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1.4 Ausgewählte soziologische Migrationstheorien

In den Anfängen der soziologischen Migrationsforschung bildete die Frage nach der Eingliederung der Immigranten in die Aufnahmegesellschaft den zentralen thematischen Schwerpunkt, der unter dem umfassenden Begriff der Assimilation untersucht wurde. Dabei wurden unterschiedliche deskriptiv-klassifikatorische Sequenz- und Zyklenmodelle entwickelt, die den Assimilationsvorgang der Immigranten als Prozess darstellten, der in einer Abfolge von Phasen progressiv voranschreitet. Die wissenschaftlich kritischen Auseinandersetzungen mit diesen Modellen haben in den 1960er Jahren nicht nur zu einem Paradigmenwechsel in der soziologischen Migrationsforschung, sondern auch zur Konzipierung von wesentlich umfassenderen Theorieansätzen geführt. Im Folgenden werden selektiv Sequenz- und Zyklenmodelle sowie inhaltlich darüber hinausführende Theorieansätze vorgestellt.

1.4.1 Anfänge und Entwicklung der Migrationsforschung

Die wissenschaftliche Erforschung des Phänomens der Migration beginnt, wie in vielen anderen Forschungsgebieten, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies liegt nicht darin begründet, dass die Migration in früheren Zeiten unbekannt gewesen wäre. Die Sammler- und Jägerkultur, die Völker- und Nomadenwanderung und die unzähligen Kriegszüge der Stämme und Völker weisen eher darauf hin, dass das Phänomen der Migration ein fester Bestandteil der Kulturgeschichte der Menschheit ist und bleibt. Die Tatsache, dass das Phänomen der Migration erst im 19. Jahrhundert Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung wurde, hat mit dem Umstand zu tun, dass sich die empirischen Natur- und Sozialwissenschaften erst in dieser Zeit etablierten.

Die ersten beachtenswerten Forschungsarbeiten zur Migration stellen die beiden Publikationen von Ernest George Ravenstein mit dem Titel „The Laws of Migration“ im „Journal of The Royal Statistical Society“ von 1885 und 1889 dar. Wie die Überschriften bereits verdeutlichen, war es das Ziel, nach dem Muster der naturwissenschaftlichen Forschung, die Gesetze der Migration zu entdecken. Dabei ging Ravenstein von der Prämisse aus, dass der entscheidende Migrationsgrund der Wunsch der Menschen ist, ihre materiellen Lebensbedingungen zu verbessern. Die Migration der überschüssigen Bevölkerung (surplus population) von den unterentwickelten zu den besser entwickelten Gebieten mit florierendem Handel und Industrieansiedlung war für ihn ein selbstverständlicher Vorgang (vgl. Ernest George Ravenstein, 1889, 241, 261, 286-289). Nachdem Ravenstein eine Reihe statistischer Daten zu Migrationsbewegungen in den europäischen und nordamerikanischen Ländern analysiert hatte, sah er in der geographischen Distanz den entscheidenden Faktor für seine Migrationsgesetze, die er in folgenden Hypothesen zusammenfasste (vgl. Ernest George Ravenstein, 1889, 288):

a) Unter normalen Bedingungen ist Migration ein Prozess, der sich langsam und schrittweise (step by step) vollzieht.

b) Der Migrationsstrom nimmt proportional zur wachsenden geographischen Distanz in seiner Stärke ab. Die Mehrzahl der Migranten entscheidet sich für die „short-journey migration“, so dass sie vom Land in die angrenzenden Städte oder in unmittelbare Nachbarländer migrieren.

c) Migration löst Gegenmigration aus.

d) Das Wachstum der Städte geht auf Kosten der Entvölkerung (depopulation) der ländlichen Regionen.

e) Unter den „short-journey“ Migranten überwiegen die weiblichen Migranten.

f) Je mehr die Entwicklung des Verkehrswesens und der Industrie voranschreitet, umso mehr wird die Migration der Menschen zunehmen, weil „migration means life and progress; a sedentary population stagnation.“.

Die Arbeiten von Ravenstein stellen keine Theorie im Sinne der heutigen Sozialwissenschaften dar, sondern beanspruchen „nur den Status empirischer Regularitäten“ (vgl. Hans-Joachim Hoffman-Nowotny, 1970, 45). Sie haben dennoch wichtige Anregungen für die nachfolgenden Forschungen gegeben.

Den zentralen Schwerpunkt der nachfolgenden Migrationsforschung bildete der Eingliederungsprozess der Migranten in das Aufnahmeland. In allen vorliegenden Forschungsergebnissen wird er unter dem Begriff der Assimilation thematisiert. Zunächst bestanden die Forschungsarbeiten aus einer Reihe von deskriptiv-klassifikatorischen Sequenz- bzw. Zyklenmodellen, die die Assimilation von Einwanderern und ethnischer Einwanderergruppen in das Aufnahmeland als einen Prozess darstellten, der in einer Abfolge von Phasen bzw. Stadien verläuft. Die Abhandlung „The Study of Assimilation“ von Charles Price vermittelt einen strukturierten Überblick über die verschiedenen Modelle, deren Sequenzen sich durch ihren jeweiligen Forschungsschwerpunkt voneinander unterscheiden. Insgesamt sind ökonomisch-ökologische Sequenzen, Generationensequenzen und „race-relation-cycle“ zu unterscheiden (vgl. Charles Price, 1969, 200-213).

Das ökonomische Sequenzmodell besteht aus 4 Phasen (vgl. Charles Price, 1969, 201):

Phase 1: Wachsende industrielle Nachfrage nach Arbeitskräften, die die Einwanderung fremder Arbeitskräfte nötig macht. Die Arbeitsmigranten schließen die Lücken des Arbeitsmarktes im unteren Lohnbereich, verschärfen den Wettbewerb und lösen dadurch Fremdenhass aus.

Phase 2: Wirtschaftlicher Abschwung schürt generelle Vorurteile gegenüber Fremden und Fremdenfeindlichkeit. Teilweise kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen, was zur restriktiven politischen und administrativen Handhabung der Einreisebestimmungen führt.

Phase 3: Mit zyklischer Erholung der Wirtschaft und nachlassender Fremdenfeindlichkeit tritt eine politische Lockerung der Einreisebestimmungen ein, so dass erneut die Einwanderung von Ausländern erlaubt wird.

Phase 4: Wirtschaftliche Rezession belebt wiederum die Fremdenfeindlichkeit, deren Intensität jedoch diesmal schwächer ausfällt, aufgrund der gewachsenen Pluralität der Gesellschaft.

Das ökologische Sequenzmodell über das amerikanische Judentum von Louis Wirth und Nathan Glazer beinhaltet 5 Phasen (vgl. Charles Price, 1969, 202-203):

Phase 1: Die Juden nordeuropäischer (Ashkenazim) und westeuropäischer (Sephardim) Herkunft besiedeln ein Gebiet und errichten ethnische Institutionen wie Synagogen, Schulen, Bestattungseinrichtungen, jüdische Friedhöfe, usw.

Phase 2: Allmählicher beruflicher Aufstieg einzelner jüdischer Familien, die dann in bessere Wohngebiete umziehen, wo eine mehr ethnisch gemischte Bevölkerung mit liberalen religiösen Einstellungen lebt. Die Wahrscheinlichkeit der Assimilation dieser Juden in die säkulare Gesellschaft (the Gentil world) erhöht sich.

Phase 3: Die freiwerdenden Räume, die durch den zunehmenden Auszug der Juden nordeuropäischer Herkunft aus den ersten jüdischen Siedlungen entstehen, werden durch neu einwandernde orthodoxe Juden aus Osteuropa gefüllt, die wiederum ihre religiösen und kulturellen Einrichtungen schaffen.

Phase 4: Die Juden aus Osteuropa fliehen aus dem bisherigen jüdischen Siedlungsghetto in bevorzugtere Wohngebiete und errichten dort 2. bzw. 3. neue jüdische Siedlungsgebiete.

Phase 5: Die zweite und dritte Generation der Juden zieht aus ihren Siedlungsgebieten fort, um sich in den Siedlungsgebieten mit besserer Wohnqualität niederzulassen. Dadurch beginnt die allmähliche Vermischung (Assimilation) mit der nichtjüdischen Bevölkerung.

Das Generationen-Sequenzmodell von H. G. Duncan gliedert sich in drei Sequenzen der Assimilation (vgl. Charles Price, 1969, 204):

1. Generation

Die Mehrheit der ersten Generation der Einwanderer passt sich nur im wirtschaftlichen und sozialen Bereich des Aufnahmelandes an und versucht durch ethnische Gruppen- und Institutionenbildungen ihre Herkunftskultur zu bewahren, um dadurch ihre emotionale Geborgenheit und psychische Sicherheit zu erhalten.

2. Generation

Die zweite Generation versucht in der Familie die Herkunftskultur der Eltern zu bewahren, während sie sich in Schule und Beruf die Verhaltensmuster und Kultur des Aufnahmelandes aneignet. Sie lebt in zwei Kulturen mit gemischten Wertestandards.

3. Generation

Die dritte Generation gibt die Herkunftskultur ihrer Eltern auf und assimiliert sich gänzlich in die „core culture“ des Aufnahmelandes, so dass interethnische Mischehen normal werden.

Gemeinsam für die gezeigten Sequenzmodelle ist die Tatsache, dass sie, unabhängig von ihren unterschiedlichen Phaseneinteilungen, wissenschaftliche Bemühungen darstellen, durch die die deskriptive Rekonstruktion und Klassifikation des faktischen Assimilationsvorganges einzelner Einwanderer und - gruppen induktiv zu einer allgemeinen Theoriebildung gelangen. Diese Konstruktion beruht jedoch auf der Erforschung einzelner Teilbereiche (z.B. Siedlungsweise, berufliche und ethnische Konzentration, Generationenabfolge), die die Einwanderer und -gruppen unter bestimmten regionalen und soziohistorischen Bedingungen des Aufnahmelandes in ihrem Assimilationsprozeß durchlaufen haben. Ihre Erklärung kann daher auf die jeweilige Untersuchungssituation bezogen Gültigkeit besitzen. Sie ist jedoch nicht zur Verallgemeinerung geeignet. Generell können Sequenzmodelle nicht erklären, wie, wann und unter welchen Bedingungen sich der Übergang von einer Phase zur nächsten vollzieht. Sie können bei der Strukturierung komplexer Einzelaspekte der Assimilation hilfreich sein, stellen jedoch in sich keine allgemeinen Theorien dar, die die Zusammenhänge von Migration und Assimilation erklären können.

Im Gegensatz zu den vorgestellten Sequenzmodellen zeichnet sich das Modell des „race-relation-cycle“, das zwei Exponenten der Chicagoer Schule für Soziologie in den USA, Robert E. Park und Ernest W. Burgess, in den 1920er Jahren entwickelt haben, durch eine wesentlich größere Theorienähe aus. Von ihnen geht, wie es Charles Price konstatiert, ein wichtiger und nachhaltiger Impuls für die nachfolgende migrationssoziologische Theorieentwicklung aus (vgl. Charles Price, 1969, 213-217). Im Folgenden soll daher das Modell des „race-relation-cycle“ vorgestellt und kritisch gewürdigt werden, um die Anfänge der Entwicklung der soziologischen Migrationstheorien aufzuzeigen und die in diesem Buch vorgenommene Selektion der soziologischen Migrationstheorien zu begründen.

Robert E. Park und Ernest W. Burgess vertreten in ihrem Modell des „race-relation-cycle“ die These, dass jedesmal, wenn zwei oder mehrere ethnische Gruppen durch Migration in einem Gebiet zusammenleben, sie folgende fünf zyklische Phasen durchlaufen (vgl. Charles Price, 1969, 213-217):

1. „Contact“- Phase: Ethnische Gruppen, die durch Migration in einem Gebiet zusammenkommen, versuchen im Regelfall friedliche und klärende (exploratory) Kontakte untereinander aufzunehmen.

2. „Competition“- Phase: Sie treten in Wettbewerb um die knappen Ressourcen, wie Arbeitsplätze, Wohnungen, Kindergartenplätze usw.

3. „Conflict“- Phase: Als Folge des Wettbewerbs treten Diskriminierungen, Auseinandersetzungen und Aufstände auf.

4. „Accommodation“- Phase: Die ethnischen Gruppen arrangieren sich zu einem „modus vivendi“, indem sie jeweils für ihre Gruppe berufliche Nischen suchen, sich in gesonderte Gebiete zurückziehen und sich mit ihrem jeweiligen sozialen Status begnügen.

5. „Assimilation“- Phase: Durch die Vermischungen (interethnische Ehen) verschwinden die ethnischen Unterschiede. An deren Stelle entsteht eine völlig neue Gesamtgruppe, in der ethnische Unterschiede nicht mehr erkennbar sind.

Obwohl das Zyklenmodell der Assimilation von Park und Burgess viele Anhänger gefunden und wertvolle Impulse für die weitere Entwicklung soziologischer Migrationstheorien gegeben hat, blieb es von Kritik nicht verschont. Eine der ersten Kritiken richtet sich gegen die Vorstellung, dass der zyklische Phasenverlauf unvermeidbar und irreversibel progressiv sein soll. Diese These ist empirisch nicht haltbar, weil sich die interethnischen Beziehungen keineswegs immer progressiv in Richtung Assimilation entwickeln müssen. Sie können auch in dauerhafte Konflikte, Unterordnung oder sogar in die Eliminierung ethnischer Gruppen einmünden (vgl. Hartmut Esser, 1980, 46). Das Zyklenmodell trägt damit in keiner Weise der Vertreibung, Zerstörung bzw. Vernichtung (z.B. die „Endlösung der Judenfrage“ in Nazideutschland) ethnischer Gruppen Rechnung, die während des Assimilationsprozesses vorkommen und diesen abrupt beenden können. Darüber hinaus können ethnische Gruppen ausgelöscht werden. Robert E. Park hat in seinen späteren Arbeiten nur andeutungsweise auf die Möglichkeit des regressiven Phasenverlaufs und auf alternative Formen des Endzustandes (Kastensystem als Endzustand) hingewiesen. Die Annahme, dass die völlige Assimilation zwangsläufig der einzig mögliche Endzustand des Eingliederungsprozesses sein soll, bleibt somit einseitig (vgl. Charles Price, 1969, 214).

Zweitens wird die im Modell enthaltene These, dass die ethnischen Unterschiede mit dem Erreichen der Assimilationsphase völlig aufgehoben würden, besonders von denjenigen kritisiert, die den kulturellen Pluralismus favorisieren. Sie weisen auf die Möglichkeit hin, dass ethnische Gruppen, wie die Frankokanadier, voll in die „core society“ integriert werden können, ohne dabei ihre ethnische Identität aufzugeben. In diesem Sinne kann die Integration eine Form der Akkommodation sein (vgl. Charles Price, 1969, 216). Weiterhin ist kritisch anzumerken, dass der Assimilationsprozess keineswegs eine Mechanik (vgl. Hartmut Esser, 1980, 48) darstellt, die irreversibel progressiv verläuft. Statt des linear progressiven Verlaufes kann Assimilation auch durch Diskontinuität und Regression bestimmt sein, so dass sie als „uneven assimilation“, d.h. ungleichmäßig verlaufende Assimilation, bezeichnet wird (vgl. Charles Price, 1969, 216). Das Modell des „race-relation-cycle“ kann diese „uneven assimilation“ nicht erklären.

Die Tatsache, dass die Sequenz- und Zyklenmodelle die „uneven assimilation“ nicht erklären können, hat in der weiteren Migrationsforschung, die in den 1960er Jahren beginnt, zu neuen erkenntnisleitenden Forschungsinteressen geführt. Die Assimilationsforschung wandte sich zunehmend neuen Fragen der Gruppenzugehörigkeit, Sozialisation, Rollenerwartung, psychischen Anpassung und „community relations“ der Migranten zu. Die Migrationstheorien von Shmuel N. Eisenstadt und Milton M. Gordon schließen diese Lücken (vgl. Charles Price, 1969, 217, 219). Hartmut Esser bewertet sogar die theoretischen Analysen von Eisenstadt und Gordon als „die bis heute am weitesten entwickelten und systematischsten Fassungen des Problems der Eingliederung“ (vgl. Hartmut Esser, 1980, 70).

Der bisherige Überblick zu Anfängen und Entwicklungen der Migrationsforschung ist Grundlage dafür, dass die Theorien von Shmuel N. Eisenstadt und Milton M. Gordon aus dem englischsprachigen Raum für dieses Buch ausgewählt und vorgestellt werden. Aus dem deutschsprachigen Raum werden die soziologischen Migrationstheorien von Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny und Hartmut Esser gewählt, weil sie am ausführlichsten auf die migrationssoziologischen Fragen eingehen und versuchen, eine allgemeine soziologische Theorie der Eingliederung und Integration von Migranten zu entwickeln. „Beide können sicher als die prominentesten, theoretisch und methodologisch befriedigendsten in deutscher Sprache formulierten Theorien aus dem Bereich der Wanderungssoziologie bezeichnet werden“ (Bernhard Nauck, 1988, 17). Die migrationssoziologischen Ansätze von Shmuel N. Eisenstadt und Milton M. Gordon finden in den theoretischen Überlegungen von Hartmut Esser breite Berücksichtigung, so dass die Leser in diesen Ansätzen auch eine kontinuierliche Theorieentwicklung der Migrationssoziologie kennenlernen.

Im Folgenden werden migrationstheoretische Theorieansätze vorgestellt. Ausführungen zur Integration werden aus diesen Ansätzen herausgenommen und im Kapitel 5.2 behandelt.

1.4.2 Migrationstheorie von Shmuel N. Eisenstadt

Migration ist der Wechsel des Wohnortes bzw. die physische Transplantation (physical transition) von Einzelnen und Gruppen aus einer angestammten und vertrauten zu einer fremden soziokulturellen Lebensumwelt (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1952(1), 225; 1953, 169; 1954, 1). Der Migrationsvorgang besteht nach Eisenstadt generell aus drei Phasen.

Die erste Phase ist die der Motivbildung zur Migration. In dieser Anfangsphase verdichten sich die Gefühle von Unsicherheit und Unzulänglichkeit (feelings of insecurity and inadequacy), die die potentiellen Migranten an ihrem Herkunftsort bezüglich ihrer Lebensbedingungen empfinden, nach und nach zu einem Motivbündel hinsichtlich ihrer Migrationsüberlegungen (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 1-4). Schließlich kommt nur noch die endgültige Aufgabe der gewohnten Lebensumwelt als Problemlösung in Frage. Weil die Migration im Regelfall mit einer Reihe von kaum abschätzbaren existentiellen Unsicherheiten und Risiken verbunden ist, findet die Motivbildung zur Migration nicht als einmalige Ad-hoc-Entscheidung, sondern als ein sich allmählich verdichtender psychischer Dispositionsprozess statt. In diesem Prozess wird sowohl eine materielle als auch soziokulturelle Verbesserung der Lebensbedingungen am Zielort gedanklich vorgestellt und vorweggenommen (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1952(1), 225; 1953, 169).

Die zweite Phase besteht aus dem aktuellen Vorgang der Migration selbst, in dem die zur Migration Motivierten tatsächlich ihren Herkunftsort verlassen, um in eine ihnen völlig fremde und neue soziokulturelle Lebensumwelt einzuwandern. Diese Immigration ist mehr als ein Vorgang des Wohnortwechsels. Sie ist ein Prozess gravierender und radikaler sozialer Veränderungen, in dem die gesamten bisherigen sozialen Rollen, Interaktionen und Partizipationsbezüge aufgegeben werden. Hier tritt ein Prozess der Desozialisation (desocialization) in dem Sinne ein, in dem all das, was bisher durch Sozialisation vermittelt worden ist, weitgehend an soziokultureller und gesellschaftlicher Verbindlichkeit verliert. Die Folgen dieser radikalen Veränderungen sind oft existentielle Orientierungsstörungen sowie vorübergehende Strukturlosigkeit des Lebens. Die Unsicherheit der Migranten, die durch das Verlassen des Herkunftsortes eingetreten ist, wird nun durch die Unsicherheit in der neuen Umwelt zusätzlich verstärkt (Einzelheiten in Kapitel 3.2). Die Folge ist die generelle Angst vor der Zukunft (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1952(1), 225). Die Migranten sind angehalten, einen erneuten und mühsamen Lernprozess zu beginnen (Resozialisierung), um sich mit den neuen soziokulturellen Gegebenheiten des Aufnahmelandes vertraut zu machen. Ihr Selbstkonzept und ihre Werthierarchie müssen entsprechend den neuen Bedingungen und Anforderungen reformiert und transformiert werden (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 5-6).

Die dritte Phase besteht aus dem lang andauernden und umfassenden Prozess der Eingliederung der Immigranten in die Aufnahmegesellschaft, den Shmuel Eisenstadt zuerst unter dem Begriff der Assimilation (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1951, 222), später jedoch durchgehend unter dem Begriff „the process of absorption“ thematisiert hat (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 6, 9). Dieser Prozess der „absorption“, von dem das Gelingen des neuen Lebens der Immigranten in der Aufnahmegesellschaft entscheidend abhängt, umfasst nach der Darstellung von Eisenstadt drei wichtige Teilprozesse (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 11), die wegen ihrer besonderen Bedeutung für die später zu behandelnde Thematik der Integration beschrieben werden sollen.

a) Institutionalisierung der Rollenerwartungen und Verhaltensweisen im Alltag (institutionlization of role-expectation and behavior)

Bei diesem Teilaspekt handelt es sich um einen Lernprozess, in dem die Immigranten vor allem die neue Sprache und deren formgerechte Anwendung, neue soziale Rollen und deren angemessene soziale Erfüllungsformen (performance of roles), neue Denk- und Umgangsformen sowie eine Vielzahl von Alltagstechniken erlernen, die für das allgemeine Zurechtkommen in der Aufnahmegesellschaft unabdingbar notwendig sind. Mit anderen Worten müssen sie all ihre Lernvorgänge, vor allem ihre Rollenerwartungen, mit den allgemein geltenden Werten, Normen, Gewohnheiten und Erwartungen der Aufnahmegesellschaft kompatibel gestalten, so dass ihr Rollenvollzug im Rahmen der Rollendefinition der Aufnahmegesellschaft erfolgen kann (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1952(3), 373; 1954, 7). Indem sie ihre Lernvorgänge institutionalisieren und ihr Alltagsverhalten danach ausrichten, werden sie in der neuen Gesellschaft nach und nach akkulturiert. Die logische Konsequenz der allmählichen Institutionalisierung des Verhaltens ist somit die Akkulturation (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1953, 168; 1954, 12), während die fehlende Institutionalisierung zu anomischen Verhaltensweisen (unstructured anomic behaviour) führt, die die geltenden Werte und Normen der Aufnahmegesellschaft untergraben (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1952(3), 374; 1953, 177). Durch die Institutionalisierung der Rollenerwartungen und der Verhaltensweisen im Alltag findet eine allmähliche Umformung (transformation) des gesamten Verhaltens und der gesamten sozialen Beziehungen der Immigranten statt (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1953, 169).

b) Anpassung der Immigranten an die Anforderungen der Aufnahmegesellschaft (satisfactory and integral personal adjustment of immigrants)

Die Immigranten müssen in ihrem Anpassungsprozess mit Schwierigkeiten rechnen, nicht weil ihnen die Bereitschaft zur Anpassung fehlt, sondern weil ihnen die Chancen für diese Anpassungsleistung verweigert werden können. Ihre soziale und gesellschaftliche Anpassung hängen somit entscheidend von der Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft ab, ihnen die notwendigen Opportunitäten zur Anpassung zu eröffnen. Für Shmuel Eisenstadt ist die Ausweitung sozialer Interaktionen und Partizipationen über die Primärgruppenbeziehungen hinaus, d.h. über die Grenzen sozialer Gruppen hinaus, die nur auf der Grundlage verwandtschaftlicher und ethnischer Affinitäten gebildet werden, eine der wesentlichen Voraussetzungen für die erfolgreiche „absorption“ in die Aufnahmegesellschaft (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1951, 223). Nach seiner Auffassung schaffen erst solche ausgeweiteten sozialen Interaktionen und Partizipationen die Grundlage dafür, eine Kompatibilität zwischen den Werten der Immigrantengruppe und denen der Aufnahmegesellschaft herzustellen. Erst auf der Grundlage solcher Wertkompatibilität kann es möglich sein, das gestörte Selbstkonzept der Immigranten (the immigrant's concept of himself) zur Stabilisierung ihrer Persönlichkeit neu zu organisieren. Die erfolgreiche individuelle Anpassung in dem hier dargestellten Sinn wird damit zu einer Grundvoraussetzung der „absorption“ (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 9).

Gleichzeitig wird deutlich, dass die Immigranten nur dann ihre sozialen Interaktionen und Partizipationen ausbauen und diese über die Grenzen ihrer Primärgruppe hinaus ausdehnen können, wenn die Aufnahmegesellschaft dies zulässt. Da dies nicht selbstverständlich ist, sind die Anpassungsbemühungen oft mit persönlichen Frustrationen verbunden, die zur verstärkten persönlichen Desorganisation (personal disorganization; z.B. psychische Störung, geistige Erkrankung, Kriminalität, Selbstmord) führen können.

c) Eindringen der Immigranten in die institutionellen Sphären der Aufnahmegesellschaft und Verschmelzung (institutional dispersion of immigrants)

Mit dem von Shmuel Eisenstadt häufig gebrauchten Begriff „dispersion“ ist ein typischer Prozess der Verschmelzung gemeint, in dem die Immigranten in die verschiedenen institutionellen Sphären der Aufnahmegesellschaft so eidringen, dass sie letztlich ihre separate ethnische Gruppenexistenz und -identität verlieren. Ihre separatistische Tendenz und Gruppenidentität aufgrund der Konzentration in bestimmten institutionellen Sektoren werden als Zeichen mangelnder „absorption“ gedeutet (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 13). Ihre vollkommene Absorption (full absorption) ist dann erreicht, wenn sie ihre Gruppenidentität restlos abgelegt haben (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 13).

Der zentrale Begriff „absorption“ in der Migrationstheorie von Eisenstadt ist inhaltlich verwandt mit dem Begriff der Assimilation, der einen sehr langwierigen, oft mehrere Generationen andauernden Eingliederungsprozess der Immigranten in die Aufnahmegesellschaft zum Ausdruck bringt. „Dispersion“ meint den Prozess der Eingliederung, in dem die Immigranten in die verschiedenen institutionellen Bereiche der Aufnahmegesellschaft (z.B. Politik, Wirtschaft, Kultur) so eindringen und damit verschmelzen, dass sie ihre mitgebrachte ethnische Gruppenidentität verlieren und schließlich zur vollkommenen Absorption gelangen.

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