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VIER

DER JUNGE MANN stellte den Koffer ab und sah auf den Zettel, ob er sich auch nicht verlaufen hatte, aber die Anschrift stimmte: Soldiner Straße 89, zweiter Hinterhof. Sein möbliertes Zimmer lag also in einer Gegend, die er früher unter allen Umständen gemieden hätte. Doch er war gezwungen, sein Geld zusammenzuhalten. Und wenn das bedeutete, dass er ab sofort bei den Ratten wohnen musste, dann war das eben so. Er konnte es nicht ändern. Noch nicht.

«Du liebe Zeit, wie riesig der ist!» Charlotte legte den Kopf, so weit es ging, in den Nacken und hielt die Hand über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.

«Deshalb ham se den wohl ooch ‹Langer Lulatsch› jenannt», mutmaßte Mina beim Blick auf den wahrhaft imposanten Berliner Funkturm.

Dieser war am 3. September bei sommerlichen Temperaturen um 25 Grad nach zweijähriger Bauzeit endlich eingeweiht worden.

Charlotte hatte Mina gefragt, ob sie mit ihr und Konrad, der inzwischen wieder aufgetaucht war, über die Funkausstellung schlendern und sich bei dieser Gelegenheit auch den Turm anschauen wollte.

Mina sagte gerne zu, hatte aber die Funkausstellung ziemlich langweilig gefunden. Die Messe fand zum dritten Mal statt, und es wurde auch in der Presse ein ziemlicher Wirbel darum veranstaltet, den sie überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Es waren vornehmlich Röhrenempfänger zu sehen sowie Kopfhörer von vielen verschiedenen Herstellern, für die Konrad Brause ein ausgeprägtes Interesse zeigte. Was sollte nur so gut daran sein, die Musik direkt in die Ohren zu bekommen? Mina hörte gerne hin und wieder Radio zur Unterhaltung während der Hausarbeit, bei der sie Charlotte zur Hand ging. Das war das mindeste, was sie für die Freundin tun konnte als Dank dafür, dass diese sie kostenlos bei sich wohnen ließ. Doch mit einem Kabel wäre sie dabei nicht einmal vom Radioapparat bis zum Küchentisch gekommen. Außerdem hätten sie sich dann auch nicht mehr unterhalten können.

Ob es nun die Kopfhörer waren oder die schlechte Luft in den Messehallen, Mina war es immer schwerer gefallen, ihr Gähnen dezent hinter vorgehaltener Hand zu verstecken, und Charlotte ging es ganz offensichtlich genauso. Sie war heilfroh, als sie die schmucklosen Räumlichkeiten verließen und wieder an die frische Luft kamen.

Der imposante Funkturm thronte mitten auf dem Messegelände und war weithin zu sehen. Sechshundert Tonnen Stahl waren dafür verarbeitet worden, hatte Mina in der Zeitung gelesen. Das Gebilde sollte fortan als Mittelwellensender für Radioprogramme dienen. Unterhalb des Sendemastes war eine verglaste Aussichtsplattform angebracht, und auf halber Höhe befand sich ein Restaurant. In dieses Restaurant wollte Konrad Brause Lotte und Mina einladen.

Doch je länger Mina nach oben sah, umso mulmiger wurde ihr bei dem Gedanken, in einen engen, wackeligen Fahrstuhl zu steigen und keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben.

«So, dann lasst uns mal hochfahren!», sagte Charlotte schließlich energisch und schob Mina und Konrad in Richtung Funkturm.

Mina ließ sich jedoch nicht schieben. «Lotte, bitte sei mir nich böse, aber ick kann da nich ruff. Ick hab jedacht, et wär nich mehr so schlümm, aber ick bin sicher, ick halte den Weech nach oben nich aus, wenn ick det hier sehe.» Bei dem Gedanken daran, wie hoch alles erst von oben aussehen würde, wenn sie sich doch hier unten schon gruselte, wurde ihr beinahe schwindelig.

«Mina, du siehst ja käseweiß um die Nase aus. Hast du Höhenangst?»

«Ick gloob schon. Uff so wat Hohem war ick ja bisher noch nie. Bitte, lasst mich hier unten! Wir machen een andermal wat Schönet zusamm. Aba bitte nich da hoch!» Mina machte kugelrunde Augen, zog die Stirn in Falten und gab insgesamt ein ziemlich jämmerliches Bild ab.

«Beruhige dich doch! Wir müssen da nicht hoch. Wir bleiben unten und gehen woandershin. Nicht wahr, Konrad? Das macht dir doch auch nichts aus, oder?»

Aber Mina wehrte ab. «Ick weeß doch, wie ihr euch druff jefreut habt. Jeht ohne mir hoch! Mir macht det nüscht. Ick hab det Ding jetz von Nahem jesehn, und det reicht. Ick koof ’ne Ansichtskarte für meene Familje, und denn fahr ick nach Hause und machet mir ’n bissken jemütlich.»

Charlotte wollte protestieren, aber Mina versicherte ihr, dass es ihr wirklich nichts ausmachen würde.

Konrads Protest war ohnehin verhaltener ausgefallen. Er war vermutlich froh, seine Lotte wieder für sich zu haben, so selten, wie sie Zeit füreinander hatten.

«Gut, aber pass auf dich auf!», sagte Lotte.

«Ja, Mutti!» Mina lachte. «Hör ma, ick bin ja nich zum ersten Mal alleene in Berlin untawegs.» Sie winkte den beiden zu, als sie in den Fahrstuhl einstiegen, und winkte noch, als sich die kleine Kabine schon nach oben in Bewegung gesetzt hatte. Doch beim Hochschauen ergriff das Schwindelgefühl erneut von ihr Besitz, und sie schwankte ein wenig. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.

«Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein? Sie sind ja vollkommen bleich.»

Mina ließ es geschehen, dass der Mann sie zu einer Parkbank führte, die am Fuße des Funkturms stand, und sie mit Nachdruck darauf platzierte.

Der Unbekannte öffnete seine Aktentasche und holte eine Thermoskanne heraus. In den Deckel, der gleichzeitig als Becher diente, goss er etwas ein und reichte es Mina. «Kräutertee», sagte er. «Der wird Ihnen auf die Beine helfen.»

Der Tee war nur lauwarm, aber er tat gut. Auch dass sie sitzen konnte und sich jemand um sie kümmerte, half viel.

«Danke. Det war sehr nett von Ihnen.» Mina gab den leeren Becher zurück.

«Keine Ursache! Stammen Sie aus Berlin?»

«Wieso?»

«Sie reden so.»

«Nee, ick komm aus der Lausitz. Aber wir könn’ ooch keen Hochdeutsch.» Mina verzog das Gesicht. Es war ihr ein bisschen peinlich, dass sie auf einen so offensichtlich kultivierten Mann den Eindruck einer Berliner Rotzgöre machte.

«Das ist doch charmant, mein Fräulein.» Der Mann lächelte sie an und fixierte sie mit seinem Blick. «Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Gestatten, Emil Weinhaus.» Er lüpfte leicht den Hut.

«Ick bin Wilhelmina Kowalewski.»

«Entzückender Name! Sie haben wohl kaisertreue Eltern gehabt?»

«Zumindest ham wir Kaiser Wilhelm mal bei einer Parade Unter den Linden jesehn, als ick noch kleen war.» Mina musste kurz an die Propellerschleifen denken und an das Familienphoto, das ihren gefallenen Bruder zeigte. Berlin riss alte Wunden wieder auf.

Sie kamen ins Plaudern.

«Waren Sie auf der Funkausstellung, Fräulein Mina?»

Die Art, wie er Fräulein Mina zu ihr sagte … Das klang ganz sanft, und es gefiel ihr. «Ja, ick war mit meener Freundin und iam Verlobten da. Die sind jetzt beede da oben.» Sie deutete auf das Funkturmrestaurant, ohne jedoch hoch zusehen.

Das tat jedoch Herr Weinhaus.

Mina plapperte unterdessen weiter darüber, wie langweilig die Messe gewesen sei mit all den Radios und Kopfhörern.

«Ich bin ja nicht so fürs Radio», erwiderte Weinhaus. «Ich bin ein Mann der Bücher.» Er klopfte auf seine Aktentasche und deutete auf ein kleines Köfferchen, das Mina zuvor entgangen war. «Im Grunde bin ich unterwegs zu einer Buchhandlung, der ich einige Neuerscheinungen vorlegen wollte. Doch nun hat mich der Hunger gepackt. Wäre es sehr aufdringlich von mir, wenn ich Sie zu einem kleinen Imbiss einladen würde?» Seine blauen Augen ruhten auf ihr.

Mina war nicht sicher, ob sich das eigentlich schickte. In Bückgen wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, seiner Bitte nachzukommen. Aber in Berlin? Da fiel es womöglich nicht weiter auf. Und Hunger hatte sie obendrein. Das hatte sie vorher gar nicht bemerkt, doch jetzt knurrte ihr Magen wie auf Kommando ziemlich undamenhaft. Sie lachte. «Solange wir den Imbiss nicht dort oben einnehmen müssen, soll es mir recht sein.» Dann hob sie scherzhaft drohend den Zeigefinger: «Aber nicht, dass Sie glauben, ich hätte so etwas schon einmal gemacht!»

Er fuhr mit ihr ins Café Möhring am Kurfürstendamm. Die imposanten Gebäude beeindruckten Mina stets auf Neue: der Gloria-Palast nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, das Nelson Theater, in dem Josephine Baker aufgetreten war und offenbar ganz Berlin mit dem Charleston-Virus angesteckt hatte, das Romanische Café, in dem sich Künstler, Schauspieler und Literaten trafen, sowie das Marmorhaus, ein weiterer Lichtspielpalast. Hier fühlte Mina sich lebendig.

Im Café saßen sie einander gegenüber, jeder an einem Fensterplatz. Der Kuchen war köstlich, und die Aussicht auf die vorbei flanierenden Damen und Herren im Sonntagsstaat war unterhaltsam.

«Se ham jesacht, Se sinn Vertreter für Bücher?»

«Bücher sind mein Leben. Und Sie? Lesen Sie auch?»

«Wahnsinnich jerne! Zu Hause hatt ick einje Bücher, die hab ick immer und immer wieder jelesen. Damals hatt ick aber ooch noch mehr Zeit», setzte sie hinzu.

«Was lesen Sie denn am liebsten?» Er sah sie forschend an. Mina errötete leicht. «Det sag ick lieber nich.»

«Oh, Sie müssen sich nicht zieren.» Weinhaus bückte sich und öffnete das Köfferchen. Anschließend tauchte er mit drei Büchern in der Hand über der Tischkante wieder auf.

Belladonna. Ein Liebesroman, las Mina, dann Der Weg durch die Nacht und Van Zantens glückliche Zeit. Ein Liebesroman von der Insel Pelli. Sie lächelte. «Sie ham mir erwischt.»

«Dachte ich es doch.»

«Ick mag Liebesromane. Janz besonders jern les ick Jane Austen. Stolz und Vorurteil hatte meene Mutter noch und hattet mir jejeben.»

«Jane Austen hat auch außergewöhnliche Dinge geschrieben – aber keine reinen Liebesromane. Also müssen Sie sich nicht mal schämen. Obwohl es da, streng genommen, ohnehin nichts zu Schämen gibt, Fräulein Mina.»

Da war es wieder: Fräulein Mina. Es klang schon irgendwie vertraut.

Als sie sich ansahen, lag eine lauernde Spannung zwischen ihnen, die jedoch abrupt von Weinhaus unterbrochen wurde, als er den Kellner um die Rechnung bat. «Das schenke ich Ihnen», sagte Weinhaus, als der Kellner wieder gegangen war, und legte ein Buch vor Mina auf den Tisch. «Es ist soeben auf Deutsch erschienen und scheint sehr vielversprechend zu sein. Ein Liebesroman, leicht lesbar und doch spannend.»

Mina sah ungläubig auf Der Weg durch die Nacht von John Knittel. «Das kann ich doch nicht annehmen.»

«Selbstverständlich können Sie! Es ist mein Dankeschön für unsere nette Unterhaltung.»

«Sie ham doch schon den Kuchen bezahlt.»

«Dann betrachten Sie es als Arbeitsaufgabe!»

Mina sah ihn fragend an.

«Sie lesen das Buch und sagen mir, was Ihnen daran gefallen hat und was nicht. Dann kann ich sozusagen mit einer Buchbesprechung aus erster Hand zu den Buchhändlern gehen.» Er lächelte.

Mina wollte schon zustimmen, zögerte dann jedoch. Weinhaus schien zu wissen, was sie sagen wollte. «Dazu müssten Sie sich jedoch überwinden, mich noch einmal wieder zusehen.» Mina spürte, wie die Röte langsam ihr Gesicht empor wanderte. Das kostet doch keine Überwindung, dachte sie. Wenn ich nur wüsste, ob sich das schickt. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass es gleichgültig war, ob es sich schickte oder nicht. Es musste ja niemand erfahren. «Einverstanden!», sagte sie schließlich.

«Dann würde ich mich aufrichtig freuen, wenn wir uns in einer Woche hier wieder um fünfzehn Uhr treffen würden. Können Sie das einrichten?»

Auf dem Nachhauseweg war Mina sehr damit beschäftigt, ihre Hände ruhig zu halten, die ohne Unterlass zitterten, als hätte sie nicht nur eine Tasse Kaffee getrunken, sondern fünf. Zugegeben, der Kaffee war kräftig gewesen, das war sie nicht gewohnt. Doch das Zittern kam auch aus ihrem Herzen. Das ist inzwischen der zweite Mann, der mich um ein Wiedersehen bittet, dachte Mina. Ob es im Leben wohl immer so weitergehen würde? Sie umklammerte das Buch, las aber noch nicht darin. Es war zu kostbar, um es im Omnibus oder der Bahn zu entweihen, die voller Menschen waren, die nicht zu würdigen wüssten, welchen Schatz sie bei sich trug.

Die U-Bahn mied sie heute, sie fühlte sich nicht danach, im dunklen Tunnel unterwegs zu sein. Dann dachte sie plötzlich an Siegfried, und das schlechte Gewissen drohte, sie zu übermannen. Gleichzeitig fragte sie sich, womit er diese Rücksichtnahme überhaupt verdient hatte. Schließlich hatte er Mina verlassen und nicht umgekehrt. Aber sie konnte ihn einfach nicht vergessen.

Mina schaute aus dem Fenster. Bei dem schönen Wetter schienen fast nur Liebespaare unterwegs zu sein. Einige hielten sich an den Händen, einige wagten dies nicht und beschränkten sich auf verzehrende Blicke. So viele Menschen, die einander liebten! Trauerte sie Siegfried vielleicht völlig umsonst hinterher? Gab es die wahre Liebe überhaupt? Oder war dies nur eine Illusion hoffnungsloser Romantiker, die nicht wahrhaben wollten, dass man mit jedem Menschen zusammenleben konnte, wenn man nur halbwegs ähnliche Interessen hatte?

Sie stand auf, damit sie an der nächsten Station aussteigen konnte, und überlegte, ob sie ein Beispiel fand. Natürlich! Ihre Eltern waren doch so ein Fall. Die beiden behandelten einander stets mit Respekt. Doch solange sie denken konnte, hatte Mina sie niemals händchenhaltend oder sich eng umschlungen küssend gesehen. Mina erinnerte sich an den Tag, als sie ihre Mutter einmal fragte, ob sie verliebt in ihren Vater sei. Die Mutter wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und sagte, Liebe wäre purer Luxus. Mina war damals zu klein, um die tiefere Bedeutung der Worte zu verstehen. Was sie jedoch verstand, war, dass sie nicht weiter nachfragen sollte. Doch inzwischen begann sie zu erahnen, was hinter den Worten ihrer Mutter stecken mochte. Wer weiß, ob sie an Siegfried nicht nur so hing, weil er der Erste gewesen war, der Interesse an ihr gezeigt hatte. Und mit Emil Weinhaus hatte sie sich ja immerhin sehr gut unterhalten. Das war doch durchaus ein Anfang. Alles Weitere sollte sie einfach abwarten.

Die Straßenbahn hielt, und sie ging den Rest bis zu Charlottes Wohnung zu Fuß. Charlotte wollte sie von ihrer Begegnung mit Emil Weinhaus vorerst nichts erzählen. Mina wollte sich erst einmal selbst über alles klarwerden.

FÜNF

DER BESUCH BEI MARTHA EBELING war nicht angenehm. Das Photo, das die Frau Kappe überreichte, war erst wenige Monate alt, und es fiel ihm nicht schwer, darauf sofort die Ähnlichkeit mit der Toten aus der Chausseestraße zu entdecken. Trotz allem musste er die Frau bitten, die Tote zu identifizieren.

Sie wollte es schnell hinter sich bringen, und so fuhren sie direkt ins Leichenschauhaus. Martha Ebeling brach unmittelbar neben dem Leichnam ihrer einzigen Tochter zusammen und wurde anschließend in die Charité gefahren.

Nun konnte als gesichert gelten, dass es sich bei der Toten tatsächlich um Anna Ebeling handelte, geboren am 2. Januar 1906. Kappe fügte diese Angaben der Akte hinzu.

Er blätterte in den wenigen Seiten herum. Da bisher niemand sachdienliche Hinweise geben konnte, mussten sie sich auf das konzentrieren, was bis dato feststand. Sie würden die Freunde und Bekannten Annas befragen müssen. Sobald die Mutter wieder ansprechbar war, müssten sie sich deren Namen und Adressen geben lassen. Und sie mussten dringend herausfinden, wer Arthur Brause eigentlich war und wo er sich aufhielt.

Kappe seufzte ein wenig zu laut, verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er schloss kurz die Augen, öffnete sie jedoch sofort wieder, da ihm sogleich das Bild der geschändeten jungen Frau vor Augen stand. Er nahm noch einmal das Photo zur Hand, das Martha Ebeling der Polizei überlassen hatte, und starrte minutenlang darauf. Anna Ebeling hatte frappierende Ähnlichkeit mit Klara, wie sie damals aussah, als er und sie noch in Wendisch Rietz lebten. Wenn er sich vorstellte, dass jemand seiner Klara so etwas angetan hätte… oder es womöglich noch tun würde! Man konnte ja nicht wissen, auf welche Ideen so ein Serienmörder kam, wenn man ihn nur lange genug morden ließ. Hermann Kappe wurde es schlagartig kalt.

Er suchte im Telefonbuch nach Arthur Brause. «Ich kriege dich!», murmelte er verbissen. Er griff zum Telefon, wählte interne Nummern und wies Galgenberg und von Grienerick an, alle Männer mit Namen Brause ausfindig zu machen. Zunächst sollten sie sich auf Berlin beschränken, doch wenn sie dort niemanden finden konnten, der der Gesuchte sein könnte, sollten sie sich auch das Umland vornehmen. Er ignorierte, dass sowohl von Grienerick als auch Galgenberg bei dem Auftrag tiefe Seufzer ausstießen. Doch es half alles nichts. Irgendwo mussten sie ja ansetzen. Vielleicht stießen sie wenigstens auf jemanden, der mit der Bestie verwandt war oder etwas Brauchbares wusste. Er selbst würde mit einem Zeichner zu Heidelinde Fuchs gehen, um ein Phantombild von diesem Arthur Brause anfertigen zu lassen. Dann hätte er etwas zur Hand, das er in der Umgebung des Tatorts herum zeigen konnte. Auf jeden Fall kam eine Menge Arbeit auf sie alle zu.

Mina war früh aufgebrochen an jenem Tag, denn sie wollte sich erkundigen, ob die Stelle bei den Mudrack-Eiswerken noch frei wäre, aber nicht ausgerechnet während der Mittagspause dort erscheinen.

Sie hatte wieder schlecht geschlafen, und das lag nicht nur daran, dass ihr der Herr Weinhaus einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Das schmale braune Sofa, auf dem sie nächtigte, war durchgesessen und hatte auf Höhe ihrer Lendenwirbel eine Kuhle gebildet. Der Rücken tat ihr nach dieser Nacht besonders weh, und somit stand fest, dass sie nun tatsächlich so schnell wie möglich einen anständigen Schlafplatz benötigte. Und den bekam sie nur, wenn sie Arbeit fand.

Die U-Bahn hatte sie zur Seestraße gebracht. Sie musste sich an dieses quietschende Ungetüm erst gewöhnen. So viele Menschen standen dichtgedrängt in den Waggons. Sitzplätze waren hinter der stehenden Masse nur zu erahnen. Nun bereute Mina, dass sie so früh aufgebrochen war. Später am Vormittag wären die meisten Leute bereits an ihrer Arbeitsstelle gewesen, und sie hätte nicht auf Tuchfühlung mit schwitzenden Fremden gehen müssen. Eigentlich hätte sie die zweieinhalb Stationen auch laufen oder gleich die Straßenbahn nehmen können, aber sie hatte gehofft, auf diese Art ein wenig schneller zu sein.

Ein Mann schubste sie am Bahnhof Schwartzkopffstraße aus dem Zug, als er sich an ihr vorbei drängeln wollte.

Voller Panik sah sie zu, dass sie wieder in den überfüllten Waggon hineinkam. Sie war froh, dass sie überhaupt herausgefunden hatte, wo sie aussteigen musste. Da wollte sie nicht auf halber Strecke verlorengehen.

Als Mina die Endstation am U-Bahnhof Seestraße erreichte, lief sie, so schnell die drängenden Massen es erlaubten, nach oben an die frische Luft. Sie fühlte sich, als hätte sie während der gesamten Bahnfahrt die Luft angehalten, und atmete einige Male tief durch, bevor sie sich daranmachte, die Straßenbahn ausfindig zu machen, die sie zum Ziel bringen würde. Sie fragte einige Passanten und kam schließlich glücklich in einem Omnibus zu sitzen, der nicht so überfüllt war wie die U-Bahn.

Am Schäfersee stieg sie aus. Der See war beinahe kreisrund, als hätte ihn jemand künstlich angelegt. Der Kontrast zu den rechteckigen Eisteichen der Mudrack-Werke war beeindruckend. Mina lief daran entlang über den Hof der Firma, auf dem geschäftiges Treiben herrschte. Männer in grauer Arbeitskleidung und mit Kiepen auf dem Rücken beluden Transportwagen mit eingewickelten Eisblöcken. Sie lief an ihnen vorbei, nicht ohne einige anerkennende Pfiffe zu ernten, die sie jedoch nicht beachtete. Zu Hause in Bückgen hätte sie sich umgedreht und den Bengels die Zunge herausgestreckt.

Schließlich gelangte sie an ein Gebäude, über dessen Eingang ein weißes Emailleschild in schwarzer Frakturschrift verkündete, dass dort das Bureau zu finden war. Sie verlangsamte ihre Schritte. Wer war sie denn, dass sie einfach unangemeldet hier erscheinen konnte? Würde man sie nicht sofort abweisen? Sicher war die Stelle längst vergeben. Dann rief sie sich innerlich zur Ordnung. So zurückhaltend kannte sie sich nämlich gar nicht. Offenbar schüchterte diese große Stadt sie mehr ein, als sie erwartet hatte. Sie nahm sich vor, dringend etwas daran zu ändern, und wollte gerade anklopfen, als jemand sie von hinten ansprach.

«Kann ich Ihnen helfen, Frollein?»

Mina hatte gar nicht bemerkt, dass ein älterer Herr hinter ihr die Treppe hinaufgestiegen war, während ihr das Herz bis zum Hals geklopft hatte. «Ick… ich komme wejen der Stellenanzeige.» Ein wenig unkontrolliert wedelte Mina mit der Zeitungsseite herum, die Charlotte ihr mitgegeben hatte.

Der Mann nahm sie ihr aus der Hand und überflog die angestrichene Anzeige. Dann sagte er: «Die Stelle ist bereits vergeben.»

Es gelang Mina nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Der ältere Herr lächelte und gab ihr die Zeitung zurück. «Na, na, Mädchen, lassen Sie nur den Mut nicht sinken! Kommen Sie doch erst einmal mit hinein!» Der Mann stellte sich als Anton Mees vor, derzeitiger Geschäftsführer der Eisfabrik Mudrack. Er reichte Mina die Hand.

Sie musste die Zeitung erst in die andere Hand wechseln, um den Gruß er widern zu können, und ließ sie dabei beinahe zu Boden fallen. «Wilhelmina Kowalewski.»

«Sie sind nicht von hier, was?»

«Wie kommen Sie darauf, Herr Mees?»

«Sie sehen so anständig aus.» Er deutete auf ihre Zöpfe. «Nicht wie die meisten Mädchen heutzutage, die sich ihre Haare kurz schneiden lassen und nächtelang Charleston tanzen.» Anton Mees seufzte, lächelte aber dabei. «Ich habe eine Tochter. Dürfte in Ihrem Alter sein.» Er musterte Mina noch einmal. «Sagen Sie mal, können Sie denn auch kochen?»

Ach herrje, dachte Mina. Vor dem Kochen habe ich mich ja bei Muttern immer schon gedrückt. Doch sie nahm ihren Mut zusammen und sagte keck: «Jeder kocht anders!»

Anton Mees lächelte. «Wir suchen schon länger ein Mädchen für alles. Nicht hier für die Firma, sondern zu Hause bei meiner Familie. Unsere Erna, die bei uns in der Mädchenkammer wohnte und sich ums Kochen und Putzen kümmerte, ist uns vor einigen Monaten weg geheiratet worden, und wir konnten noch keinen gleichwertigen Ersatz finden.»

Mina knüllte die Zeitung in ihrer Hand. «Meinen Sie, dass ich… Soll ich, ich meine, darf ich?»

«Es käme auf einen Versuch an, junges Fräulein. Meinen Sie nicht? Kommen Sie doch heute Abend zum Essen zu uns! Dann können Sie meine Frau und meine Tochter kennenlernen, und wir besprechen die Formalitäten.»

«Gerne, das tu ich gerne.» Minas Gedanken schlugen Purzelbaum. Wieso wiederholst du dich andauernd, dumme Gans? Er denkt sonst noch, du hättest den Job so bitter nötig. Aber das hab ich doch auch, berichtigte sie sich selbst. Ich will es in Berlin zu etwas bringen!

Anton Mees, der glücklicherweise nicht in ihren Kopf schauen konnte, schrieb ihr die Adresse auf. «Neunzehn Uhr! Wir erwarten Sie!»

Mina sah ihn an und strahlte wider Willen. Dann las sie, dass das Haus in der Ruppiner Chaussee in Berlin-Heiligensee lag. «Können Sie mir bitte sagen, ob dort eine Bahnstation in der Nähe ist oder welchen Bus ich nehmen muss? Ich bin nämlich noch nicht sehr lange in der Stadt.»

Er nahm ihr den Zettel aus der Hand und schrieb S-Bahnhof Schulzendorf dazu. «Von dort müssen Sie noch ein paar hundert Meter nach rechts laufen. Die Hausnummer ist gut zu lesen. Sie können es gar nicht verfehlen.»

Sie verabschiedeten sich, und Anton Mees hielt Mina die Tür auf. Als Mina draußen stand, schien die Sonne ein wenig heller.

Es gehörte nicht zur normalen Aufgabe eines Polizeibeamten, der Beisetzung der Opfer beizuwohnen. Kappe hatte jedoch die heimliche Hoffnung gehegt, der Mörder würde sich unter die Trauergäste mischen oder sich zumindest in der Nähe aufhalten. Also hatte er seinen schwarzen Anzug angezogen und war zum Dorotheenstädtischen Friedhof an der Liesenstraße gefahren.

Kappe mochte Beerdigungen nicht, aber Friedhöfe faszinierten ihn. Erstellte sich gerne die Menschen hinter den Namen und Geburtsdaten vor. Marie zum Beispiel, 1907 bis 1925. Weißer Grabstein, eingravierte Rose. Kein Nachname. Der Stein deutete darauf hin, dass die Eltern ein gewisses Vermögen besaßen. Zumindest war ihnen ihre Tochter einiges wert. Was war dem Mädchen passiert? War sie blond, dunkelhaarig, musikalisch, sportlich, dick, dünn? War sie an einer Krankheit gestorben, an einem Unfall? Mord schied aus, das hätte Kappe mitbekommen.

Das erinnerte ihn daran, weshalb er eigentlich an diesem Ort war. Zügig ging er in die Richtung, in der er die Friedhofskapelle vermutete. Auf dem Weg dorthin zog er ein Taschentuch heraus und tupfte sich die Stirn ab. Es war unglaublich, was Ende September für hoch sommerliche Temperaturen herrschten, nachdem der eigentliche Sommer eher durchwachsen gewesen war.

Schließlich hörte er Glockenläuten, ging auf das Geräusch zu und wartete vor der Kapelle, bis die kleine Trauergemeinde heraustrat. Die Tür öffnete sich, und die Orgelmusik, die Kappe zuvor nur leise gehört hatte, schwoll an.

Totengräber trugen den schlichten Sarg. Martha Ebeling lief hinterdrein, völlig aufgelöst und gestützt von zwei Frauen, die vermutlich ihre Schwestern waren, wie Kappe wegen der Ähnlichkeit mit Martha Ebeling vermutete. Dahinter ein sehr altes Ehepaar. Annas Großeltern? Vier Mädchen in Annas Alter. Kein weiterer Mann.

Kurz dachte Kappe darüber nach, dass der Mörder natürlich auch einer der Totengräber sein könnte. Die Tarnung wäre nahezu perfekt. Laut Dr. Kniehase war es so gut wie sicher, dass das Opfer vor dem Tod noch Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Die Möglichkeit, dass sie diesen mit ihrem späteren Mörder ausgeübt hatte, war ziemlich hoch. Und Lustmörder blieben gerne bis ganz zum Schluss in der Nähe ihrer Opfer. Dennoch war es unwahrscheinlich, denn alle Mädchen waren bislang auf einem anderen Friedhof beigesetzt worden. Kappe wollte lediglich keine Vermutung außer Acht lassen.

Nur dass es eine der Frauen oder Mädchen aus dem Trauerzug sein könnte, schloss Kappe kategorisch aus. Er traute keinem weiblichen Wesen solche bestialischen Morde zu. Und allem Anschein nach lauerte auch kein Finsterling hinter einem der angrenzenden Grabsteine.

Dass keiner der Totengräber auch nur annähernd Ähnlichkeit mit dem von Heidelinde Fuchs erstellten Phantombild hatte, konnte allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass die Angaben von Frau Fuchs sehr vage und widersprüchlich gewesen waren. Der Zeichner war beinahe verzweifelt, weil er immer wieder wegradieren musste, was Frau Fuchs kurz zuvor noch als richtig empfunden hatte. Am Ende hatte das Phantom beinahe wie ein Ebenbild von Kappe ausgesehen. Trotzdem hatte Kappe die Zeichnung den Nachbarn gezeigt und sie in angrenzenden Lokalen herumgereicht. Niemand konnte damit etwas anfangen, bis auf den Scherzkeks, der bereits vormittags eine halb leere Molle vor sich stehen hatte und ausrief: «Det sind doch Sie, Herr Kommissar! Rufen Se mal Ihre Kollejen, damit die Se festnehmen könn’!»

Kappe blieb nur so lange, wie es nötig war, um festzustellen, dass er den Weg umsonst gemacht hatte. Er hatte Frauen noch nie weinen sehen können, und diese massive Ansammlung schluchzender Weiblichkeit schlug ihn geradezu in die Flucht.

Auf dem Weg zur Friedhofspforte sah er sich noch ein wenig um. Vor einem großen Grabstein aus schwarzem Granit blieb er stehen. Der Steinmetz hatte ein Kunstwerk daraus gemacht. Unter einem muschelförmigen Halbkreis hielten zwei pummelige Engelchen einen großen Lorbeerkranz. Der Grabstein war in goldenen Lettern beschriftet:

Hier ruht in Gott

Rudolph Hertzog

*1815 †1894

Kappe wusste, dass hier die sterblichen Überreste des Kaufmanns lagen, der das Kaufhaus Rudolph Hertzog gegründet hatte. Dort hatte nämlich seine Klara gearbeitet, bevor die kleine Margarete geboren worden war.

Das gesamte Grab war mit einem Mäuerchen umgeben, das ebenfalls aus schwarzem Granit gefertigt war.

Da kann man sehen, wo das Geld steckt, dachte Kappe. Der Lohn, den Klara bekommen hatte, hätte sicher nicht einmal für ein anonymes Rasengrab ausgereicht. Aber so war das eben: Die einen schaufelten das Geld im Keller hin und her, damit es nicht schimmelte, und die anderen überlegten von einem Tag zum anderen, wie sie die Butter zum Brot bezahlen sollten.

Der nächste Grabstein, den er wahrnahm, war deutlich schlichter. Keine Engel, kein Gold. Der Stein war grau, und in schwungvollen Lettern war der Name Karl Friedrich Ferdinand von Brause eingemeißelt.

Der Brause verfolgt mich, dachte Kappe, und trotzdem bleibt er unsichtbar.

Galgenberg und von Grienerick hatten die ersten Herren dieses Namens schon verhört, aber das waren alles so alte Zausel.

Kappe entschuldigte sich in Gedanken für dieses Wort –, dass sie kaum in der Lage gewesen wären, die junge Dame mit solcher Brutalität umzubringen, geschweige denn den Geschlechtsverkehr mit ihr zu vollziehen. Außerdem ging er ja davon aus, dass der Mörder von Anna Ebeling auch die anderen beiden Mädchen auf dem Gewissen hatte. Kappe war der Ansicht, dass sie nach jungen, kräftigen Männern Ausschau halten mussten. Und zwar am besten nach solchen, die möglichst wenig Ähnlichkeit mit der Phantomzeichnung aufwiesen.

Mina durchsuchte ihren Koffer nach dem besten Kleid, das sie besaß. Viel zu durchsuchen hatte sie allerdings nicht, und das einzige Kleid, das nicht geflickt war, war ein sehr biederes Modell mit weißem Kragen.

«Minchen, so kannste nicht gehen! Das Kleid macht dich unnötig dick. Du sollst ja nicht aussehen, als wärste guter Hoffnung, wenn du bei deinem zukünftigen Arbeitgeber die Aufwartung machst. Warte mal!» Charlotte machte ihren Kleiderschrank auf und suchte einen blauen wadenlangen Rock heraus und eine schlichte weiße Bluse ohne Kragen. «Hier! Die Sachen müssten dir passen. Probier mal!» Sie legte Rock und Bluse über die Sofalehne und verließ den Raum.

Mina hörte sie nebenan in der Küche rumoren.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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231 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783955520083
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