Читать книгу: «Stille Pfade», страница 2

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3

Die Worte Josefs gingen Isolde noch immer durch den Kopf, als sie vor die Tür ihrer heruntergekommenen Unterkunft trat. Natürlich meinte er es nur gut, doch hatte er keine Ahnung von ihren Problemen und das machte sie wütend. Er hatte weder eine verkrüppelte Hand, noch ein Kind. Und eine Frau war er auch nicht. Josef arbeitete in einer der Fabriken und verdiente genug, um sein Bett, seine Tagesmahlzeit und seinen täglichen Krug Bier zu bezahlen. In ihrem Wohnviertel bedeutete das Glückseligkeit.

Isolde blickte zornig die Straße entlang und beobachtete die beiden Arbeiterströme, wie sie im Dreck des äußeren Stadtrings gegeneinander anliefen. Während die eine Gruppe soeben aus ihrem Hamsterrad floh, konnte die andere es gar nicht erwarten, in das ihre hineinzuklettern. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages verliehen dem grotesken Schauspiel einen melancholischen Beigeschmack. Als Isolde schließlich von der Türschwelle stieg, konnte sie augenblicklich die Feuchtigkeit spüren, die durch ihre löchrigen Sohlen trat. Im äußeren Ring Freistadts gab es keine gepflasterten Straßen und der Boden war nach einem ergiebigen Regenguss noch tagelang schlammig. Die Masse an Arbeitern, welche zu jedem Schichtwechsel wie Ameisen durch die Straßen strömten, besorgten den Rest.

Der Äußere Ring unterschied sich in vielen Punkten von den beiden inneren Stadtringen. Nicht nur waren die Straßen der beiden anderen Ringe durchgängig gepflastert, sondern auch Brunnen und Grünflachen stellten dort keine Seltenheit dar. Dass die Unterschiede zwischen den Stadtvierteln ausschließlich von der Art ihrer Bewohner herrührten, war dabei kein Geheimnis. Der Innere Ring war das Herz Freistadts und beherbergte die Wohlhabenden sowie den Wächter der Freiheit, einen riesigen, weißen Turm, der exakt in der Stadtmitte thronte und in dem die Stadtverwaltung und der Senat ansässig waren. Im Mittleren Ring der Stadt hausten vor allem die Handwerker, Händler und Kunstschaffenden. Dieses Stadtviertel war nicht so protzig wie der Innere Ring, doch ein gemütlicher Platz zum Leben. Und im Äußeren Ring, dort lebten ausschließlich die Armen und Fabrikarbeiter, so weit wie möglich entfernt vom Zentrum und so nahe wie möglich an den Werkbänken.

„Moin Isolde, geht’s endlich zur Maloche?“, schallte es aus der Menge zu ihr hinüber. „Wird aber auch Zeit, sonst muss ich ja noch Ewigkeiten auf mein freies Bett warten!“ Lachend tauchte Hardi aus den Fluten an Arbeitern auf und schritt strahlend auf Isolde zu.

„Du solltest dich eher freuen, dass ich immer erst kurz vor dem Schichtwechsel aufstehe!“, entgegnete sie heiter. „So ist das Bett noch warm, wenn du von deinen Besäufnissen endlich nach Hause kommst.“ Ihre Laune besserte sich schlagartig und der Ärger über Josef war wie verflogen - Hardi hatte einfach etwas Besonderes. Den Zwerg hatte es hart im Leben getroffen und dennoch konnte er jeder Situation etwas Gutes abgewinnen. „Wie geht es dir heute?“, erkundigte sich Isolde nun ernster.

Der Zwerg war inzwischen bei ihr angekommen und machte einen schlechten Eindruck. Für einen Mann seiner Gattung war er viel zu schmächtig und sein grauer Bart war an vielen Stellen verfilzt - die einzigen Farbspritzer darin rührten vom Dreck der Straße. Besorgt schaute Isolde zu seinem linken Arm, der knapp unter dem Ellbogen abgetrennt war. Hardi gehörte zu jenem Kreis der Fabrikarbeiter, die der Übermüdung und einer der Fabrikmaschinen zum Opfer gefallen war. Isolde musste unweigerlich an Matthias denken und die Sorgen des Alltags holten sie wieder ein.

„Mir geht es gut - du kennst mich doch!“, beruhigte er sie mit einem Augenzwinkern und fügte, ihrem Blick folgend, hinzu: „Ach, der Arm? Den habe ich doch sowieso kaum benutzt - bin doch Rechtshänder. Und das Wichtigste bekomme ich noch problemlos hin …“ Als Beweis gestikulierte der Zwerg wild mit seinem verbliebenem Arm. Zuerst führte er einen imaginären Bierkrug zum Mund, um danach tänzelnd ein paar gekonnte Fausthiebe folgen zu lassen. „Würde es in unserem Stadtviertel genug Papier oder Wasser geben, könnte ich mir nach dem Scheißen sogar ohne Hilfe den Arsch abwischen“, schloss er seine Darbietung.

„Ich bin beeindruckt“, lobte ihn Isolde und deutete liebevoll ein Klatschen an.

Der Zwerg hatte einen derben Humor und erschien den meisten als ruppig, doch hatte er das Herz am rechten Fleck und er war Isolde bezüglich seiner persönlichen Situation näher als jeder andere, den sie kannte. Wie auch Isolde, musste sich Hardi als Bettler jeden Tag aufs Neue mit den Verrückten und Kriminellen des Äußeren Rings auseinandersetzen. „Aber dein Tag scheint sich ja gelohnt zu haben“, besann Isolde sich wieder auf die Realität und deutete auf das Bündel an Hardis Ledergürtel.

„Meinst du etwa den Laib Brot?“ Stolz wickelte der Zwerg seine Errungenschaft aus dem löchrigen Leinentuch, in das dieses eingepackt war. „Das habe ich nicht vom Betteln. Die armen Schlucker haben ja nicht einmal genug Brot für sich selbst.“

„Wem sagst du das …“, wusste Isolde und ihr Magen stimmte ihr grollend zu. „Wo hast du das Brot denn sonst her? Und gibt es da noch mehr?“

„Ja. Und ja.“, antwortete Hardi und wartete verschwörerisch, dass sie ihn zum Weiterreden aufforderte. Gerne tat sie ihm den Gefallen und neigte ihren Kopf mit hochgezogenen Augenbrauen. Der Zwerg blickte kurz zu beiden Seiten als würde er belauscht. Dann wandte er sich zu Isolde: „Ich habe das Brot von der Gemeinschaft der Ausgebeuteten und die haben noch mehr davon. Die Spinner verteilen das teilweise sogar ohne Geld dafür zu verlangen.“

„Die Gemeinschaft der Ausgebeuteten? Hier in Freistadt?“, fragte sie ungläubig. „Ich dachte, die gibt es nur in der Geteilten Stadt. Die kümmern sich doch dort um die Arbeiter in den Kohlebergwerken.“

„Machen sie ja auch. Aber seit Neuestem haben die auch eine Ortsgruppe hier in Freistadt - und die Typen haben die richtige Einstellung, das kannst du mir glauben. Anstatt immer kräftig den Bückling vor den Fabrikbesitzern zu machen, helfen sie den Arbeitern.“

„Das ist ja schön für die Gemeinschaft der Ausgebeuteten“, unterbrach ihn Isolde, „doch wie wollen die uns Leuten im Äußeren Ring helfen?“

„Außer, dass sie mir Brot geben?“

„Ja, außer dass sie dem lieben Hardi ein Laib Brot geben.“

„Ehrlich gesagt: keine Ahnung!“, gestand Hardi und brach in lautes Gelächter aus. „Die haben was davon erzählt, dass die Fabrikbesitzer in Wirklichkeit genauso abhängig von den Arbeitern seien wie andersherum. Dass wir Armen und Ausgebeuteten uns zusammentun sollen, weil wir nur dann stark seien - so ein Zeugs halt. Hab aber nicht wirklich zugehört, sondern bin abgehauen, als ich mein Brot abgegriffen hatte.“ Prüfend schnüffelte der Zwerg an dem Laib. „Scheint echt gut zu sein. Freu mich schon darauf: Einmal Brot mit … nichts. Besser kann der Tag kaum werden!“

„Und ein warmes Bett“, ergänzte Isolde.

„Und ein warmes Bett.“ Ungewohnt ernst fügte er hinzu: „Liebes, tu mir ein Gefallen und pass da draußen auf dich auf. Ich werde auch nochmal nach Matthias schauen und ihm ein Stück von dem Brot abgeben - der hat doch bestimmt wieder nur Bier von dem Arsch Josef bekommen. Diesem alten Rassisten sollte man sowieso mal …“

„Vielen Dank“, fiel ihm Isolde ins Wort. „Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.“ Sie gab ihrem Freund einen Kuss auf die Wange und drehte sich schnell um, als ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. Sie wusste ohnehin, dass der Zwerg ihr solange nachsehen würde, bis sie in die Seitenstraße einbog.

Dies war der schnellste Weg zum Brünftigen Hirsch, dem beliebtesten Bordell vor Ort. Er war das ganze Jahr über gut besucht - nicht wie die anderen Bordelle, welche zu Monatsbeginn aus allen Nähten platzten, wo dann den restlichen Monat aber Flaute herrschte. Selbstverständlich arbeitete Isolde nicht direkt im Brünftigen Hirsch - dafür war sie zu alt und ihre Hand zu verkrüppelt. Sie arbeitete daneben, dahinter oder davor - dort standen die altgedienten Prostituierten. Bereit für jene Freier, die nicht genug Geld für die jungen Dinger hatten, sich aber dennoch etwas, oder jemanden, gönnen wollten.

Es würde noch zwei Straßen dauern und Isolde hätte es endlich geschafft - die nassen Füße gingen ihr jetzt schon auf die Nerven. Der Strom aus Arbeitern ebbte langsam ab und gab die Straßen wieder frei. Mit ihm verließ auch die Sonne Freistadt und der kühle Wind kündete vom gerade begonnenen Herbst, was viele weitere, nasskalte Schichten bedeutete. Isolde begann schon zu frieren, wenn sie nur daran dachte.

Endlich bog sie in die Straße ein, in der der Brünftige Hirsch stand.

Isolde war nicht einmal richtig angekommen, da wurde sie bereits von der Seite angesprochen: „Na Süße, wir kennen uns doch, oder?“ Obwohl sie es hasste, dass sie ihren Körper verkaufen musste, freute sie sich über jeden Freier, denn ihr Leid und Selbsthass ermöglichte einen weiteren Tag ohne Hunger für Matthias. So drehte sich Isolde auch diesmal mit einem aufgesetzten Lächeln zu dem Mann um.

„Ja, wir kennen uns“, stoß sie ängstlich hervor und ihr falsches Lächeln erstarb augenblicklich. Sie kannte dieses Gesicht nur zu gut. Sie sah es seit fast einem Monat jede Nacht in ihren Albträumen. Vollkommen verängstigt senkte sie den Blick auf ihre durchnässten Füße.

„Na, na, nicht so schüchtern“, fuhr der Mann geradezu zärtlich fort. Er fasste ihr unter das Kinn und zwang ihren Kopf nach oben, sodass sie ihm direkt in sein Gesicht blicken musste. Auch dass sie die Augen schloss, half Isolde nicht - die brutalen Züge des Mannes hatten sich als Maske des Grauens bereits unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt.

„Bitte …“, flehte Isolde ihren Peiniger an.

„Ich hatte schon Angst, du würdest mich gar nicht mehr erkennen“, überging der Mann ihr Flehen und hielt sie weiterhin am Kinn fest. „Und das, obwohl wir das letzte Mal alle so viel Spaß miteinander hatten.“

„Ja, das war wirklich ne feine Sache“, stimmte der zweite Mann zu. Isolde bemerkte ihn erst jetzt. Er stand seitlich versetzt hinter seinem Freund und grinste ihr boshaft ins Gesicht. Und genau wie das letzte Mal, trugen die beiden auch heute wieder die Uniform der Stadtwache.

„Bitte, tun Sie mir nichts“, wimmerte Isolde erneut. Sie begann zu zittern und Tränen rannen als lauwarme Rinnsale ihre kalte Wange hinab, die selbst vor den stinkenden Finger des Mannes keinen Halt machten.

„Das ist doch kein Grund, gleich zu weinen …“, bemerkte er lauernd. „Aber du weißt schon, dass Prostitution in Freistadt verboten ist, oder? Ich dachte eigentlich, du hättest das nach dem letzten Mal verstanden.“ Ihre Knie wurden weich und gaben nach, sodass der Mann seinen Griff verstärkte.

Verzerrte Erinnerungen an Hilflosigkeit und Erniedrigung schossen Isolde durch den Kopf. „Bitte …“, flehte sie und den grauenvollen Erinnerungen folgten die damit verbundenen Gefühle: Schmerz, Scham und Wut. Doch besonders der Schmerz. „Bitte … nochmal überlebe ich das nicht.“

„Das mag schon sein“, entgegnete die Stadtwache vollkommen emotionslos. „Doch ein Verbrechen ist ein Verbrechen. Und es ist die Aufgabe der Stadtwache, die braven Bürger Freistadts vor Verbrechen zu schützen. Wir tun also nur unsere Pflicht.“ Der zweite Mann gluckste vor Erheiterung und klopfte seinem Freund von hinten zustimmend auf die Schulter. Ermutigt fuhr der erste fort: „Und deswegen bringen wir dich jetzt auch zum Büro der Stadtwache, wo über dein weiteres Verbleiben entschieden wird - also alles streng nach Vorschrift.“ Der Hintermann brach diesmal in gellendes Gelächter aus. Seine Stimme ergoss sich wie ein Schwall purer Hohn über Isolde. „Dann komm mal mit, du Flittchen“, beendete der Vordermann seinen Vortrag und riss sie grob am Oberarm.

Inzwischen hatte sich die aufziehende Düsternis über die Straßen Freistadts gelegt und vereinzelt konnte Isolde die Sterne am Himmelszelt erkennen – doch auch die würden ihr nicht zur Hilfe kommen. Dunkel und einsam ging die Gasse von der Straße ab und endete im Nichts. Zusammen mit dem Licht der improvisierten Straßenbeleuchtung verblasste auch der letzte Funke Hoffnung in Isolde. Die beiden Stadtwachen blieben mit ihr kurz vor der Gasse stehen und versicherten sich zunächst, dass sie von niemanden auf der Straße beobachtet wurden. Schließlich zwang sie der Vordermann in die Dunkelheit.

Isolde kannte diesen Ort. Der beißende Geruch nach Urin und Erbrochenen erinnerte sie unweigerlich an das letzte Mal. Nun würde sie an diesem widerlichen Ort doch ihr Leben lassen. Wie menschlicher Abfall zwischen der Pisse und Kotze irgendwelcher Saufbolde. Die Klinge!, schoss es ihr durch den Kopf. Die Klinge unter meinem Rockbund! Ich schwöre dir Bastard hier und jetzt: Entweder setze ich dir oder mir heute Nacht ein Ende.

4

Ismail musste sich beeilen, wenn er die Gasse noch rechtzeitig erreichen wollte - doch durfte er seine Schritte dabei nicht unbedacht setzen, denn jeder einzelne wurde von einem verräterischen Schmatzgeräusch der schlammigen Straßen untermalt. Konzentriert bewegte sich der Waldläufer an der Hauswand entlang und rollte sein Körpergewicht bei jedem neuen Schritt über die Ferse ab. Doch das verdammte Schmatzen wollte einfach nicht verstummen. Ein falscher Laut würde alles zunichtemachen.

Das Meer aus Menschen, Zwergen und Alben war inzwischen verebbt und die Einsamkeit gefiel ihm weitaus besser. Sie gab ihm das Gefühl von Kontrolle und Berechenbarkeit zurück. Mit den Fingern seiner linken Hand spürte er die kratzigen Mörtelfugen zwischen den Backsteinen, als er vorsichtig weiter dem Mauerverlauf folgte. Leicht geduckt verschmolz er zusehends mit dem Schatten der Hauswand und verließ sich einzig auf Gehör und Tastsinn. Sein angespannter Körper folgte gehorsam der führenden Hand. Der unangenehme Geruch von Urin stieg ihm die Nase und trug das erstickte Wimmern einer Frau mit sich. Er hatte den Zugang zur Gasse fast erreicht und verlangsamte weiter seine Schritte bis seine Fingerkuppen endlich die Hausecke ertasteten. Regungslos verharrte er im Schatten.

Was mache ich hier eigentlich?, zweifelte er. Immerhin ist es nicht gerade eine Besonderheit, dass sich die Stadtwache an wehrlosen Bürgern vergreift. Nachdenklich blickte er zurück auf die verlassene Straße und spürte den Drang, ungesehen wieder zu verschwinden und das Schicksal einfach seinen Lauf nehmen zu lassen. Warum also? Und warum gerade jetzt? Er seufzte unentschlossen. Wer hat denn mir geholfen, als alles den Bach runterging? Oder Mutter … Seine Muskeln spannten sich an und obwohl in seinem Inneren ungeheure Kräfte tobten, bewegte er sich keinen Fingerbreit.

Mutter … Es dauerte noch mehrere Atemzüge bis er seinen Entschluss gefasst hatte und sich zur Ruhe zwang. Schließlich bewegte er seinen Kopf in einer langsamen, doch flüssigen Bewegung um die Hausecke.

In der schmalen Gasse blickte keine der drei Personen in seine Richtung. Einer der Männer drückte das Opfer gegen die Gassenwand, während der andere das Spektakel in Ruhe betrachtete. Trotz der schummrigen Lichtverhältnisse konnte Ismail erkennen, dass die Frau zitterte. Die Angreifer waren zweifelsohne Stadtwachen. Obwohl sie ihr widerliches Verbrechen an diesem Ort zu verstecken versuchten, sprachen ihre Silhouetten eine deutliche Sprache: Beide trugen den charakteristischen Ledermantel der Stadtwache von Freistadt - lang und mit hohem Kragen. Dazu der Lederhut mit der breiten Krempe, die an der linken Seite senkrecht nach oben geknickt war. Der Fortschritt machte in Freistadt auch vor den Stadtwachen nicht Halt. Die Zeiten, in denen diese mit Helm, Schild und Handbeil durch die Straßen patrouillierten, waren lange vorbei. Heute trugen sie neben ihren modischen Ledermänteln eine automatische Armbrust, die - ungeachtet ihres kompakten Formats - in kürzester Zeit unzählige Bolzen hintereinander verschießen konnte. Doch so beeindruckend diese Waffe auch war, besorgte sie Ismail in der aktuellen Situation nicht sonderlich - für ihn war die kleine Trillerpfeife am Hals der beiden Männer weitaus bedrohlicher. Sollte einer der beiden die Pfeife zu dieser späten Stunde benutzen, würde dies alle Stadtwachen im Äußeren Ring alarmieren.

Ismail zog seinen Kopf wieder zurück und überlegte kurz, ob er seinen Bogen benutzen sollte, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Zwei blitzschnell hintereinander verschossene Pfeile in eine stockdüstere Gasse – beide augenblicklich tötend? Unmöglich. Er musste das Problem Wohl oder Übel aus der Nähe lösen. Entschlossen hob er einen der Backsteine auf, welche aus der Hauswand gebrochen waren und durcheinander auf dem Gehsteig lagen. Er wog ihn abschätzend in seiner Hand. Wenn es gut lief, würden alle Beteiligten diese Nacht überleben.

Schließlich betrat der Waldläufer die Gasse. Zielstrebig und ohne weitere Rücksicht auf das verräterische Schmatzen unter seinen Füßen näherte er sich schnellstmöglich dem ersten Mann. Sie trennten nur noch wenige Schritte und Ismail verstärkte den Griff um den Backstein. Die Stadtwache war noch immer wie gebannt von dem grausamen Schauspiel vor ihm und vollkommen ahnungslos, was den heraufziehenden Schatten in seinen Rücken betraf. Angewidert bemerkte Ismail das unruhige Herumfummeln des Mannes in seinem Schritt, als er endgültig zu diesem aufschloss. Ohne zu zögern schlug er zu.

Das Geräusch, als der Backstein mit voller Wucht den Hinterkopf des Mannes traf, erinnerte den Waldläufer vage an ein Stück Fleisch, dass auf eine glatte Oberfläche klatscht: dumpf und leblos. Die Muskeln des Mannes erschlafften augenblicklich und sein Körper folgte willenlos der Schwungbewegung des schweren Steins. Überrascht über den ausbleibenden Widerstand glitt Ismail dieser aus der Hand und rutschte polternd an der rauen Gassenwand zu seiner Rechten entlang.

Wie befürchtet, alarmierte das ungewöhnliche Geräusch die zweite Stadtwache. Noch immer mit seinen Händen an Hals und Rock des Opfers beschäftigt, riss der Mann seinen Kopf herum und brüllte erbost: „Ist ja gut jetzt, Hannes! Du kommst ja auch noch dran, aber heute …“

Ich muss mich beeilen.

Der Mann riss überrascht die Augen auf, ließ von seinem Opfer ab und schlug augenblicklich zu. Der rechte Haken explodierte wuchtig auf Ismails Unterarm, den dieser gerade noch schützend vor seinen Kopf reißen konnte. Der Fausthieb des Mannes war so kräftig, dass er Ismail auf dem schlammigen Boden der Gasse beinahe von den Beinen holte und zu einem Ausfallschritt zwang. Ohne Verzögerung folgte ein weiterer schwerer Haken, der krachend in Ismails Deckung einschlug. Und erneut musste der Waldläufer mit einem Ausfallschritt der Kraft des Gegners ein Ventil bieten. Nicht nur, dass sein Kopf zu schmerzen begann und die ersten leuchtenden Punkte vor seinen Augen tanzten, auch wäre er beinahe über die bewusstlose Stadtwache am Boden gestolpert. Die Kontrolle über den Kampf eingebüßt und schwer angeschlagen, begann Ismail seine Entscheidung zu bereuen. Er bereitete sich gerade auf den finalen Fausthieb des Mannes vor, als etwas Seltsames geschah: Die Zeit blieb stehen.

Zumindest wirkte es so auf Ismail. Es mutete an, als würde sich alles und jeder in der Gasse viel zu langsam bewegen: Der wilde Bulle von einem Mann vor ihm, dessen vor Zorn brennende Augen er nun deutlich sah. Die verängstigte Frau, die im Schneckentempo mit ihrem Rücken an die Gassenwand gelehnt zu Boden glitt. Einfach alles – bis auf ihn selbst.

Ismail konnte sich in gewohnter Geschwindigkeit bewegen. Ohne sein Glück zu hinterfragen, nutze er seine Chance und tauchte geschmeidig unter dem ausladenden Schwinger, der sich auf halbem Wege zu ihm befand, hindurch. Seitlich neben dem Mann auftauchend setzte Ismail direkt zum Gegenangriff an. Noch aus der Bewegung heraus zog er sein rechtes Bein zunächst nah an seinen Körper, nur um dieses dann mit voller Kraft zum Knie des Gegenübers zu führen. Der brutale Tritt traf das gegnerische Gelenk an der rechten Außenseite und - obwohl dieses zunächst tapferen Widerstand leistete – knickte es mit einem verstörenden Geräusch entgegen seiner natürlichen Richtung weg.

Der Lauf der Zeit nahm wieder ihre natürliche Fahrt auf und der Mann ging mit einem ohrenbetäubenden Schrei zu Boden. Nicht einmal seinen Sturz abwartend, huschte Ismail gänzlich hinter den Mann und legte ihm seinen rechten Arm um den Hals, während er mit der linken Hand seinen Hinterkopf fixierte. Er brauchte seine Armmuskeln nur für einen Herzschlag lang anspannen und die Schmerzensschreie erstarben.

Stille und Dunkelheit hatten die Gasse zurückerobert. Lediglich ein wildes Fauchen und Schreien - ähnlich einer wütenden Katze - drang zu Ismail durch. Verwirrt blickte der Waldläufer in alle Richtungen, konnte aber weit und breit keine Straßenkatze ausmachen. Das Gehörte seinen überspannten Sinnen zuschreibend, konzentrierte er sich wieder auf den Mann in seinem Würgegriff. Dieser schnappte stoßweise nach Luft und versuchte sich verzweifelt zu befreien. Als er nach Ismails Kopf griff, legte dieser den Kopf in den Nacken und verstärkte seinen Griff. Mit jedem weiteren Atemzug konnte Ismail förmlich spüren, wie das Bewusstsein den Körper der Stadtwache verließ. Ich muss jetzt aufpassen, ermahnte er sich. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist eine tote Stadtwache. Der Körper des Mannes verlor jegliche Spannung und das verkrampfte Schnappen fand ein Ende. Überrascht von dem Gewicht des Bewusstlosen, lockerte Ismail schrittweise seinen Würgegriff und ließ diesen behutsam auf den schlammigen Gassenboden gleiten. Er drehte den Mann auf den Rücken, damit dieser keinen Dreck einatmete und kontrollierte dessen Puls. Erneut das Fauchen in seinem Kopf. Der Drang zuzudrücken – einfach so. Die Beute zu erlegen.

Ismail riss sich zusammen und betrachtete stattdessen eingehend den Bewusstlosen. Sieht aus wie ein ganz normaler Kerl. Bestimmt mit Frau und Kind, einem schönen Heim.

Prüfend wanderte sein Blick durch die Dunkelheit. Anscheinend hatte niemand etwas von dem Kampf mitbekommen. Zumindest ließ sich niemand blicken. Wer weiß, sein Blick ging wieder zu dem Mann, hätte sich mein Leben vor Jahren nicht so schlagartig geändert, wäre ich jetzt vielleicht an seiner Stelle: ein Streiter für die gute Sache im Namen der lokalen Stadtwache.

Ismail stand auf und wandte sich der Frau zu, die noch immer mit dem Rücken an der feuchten Hauswand lehnte. Sie schien durch ihn hindurchzublicken, als er sich vor sie stellte. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Er musterte sie eingehend. Obwohl sie bestimmt zehn Jahre älter war als er, erschien ihm ihr Gesicht vergleichsweise jung. „Ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?“

„Katze“, antwortete die Frau emotionslos.

„Katze?“, wiederholte er verwirrt und blickte unwillkürlich zurück in die Gasse. „Haben Sie sie auch gehört?“

„Katze“, sagte sie erneut. Ihr Blick endete im Nirgendwo. Als sie sich mit ihrer Linken an den Brustkorb fasste, fiel dem Waldläufer auf, dass mehrere Finger ihrer Hand versteift waren. „Katze“, sagte sie nun ein drittes Mal und berührte dabei das Holzamulett, mit dem Ismail seinen Lodenumhang zusammenhielt.

Sein Blick folgte den schmächtigen Fingern. „Ach das! Ja, das ist eine Katze“, gestand er mit einem Lächeln. Ismail selbst hatte schön länger nicht mehr an das Amulett gedacht. Es bestand zur Gänze aus dem schwarzen Holz des Mondbaums, einer überaus seltenen Baumart, die nur in den undurchdringlichen Tiefen des Schattenforstes zu finden war. Liebevoll und mit großem handwerklichen Geschick hatte jemand dem Stück Holz die Form eines Katzenkopfes gegeben, wobei kleine, grünschimmernde Edelsteine als Augen verwendet worden waren. Ismail realisierte nun, dass die Frau nicht ins Nirgendwo, sondern direkt in die grünen Augen der Katze starrte. Liebevoll streichelten ihre Fingerspitzen das hölzerne Abbild des Raubtiers.

„Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen“, bemerkte Ismail eilig. „Wenn man uns mit den beiden bewusstlosen Stadtwachen erwischt, landen wir entweder im Kerker oder werden direkt an der Stadtmauer aufgeknüpft.“ Als eine Reaktion der Frau abermals ausblieb, griff er ungeduldig nach ihrer Hand, die diese daraufhin unvermittelt zurück riss und aufstand. Trotzig fixierten ihn ihre hellblauen Augen. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, versuchte Ismail die Situation zu entschärfen und trat einen Schritt zurück, um der Frau mehr persönlichen Raum in der engen Gasse zu geben.

„Du hast mir schon genug geholfen“, erwiderte sie zornig und richtete ihre Kleidung. Besonders ihren mit Flicken übersäten Rock schob impulsiv wieder nach unten über ihre aufgeschlagenen Knie. Als sie mit dem Glattstreichen ihrer Kleidung endlich fertig war, blickte sie an Ismail vorbei zu den beiden Stadtwachen, deren Körper noch immer regungslos im Dreck lagen.

„Gern Geschehen“, brummte Ismail missmutig und folgte ihrem Blick. „Wenn Sie keine weitere Hilfe wünschen, mache ich mich mal vom Acker – ich kann nämlich gut auf Kerker oder Galgen verzichten.“

„Einfach so?“, entgegnete die Frau verächtlich und ohne den Blick von ihren Peinigern zu nehmen.

Ismail war verwirrt.

„Du hilfst mir und haust dann einfach so ab?“ Ihre lauernden Augen wanderten zu ihm zurück. „Bist du sicher, dass ich dir nicht noch einen Gefallen schulde? Vielleicht den Rock kurz wieder anheben? Ich meine … niemand rettet eine Hure umsonst, oder?“

Wie kaputt ist diese Stadt eigentlich?, dachte Ismail abgestoßen und entgegnete: „Nein, Sie brauchen mir keinen Gefallen tun. Nach meiner guten Tat werde ich heute auch so ganz gut einschlafen können.“

Nun war es an der Frau, sichtlich verwirrt zu sein. „Es … Es tut mir leid. Aber …“

„Vergessen Sie es einfach“, unterbrach er sie erbost und wandte sich anstandslos Richtung Gassenausgang. Er war wütend. Doch eher auf sich selbst, als auf die Frau. Ihr Angebot spiegelte lediglich die Verkommenheit dieser verdammten Stadt wieder. Was ihn wirklich wütend machte, war die Tatsache, dass er sein eigenes Leben für jemand anderen aufs Spiel gesetzt hatte. Mit mahlendem Unterkiefer kniete er sich zu dem Mann, den er mit dem Backstein niedergeschlagen hatte; dessen Puls war schwach, aber vorhanden. Den Blick erneut durch die Gasse schweifend, griff der Waldläufer unter den langen Ledermantel und nahm sich den Geldbeutel der Stadtwache, schätze den Inhalt am Gewicht und nickte anerkennend. Der Beutel verschwand in seiner ledernen Umhängetasche. „Sie sollten sich den Geldbeutel von dem anderen Kerl nehmen“, empfahl er der Frau ungerührt. „Wahrscheinlich deckt das Ihre Kosten für mehr als eine Woche.“ Er erhob sich und ging schnurstracks zurück zur Hauptstraße.

„Warte“, rief die Frau ihm nach. „Wer bist du überhaupt?“

399
573,60 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
331 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783944771311
Издатель:
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