruiert, entscheidet sich im Wechselspiel zwischen dem Material (hier also den Theorie-Texten, die in die Übersicht einbezogen werden) und der Art und Weise, wie man dieses Material in der Übersicht zugänglich macht.

Im vorliegenden Buch stellt sich dieses Wechselspiel her, indem wir die oben angestellten Überlegungen auf unsere eigene Perspektive hin reflektieren. Damit schließen wir an das breite Programm einer sog. „reflexiven Sozialwissenschaft“ an, das inzwischen in den meisten Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften etabliert ist.


Reflexive Sozialwissenschaft kann als ein Label für im Einzelnen unterschiedlich vorgehende wissenschaftliche Ansätze gesehen werden (Langenohl 2009), deren Gemeinsamkeiten jedoch darin liegen, wie sie ihre eigene Wissenschaftlichkeit gegenüber ihrem Publikum legitimieren. Als bedeutende Wegbereiter reflexiver Sozialwissenschaft kann zum einen der französische Soziologe Pierre Bourdieu gesehen werden (Schultheis 2007), zum anderen sind hier auch WissenschaftsforscherInnen wie z. B. Steve Woolgar (1988) zu nennen. Das Wort „reflexiv“ verweist dabei auf ein zusätzlich gesteigertes Maß an Reflexion, was das Zustandekommen der eigenen Beobachtung und Argumentation als „wissenschaftlich“ angeht. Dies drückt sich z. B. dadurch aus, dass diese Ansätze oftmals Reflexionsschleifen einbauen zu dem, was gerade im Akt des wissenschaftlichen Beobachtens und Aufschreibens passiert, und wie damit einerseits der Blick derjenigen LeserInnen geleitet wird, welche die wissenschaftliche Studie am Ende rezipieren, und wie sich damit andererseits das verändert, was wissenschaftlich beobachtet wird. Anhand des letztgenannten Punktes wird deutlich, dass Ansätze reflexiver Sozialwissenschaft zu guten Teilen auf Erkenntnissen des Konstruktivismus aufbauen.

Konstruktivistische Perspektiven rücken die „Gemachtheit“ von Beobachtungen in den Mittelpunkt. Das heißt, dass mit ihnen davon ausgegangen wird, dass Tatsachen nicht einfach da sind und dann besser oder schlechter, vollständiger oder weniger vollständig beobachtet werden können, sondern dass sich Tatsachen erst im Zuge ihrer Beobachtung konstituieren. Diese Annahme bezieht der Konstruktivismus ausdrücklich auch auf solche Beobachtungen, die als wissenschaftliche Beobachtungen gelten. Wie stark einzelne Ansätze reflexiver Sozialwissenschaft sich zugleich explizit als konstruktivistisch verstehen, variiert allerdings. Das hängt damit zusammen, dass einige dieser Ansätze nach wie vor von einem objektiven Kern derjenigen Dinge, die beobachtet werden, ausgehen, während andere Ansätze auch diesen Kern als gänzlich „durch Beobachtung hergestellt“ betrachten, und zwar zumindest im Sinne einer Mehrdimensionalität des „Kerns der Dinge“, welcher dann je nach Beobachtungsperspektive unterschiedlich aussieht. Die gesamte Auseinandersetzung um diese Fragen von „Existenz“ vs. „Gemachtheit“ von wissenschaftlich beobachteten Sachverhalten bezeichnet die Philosophie als „Universalienstreit“.

Darüber hinaus gehen wir in diesem Buch von folgenden, schon in Kap. 1.1 und Kap. 1.2 skizzierten Vorannahmen aus, um eine Überblicksperspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit erarbeiten zu können:

1. Nicht jede Theorie, der man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, ist eine Theorie der Sozialen Arbeit. Theorien der Sozialen Arbeit zielen im Gegensatz zu anderen Theorien wesentlich auf die Darstellung von etwas Allgemeinverbindlichem der Sozialen Arbeit.

2. In ihren jeweiligen Antworten auf die Frage, was Soziale Arbeit ist, kommen unterschiedliche Theorien der Sozialen Arbeit zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Das gilt auch für die Vorstellung von Praxis der Sozialen Arbeit, denn Theorie- und Praxisvorstellungen zur Sozialen Arbeit stellen sich in einer Theorie der Sozialen Arbeit wechselseitig her. Das heißt, jede Theorie entwickelt zugleich ihre jeweils eigene Vorstellung von Praxis der Sozialen Arbeit.

3. Eine Übersicht zu Theorien der Sozialen Arbeit, die sich an den Ergebnissen der einzelnen Theorien orientiert, bleibt darauf begrenzt, die Unterschiedlichkeit dieser Ergebnisse zusammenfassend zu reproduzieren. Damit kann eine solche Übersicht Informationsverdichtung, aber noch keine systematische Wissensproduktion leisten.

4. Eine zusätzliche Möglichkeit der im engeren Sinn vergleichenden Wissensproduktion besteht, wenn man die Arten und Weisen genauer in den Blick nimmt, wie unterschiedliche Theorien der Sozialen Arbeit zu Antworten auf die Frage danach gelangen, was Soziale Arbeit ist. Ein solcher Ansatz erlaubt es, allen Theorien der Sozialen Arbeit dieselben Fragen zu stellen und damit hinreichend fokussiert Wissen zu Theorien der Sozialen Arbeit aufzubereiten.

Aus den oben benannten Punkten ergibt sich bereits eine Argumentationslinie für den weiteren Aufbau dieses Buches. Man kann daran auch noch einmal erkennen, inwiefern wir im Folgenden nicht „völlig objektiv“ vorgehen. Zugleich ist unser Vorgehen aber eben auch nicht „völlig willkürlich“ oder zufällig. Stattdessen ist es theoriegeleitet – bzw. genauer: reflexiv-theoriegeleitet – und damit zugleich notwendigerweise von Vorannahmen, man könnte sogar sagen: von „Vor-Urteilen“ geprägt (Gadamer 1990). Diese Vor-Urteile ermöglichen es, eine Perspektive zu entwerfen, die im Ergebnis der Einführung zu Wissen über Theorien der Sozialen Arbeit führt, also ein systematischeres Verständnis von Theorien der Sozialen Arbeit ermöglicht.

Kommen wir damit zu den konkret folgenden Argumentationsschritten dieses Einführungsbandes. Den ersten oben aufgelisteten Punkt („Nicht jede Theorie, der man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, ist eine Theorie der Sozialen Arbeit“) haben wir bereits mehrfach verdeutlicht, indem wir im Einklang mit Füssenhäuser und Thiersch (2015) sowie Hammerschmidt et al. (2017) das Erkenntnisinteresse von „Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn“ vom Erkenntnisinteresse anderer Theorien, denen man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, unterschieden haben. Wir wollen diese Unterscheidung jedoch nicht allein qua Definition treffen, sondern glauben, dass es gute Gründe gibt, mit denen man sie auch historisch rechtfertigen kann. In Kap. 2 wollen wir genau das tun, indem wir die Vorgeschichte der Auseinandersetzung um Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn skizzieren.

Danach wird es darum gehen, ebendiese Theorien der Sozialen Arbeit anhand der weiteren, oben aufgelisteten Punkte besser verständlich zu machen. So werden wir einen Überblick zu Theorien der Sozialen Arbeit erstellen, der die verschiedenen Theorien anhand ausgewählter Fragen auf deren Unterschiede, aber auch auf deren Gemeinsamkeiten als Theorien der Sozialen Arbeit begreifbar macht.

Unser geplantes Vorgehen drückt sich bereits in der Grundstruktur des weiteren Buches aus: In Kap. 3 findet sich ein Panorama verschiedener, regelmäßig als relevant markierter Theorien der Sozialen Arbeit. Durch die Gegenüberstellung dieser Theorien anhand von drei ausgesuchten Fragen, die wir jeder der präsentierten Theorien stellen, können zunächst einige Diversitäten vorhandener Theorien der Sozialen Arbeit verdeutlicht werden. Gleichzeitig erlaubt uns die Konzentration auf diese drei immer gleichen Fragen, die Theorien insbesondere auf die oben angesprochene Frage danach, wie sie Soziale Arbeit theoretisieren, zu vergleichen. In Kap. 4 werden wir das in einer systematischeren Art und Weise tun, um zunächst relevante Unterschiede verschiedener Theorien der Sozialen Arbeit zusammenzufassen, was die durch sie in den Mittelpunkt gerückten Erkenntnisinteressen, Gegenstandsauffassungen und Praxisverständnisse anbelangt.Wir möchten aber auch auf weitreichende Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Theorien der Sozialen Arbeit hinweisen. Dies werden wir in Kap. 5 tun, bevor es abschließend in Kap. 6 um eine skizzenhafte Darstellung aktueller Brüche mit den herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten von Theorien der Sozialen Arbeit gehen wird, verbunden mit einem Ausblick auf die von uns vermutete Zukunft dieser sog. Großtheorien.


1. Wodurch unterscheidet sich der Anspruch „reflexiver Sozialwissenschaft“ von anderen Arten des wissenschaftlichen Erkennens?

2. Inwiefern nutzt das vorliegende Buch selbst Theorie, und inwieweit ist die Nutzung von Theorie(n) notwendig, um einen Überblick zu Theorien der Sozialen Arbeit entwerfen zu können?

2 Historische Stationen auf dem Weg zu Theorien der Sozialen Arbeit


Warum nicht jede Theorie, der man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, eine Theorie der Sozialen Arbeit im engeren Sinne ist, haben wir in Kap. 1 ausführlich erläutert. Diese Unterscheidung lässt sich allerdings nicht nur systematisch, sondern auch historisch begründen. In Kap. 2 wollen wir dementsprechend verdeutlichen, wie sich das, was wir unter Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinne verstehen, geschichtlich entwickelt hat. Dazu werden wir auf die historischen Voraussetzungen eingehen, die erst dazu geführt haben, dass bestimmte Ideen den Status des Theoretischen in einem darauf spezialisierten Diskussionszusammenhang erlangt haben. Im Zentrum steht also nicht, das wollen wir hier ausdrücklich unterstreichen, die Geschichte sozialpädagogischen oder sozialarbeiterischen Denkens generell, sondern es geht uns hier lediglich um eine Darstellung entscheidender historischer Stationen, über die hinweg sich Theorien der Sozialen Arbeit als ein eigenständiger Diskussionszusammenhang entfaltet haben.

Ähnlich wie das für die Sozialgeschichte einzelner Berufs- und Praxisfelder Sozialer Arbeit immer wieder getan wird (z.B. Kuhlmann 2013; Hering/Münchmeier 2014), kann man auch im Kontext der Theoriegeschichte Sozialer Arbeit auf vorauslaufende Denkentwicklungen verweisen (Dollinger 2008). Diese Denkentwicklungen können auch heute noch als relevant für Theoriebildungsprozesse Sozialer Arbeit und ihre disziplinäre Selbstvergewisserung angesehen werden. In diesem Sinne werden ihre Urheber auch oftmals als „Klassiker“ (Niemeyer 2010) bzw. „KlassikerInnen“ (Thole et al. 1998) der Disziplingeschichte verstanden.


Als Klassikerin oder Klassiker gilt gemeinhin eine Person dann, wenn sie „Ideen hinterließ, denen der Rang des Zeitlosen zukommt" (Niemeyer 2010, 16).

Die historische Beschäftigung mit dem theoretischen Denken und Nachdenken über das, was heute in der Regel als „Sozialpädagogik“ bzw. „Soziale Arbeit“ bezeichnet wird, reicht daher weiter in die Vergangenheit zurück, als dies eine enger anzulegende Perspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit tut.

Viele „KlassikerInnen“ der Sozialpädagogik und/oder Sozialen Arbeit (wie etwa Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Hinrich Wichern oder Jean-Jacques Rousseau) verwendeten weder die Begriffe Soziale Arbeit, Sozialpädagogik oder Sozialarbeit, noch konnten sie diese kennen. Sie sind aber dennoch im Nachgang zu bedeutenden Figuren der Theoriegeschichte Sozialer Arbeit erklärt worden. Voraussetzung dafür ist vor allem der Umstand, dass heute ein Diskursraum zu Theorien der Sozialen Arbeit existiert, in den die Ideen der KlassikerInnen als aus heutiger Perspektive relevant einsortiert werden können.

Vereinfachend könnte man also sagen: Es sind nicht die „TheoretikerInnen“ und ihre Ideen selber, die etwas zu einer Theorie machen, sondern der heutige Diskurs um Theorien der Sozialen Arbeit. Genauer gesagt wird eine Theoriegeschichte nicht allein durch Personen und ihre Werke möglich, sondern erst im Wechselspiel zwischen Werken und deren Kontextbedingungen. Erkennbar wird daran zugleich, dass Geschichtsschreibung nicht lediglich Geschichte überliefert, konserviert oder einfach nur beschreibt, sondern vielmehr selbst Geschichte macht. Das Wort „Geschichtsschreibung“ ist somit durchaus wörtlich zu verstehen. Sie ist gewissermaßen immer schon ein konstitutiver Teil von dem, worauf sie sich bezieht (Neumann 2010). Dies gilt nicht nur für eine Theoriegeschichtsschreibung Sozialer Arbeit, die in Gestalt einer Art Ahnengalerie von KlassikerInnen organisiert ist (Gredig/Wilhelm 2000), es gilt für Geschichtsschreibung insgesamt, und damit auch für jede Form von Theoriegeschichtsschreibung zur Sozialen Arbeit.

Nimmt man diesen Gedanken ernst, so scheint es auch wenig ertragreich, die diversen historischen Auslegungen der ohnehin in gewissem zeitlichen Abstand entstandenen Begriffe Sozialpädagogik, Sozialarbeit oder Soziale Arbeit (Merten 1998) zum Bezugspunkt einer großen Erzählung von den Anfängen der Theoriegeschichte zu machen. Denn Theoriegeschichte ist etwas Anderes als Begriffsgeschichte.


Von Begriffsgeschichte zu sprechen bedeutet, die unterschiedlichen Auslegungen, die ein Wort (also bspw. das Wort „Soziale Arbeit" und verwandte Termini wie etwa „Sozialpädagogik“ und „Sozialarbeit“) im Laufe der Zeit hinsichtlich des eigenen Bedeutungsgehaltes erfahren haben, in den Vordergrund einer historischen Betrachtung zu rücken.

Ob der Ausdruck „Sozialpädagogik“ nun von Karl Mager oder Adolph Diesterweg, bzw. derjenige der „Sozialen Arbeit“ von Lorenz von Stein oder Alice Salomon „erfunden“ wurde, mag somit begriffsgeschichtlich interessant sein, ist aber für ein theoriegeschichtliches Erkenntnisinteresse kaum von Belang.

Denn bei genauerer Betrachtung handelt sich bei erstmaligen Begriffsnutzungen gar nicht um Erfindungen im engeren Sinne. Die genannten AutorInnen mögen vielleicht die Worte „Sozialpädagogik“ und „Soziale Arbeit“ erstmals breitenwirksamer genutzt und damit evtl. auch prominenter gemacht haben. In diesem Sinne haben sie sie auch mit Bedeutung angereichert und/oder einer genaueren begrifflichen Bestimmung unterzogen. Aber sie hätten diese Begriffe nicht verwenden können, wenn sie in jener Zeit nicht bereits in ihrem Sinn erschließbar, also mindestens in ihren Teilbegriffen geläufig gewesen wären.

Andersherum betrachtet sind Begriffe noch keine Theorien. Dafür gibt es systematische Gründe. Begriffliche Bestimmungen sind zwar ein konstitutiver Teil von Theoriebildung. Auch ist der Theoriebegriff selbst immer schon Gegenstand verschiedener gedanklicher Bestimmungen gewesen. Jedoch ist nicht jede Bestimmung eines Begriffs schon gleichbedeutend mit der Entwicklung einer Theorie. Das hat damit zu tun, dass Theorien nicht allein durch die Bestimmung von Begriffen zustande kommen, sondern eine Theorie gerade einen Zusammenhang zwischen mehreren verschiedenen Begriffen und den durch sie bezeichneten Phänomenen herstellt (Merton 1968). Ob eine Theorie der Sozialen Arbeit als Theorie der Sozialen Arbeit gilt, hat also mit den Kontextbedingungen zu tun, die dazu beitragen, dass eine Theorie der Sozialen Arbeit als solche rezipiert wird – oder eben nicht. Ob ein Gedankenkomplex als eine Theorie der Sozialen Arbeit gilt, ist damit an Voraussetzungen geknüpft, die nicht allein in der Qualität einzelner Ideen oder begrifflicher Auslegungen zu suchen sind.

Wir werden im vorliegenden Kapitel dementsprechend diese Kontextbedingungen, und nicht einzelne Gedankenkomplexe, in den Mittelpunkt rücken, und zwar im Unterschied zu Kap. 1 in einer historischen, genauer: diskurshistorischen Perspektive. Das schrittweise Entstehen dieser Kontextbedingungen begreifen wir als das, was wir im Titel des Kapitels als „historische Stationen auf dem Weg zu Theorien Sozialer Arbeit“ bezeichnet haben.

Eine allzu umfassende Darstellung dieses schrittweisen, über verschiedene Stationen stattfindenden Prozesses können wir im Laufe dieses Kapitels nicht leisten. Stattdessen werden wir auf nur eines von mehreren denkbaren Beispielen zurückgreifen, und zwar auf das Beispiel der schrittweisen Entfaltung eines erst mit der Zeit immer umfassender theoretisierten (d.h. eben nicht nur begrifflich, sondern auch gedanklich verstetigten) Diskussionszusammenhangs zum Gedanken der „Sozialpädagogik“.

Wir wählen dieses Beispiel aus drei Gründen. Erstens ist der Sozialpädagogikdiskurs älter als diejenigen, aus heutiger Sicht mit ihm verwandten diskursiven Auseinandersetzungen um „Sozialarbeit“ oder „Soziale Arbeit“. Zweitens ist der Sozialpädagogikdiskurs derjenige, der noch vor den anderen beiden Auseinandersetzungen wissenschaftliche Züge annahm, und drittens ist seine historische Entwicklung als unmittelbare Folge dessen auch wesentlich besser dokumentiert.

Die Entstehung eines deutschsprachigen Diskussionszusammenhangs um den Begriff „Sozialpädagogik“ beginnt in einer Phase, die man heute rückblickend mit dem Entstehen der modernen Industriegesellschaft in Deutschland und dem Aufkommen unterschiedlicher Thematisierungsformen des „Socialen“ identifizieren kann (Reyer 2002, 13 ff.; Mollenhauer 1959). Sein erstes historisch nachweisbares Auftreten Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bei Karl Mager (1810–1858) und Adolph Diesterweg (1790–1866) fällt somit in eine Epoche, in der die moderne Gesellschaft ein Bewusstsein für die Bedeutung ihrer eigenen gesellschaftlichen Ordnung entwickelte. Sozialpädagogik lässt sich dabei verstehen als eine pädagogische

„Antwort des liberalen, sozial interessierten wissenschaftlichen Establishments auf die Beunruhigungen, die der offensichtliche erzieherische Funktionsverlust der alten sozialen Verbände, insbesondere der Familie, im Zeichen tiefgehender gesellschaftlicher Umbrüche im Bürgertum (des 19. Jahrhunderts) hervorruft“ (Konrad 1998, 43).

Das sog. „Sociale“ wurde also nicht nur zu einem Thema innerhalb derjenigen Kreise, die pädagogisch die Herausforderungen ihrer Zeit reflektierten. Es wurde zugleich auch unter bestimmten Gesichtspunkten problematisiert. Diese Problematisierung hatte mehrere Implikationen.

Erstens wurde das Soziale als Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als zunehmend konflikthaft aufgefasst. In diesem Zusammenhang entstand die Rede von der weit über sozialpädagogische Kreise hinaus diskutierten „Sozialen Frage“.


Als Soziale Frage wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert die massenhafte Freisetzung, Landflucht und Verarmung von ehemals in der Landwirtschaft arbeitenden, und dort zudem oftmals in hoher Abhängigkeit lebenden Menschen verstanden. Diese Freisetzung und Massenverarmung wurde zunehmend als weder „gottgewollte Armut“ (Mittelalter) noch „individuell zu verantwortende Armut“ (frühneuzeitliche Aufklärung) verstanden, sondern als eine durch sozialen Wandel verursachte Massenarmut und -delinquenz, der man deswegen auch gesellschaftlich zu begegnen habe.

Zweitens stand das Soziale im positiven Sinne für so etwas wie die Utopie einer besseren Gesellschaft, von der aus dann die Gegenwart wiederum als veränderungsbedürftig erschien. Damit rückte schließlich – drittens – das Soziale als Gestaltungsaufgabe in den Blickpunkt. Dies wiederum schloss die pädagogische Aufforderung ein, kompensatorische Maßnahmen zu entwickeln, mit denen auf die als problematisch erachteten Lebens- und Entwicklungsbedingungen der nachwachsenden Generation reagiert werden sollte.

Wenn auch in dieser Problematisierung bereits bestimmte theoretische Vorstellungen über „das Soziale“ mitschwingen, so war der Diskurs um den Begriff Sozialpädagogik doch nicht einfach das, was man heute als Theorie der Sozialpädagogik im Sinne einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit bestimmten Formen einer gesellschaftlich institutionalisierten (Berufs-)Praxis bezeichnen würde. Allenfalls könnte man von einer pädagogischen Theorie des Sozialen sprechen. Das Soziale wurde dabei immer schon als epochales, pädagogisch zu bearbeitendes Problem sowie als Voraussetzung gelingender Erziehung thematisiert (Schröer 1999). Sozialpädagogik umfasste also einen Anspruch auf Personenveränderung, die schließlich in einer am Individuum ansetzenden Gesellschaftsveränderung münden sollte.

Was seinerzeit die pädagogischen Debatten unter dem Label „Sozialpädagogik“ erneuerte, war damit nicht die Problematisierung des Sozialen als solches, sondern diskutiert wurde die Ambition, soziale Probleme mit erzieherischen Mitteln zu bearbeiten (Dollinger 2004, 126).

Die Sozialpädagogik betonte in diesem Sinne die „soziale Seite der Erziehung“ sowohl unter Aspekten der Begründung von Erziehungszielen als auch unter dem Gesichtspunkt ihrer methodischen Gestaltung. Der Begriff Sozialpädagogik stand für reformorientierte Absichten, die sich gegen eine als überkommen wahrgenommene Individualpädagogik wendeten. Das heißt, es ging in den Debatten um Sozialpädagogik um die Kritik einer Pädagogik, die ihrerseits das Ziel der Bildung des Menschen nur vom einzelnen Individuum aus dachte und Bildung nicht im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Bedeutung und Einbettung reflektierte. Dementsprechend meinte „Sozialpädagogik“ eine bestimmte Thematisierungsform des Sozialen, in der weniger ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm als ein sozialethisches Gestaltungsprinzip zum Ausdruck kam.

Im Mittelpunkt stand die Aufgabe, die sozialen Probleme der Zeit mit Fragen der Gestaltung einer auf die Sozialität des Menschen gerichteten Erziehung zu verknüpfen. Die Schlüsselfrage lautete dabei in etwa: Wie kann einerseits eine Gesellschaft entstehen und gefasst werden, die die Chancen auf individuelle Freiheit wahrt und gewährt, und wie können andererseits Individuen hervorgebracht werden, die eine solche Gesellschaft am Leben erhalten? Das, wie Jürgen Reyer es nennt, „sozialpädagogische Problem der Moderne“ (Reyer 2002, 4) bestand also darin, eine Antwort auf die Frage zu finden,

„wie eine Erziehung möglich ist, die einerseits das nicht mehr hintergehbare freie und prinzipiell nicht festgelegte Individuum zur Voraussetzung hat, die aber andererseits von den Geltungsansprüchen der überindividuellen Sozialformen nicht absehen kann“ (Reyer 2002, 7).

Angesichts der Breite und Offenheit dieser anfänglichen sozialpädagogischen Problemstellung wird offenkundig, dass der sich zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts um den Begriff „Sozialpädagogik“ rankende Diskurs keineswegs auf einen abgrenzbaren Gegenstandsbereich bezogen war, wie wir ihn heute etwa in Gestalt der Kinder- und Jugendhilfe vor Augen haben. Mehr noch: Der Sozialpädagogikbegriff bezog sich überhaupt nicht auf ein bestimmtes, noch dazu außerschulisches Praxisfeld. Sozialpädagogik war stattdessen zunächst einmal und vor allem eine praktische Sozialphilosophie. Dabei war sie jedoch weder an eine bestimmte akademische Disziplin (Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Nationalökonomie etc.) gebunden, noch auf akademische Debatten allein beschränkt. Vielmehr stellte der Begriff auch außerhalb akademischer Zirkel eine Leitformel dar, mit der vor allem eine Reform des Unterrichtswesens vorangetrieben werden sollte. Im sozialpädagogischen Diskurs der damaligen Zeit kamen also gleichsam Schul- und Gesellschaftskritik zusammen. Dabei stand der Ausdruck „Sozialpädagogik“ bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts hinein für einen „offenen Diskursbegriff“ (Henseler 2000, 205). Offen war der Begriff in dem Sinne, dass er Bezüge zu ganz unterschiedlichen Arenen aufwies und auch in ganz verschiedenen Kontexten gebraucht wurde, und zwar diesseits und jenseits akademischer und im engeren Sinne pädagogischer Zusammenhänge. Entsprechend waren sozialpädagogische Fragestellungen

„Bestandteil fast aller – sich erst um die Jahrhundertwende ausdifferenzierenden – Disziplinen. Medizin, Theologie, Biologie, Rechtswissenschaften, Politik, Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften, Psychologie, Ökonomie und Pädagogik verhandelten sozialpädagogische Themen und arbeiteten mit, das zu beschreiben und zu bewältigen, was Thema dieser Epoche war: der soziokulturelle Durchbruch der Moderne“ (Böhnisch et al. 1997, 11).

Diese Situation änderte sich erst, als sich der Gedankenkomplex der Sozialpädagogik zunehmend innerhalb einer sich selbst als wissenschaftlich begreifenden pädagogischen Disziplin zu verankern begann, und zwar konkret als deren „Teildisziplin“.

Die damit einhergehenden Verschiebungen im Begriffsgebrauch und im Begriffsverständnis, die letztlich auch die Grundlage für das bilden, was wir im Rahmen dieses Bandes als Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinne bezeichnen, lassen sich gut illustrieren anhand einer in der Geschichtsschreibung zur Theorie der Sozialpädagogik häufig bemühten Gegenüberstellung der Verwendungen des Sozialpädagogikbegriffs bei Paul Natorp einerseits und Gertrud Bäumer, Erich Weniger und Herman Nohl anderseits.

Paul Natorp (1854–1924) kann als derjenige gelten, der im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert den bereits zuvor von Karl Mager 1844 verwendeten Sozialpädagogikbegriff erstmals im Horizont einer umfassenderen Theorie systematisch expliziert hat. Natorp war von Hause aus jedoch eher Philosoph als Pädagoge und entwickelte eine an Platon (428–348), Immanuel Kant (1724–1804) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) orientierte Sozialphilosophie der Erziehung. Er war Schüler des Marburger Philosophen Hermann Cohen und vertrat dabei die seinerzeit einflussreiche logisch-erkenntnistheoretische Richtung des Neukantianismus.

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