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Strukturen geben Halt – Ordnungen, Pläne,
Rituale, Stereotypien

Autisten wirken oft rigide. Es muss sozusagen »immer alles nach ihrer Nase gehen«, damit sie sich wohlfühlen. Stereotypien, Ordnungen und Pläne bieten besonders autistischen Menschen Beständigkeit und Routine in einer sich ewig verändernden Welt. Sie wirken insbesondere vor dem Hintergrund, die zwischenmenschliche Kommunikation nicht nutzen zu können, wie ein lebenswichtiger Anker: »Wenn ich auch die Menschen nicht verstehe, so habe ich wenigstens mein Leben unter Kontrolle!«

Das ganze Leben enthält viele Bereiche, in denen ein Mensch Teil eines Systems ist. Die Familie, der Kindergarten, die Schule, der Arbeitsplatz und viele andere Gruppen mehr. Um Teil solcher Einheiten zu sein, ist man als Individuum Regeln unterworfen, die diese Gruppen selbst bestimmt haben und an die sich jeder anpassen soll. Fremdbestimmung ist jedoch der größte Feind autistischer Menschen. Um mit dieser klarzukommen, ist es unbedingt erforderlich, dem Autisten seinen eigenen Bereich zu lassen, in dem er sich stets vom Stress des Alltags unter Menschen auf seine Weise erholen kann. Und dazu gehören nicht nur Rückzugsräume, sondern auch und ganz besonders die Stereotypien, Pläne, Ordnungen und Rituale. Diese müssen mit dem Regelwerk der Gruppen, zu denen der Autist gehören will oder soll, zusammengeführt werden. Idealerweise sind sie Teil der Regeln, gegebenenfalls als Ausnahme.

Wie bei einem Felsen oder an einer Kletterwand sind es Stereotypien und vor allem die Strukturen, die es ermöglichen, sich dort zu verankern. Diese Strukturen geben den nötigen Halt, um sich im Leben zurechtzufinden. Sie dürfen somit nicht ohne weiteres entfernt werden. Daher werden Autisten ungehalten, wenn man sie beim Ausüben von Spezialinteressen stört oder deren Ausüben gar verhindern möchte.

Autistische Ordnungen und Rituale sind zum Teil für Außenstehende oft unsichtbar, und wenn sie doch erkannt werden, dann erscheinen sie aus Sicht vieler Menschen ungewöhnlich, wenn nicht sogar unsinnig. Dies kann zur Folge haben, dass die anderen Menschen, weil sie nicht wissen, wie der Autist wahrnimmt, welche Bedeutung etwas für ihn warum hat, gerne versuchen, ihm die Relevanz einer selbst definierten Struktur auszureden. Mit manchmal katastrophalen Folgen! Die wichtigste Botschaft ist zu diesem Thema: Man sollte niemals versuchen, einem Autisten etwas abzugewöhnen, was ihm Halt geben könnte, wenn dies weder ihn noch andere stört oder gar gefährdet.

Autisten sortieren zum Beispiel gerne Sachen, um Sicherheit und Kontrolle zu erhalten. Oder bestimmte Gegenstände müssen an bestimmten Stellen stehen. Als Kind stellte ich Matchbox-Autos nach bestimmten Kriterien auf. Und ich brachte immer ein violettes Matchbox-Auto mit in die Schule. Auch verbuddelte ich gerne Rohre im Sandkasten nach einem bestimmten System. Wehe, diese Systeme machte jemand anders kaputt! Dann ging zeitweise nichts mehr. Totaler Rückzug in mich selbst oder große Wut waren die Sofortfolgen. Weil ich eine Gedankenschleife hatte, wie ich wieder zu einer Ordnung kommen kann, die mich verankert.

Im Sortieren und anderen Strukturen allein ist jedoch noch kein autistisches Verhalten begründet! Denn das machen andere Menschen auch gerne. Erst bei einer Störung der durch einen Autisten geschaffenen Ordnung durch andere Menschen zeigt sich das autistische Verhalten. Wenn also eine Ordnung gestört wird und ein Mensch in Panik, Wut oder totalen Rückzug verfällt, dann könnte Autismus dahinterstecken!

Pläne dürfen ebenfalls nach Möglichkeit nicht abrupt gestört werden. Denn sie sind eine Ordnung zeitlicher Abläufe. Autisten mögen keine Überraschungen. Alles muss geplant sein. Und wehe, der Plan A geht schief! Wenn dann keine Ersatzpläne B, C, D, E oder F greifen können, meine im Laufe des Lebens entwickelte Gegenstrategie, geschieht das Gleiche wie beim Stören einer Sortierung: Wut, Frust, Chaos, totaler Rückzug, Schweigen können die Folgen sein.

Ein allzu rigides Festhalten an Strukturen kann aber dazu führen, dass der Autist sich selbst im Weg steht und seine eigene Weiterentwicklung so blockiert. Meistens ist ihm dies nicht einmal bewusst. Um sich hier zu öffnen, braucht es Zeit, Geduld und Verständnis. Jede Form von Druck verstärkt die Angst vorm Loslassen.

Stereotypien sind keine Zwänge

Eine bizarre Form autistischer Strukturen sind Stereotypien. Sie geben Halt auf der emotionalen Ebene. Bei jedem Autisten ist dieses Merkmal in der einen oder anderen Ausprägung zu finden. Autisten drücken ihre Gefühle nicht nur wie bei den meisten Menschen üblich durch Augen und Gesichtsmimik aus, sondern zum Beispiel mitunter ganzkörperlich bizarr. Weit verbreitet sind Jaktationen von Kopf und Körper, Zappeln, Manierismen und viele andere Ausprägungen mehr. Sie alle haben, auch wenn es auf den ersten Blick nicht diesen Anschein hat, eine Funktion. Durch diese Stereotypien werden Gefühle und Gedanken verarbeitet. Freude kann sich dabei zum Beispiel in bizarren Tanzfiguren und wilden Zappeleien manifestieren.

Körperliche Stereotypien, sogenanntes »Stimming«, können verschiedene Formen annehmen, je nach Emotion, die sie darstellen.

Bei mir gibt es das »Abzappeln« als ein »Stimming«, als körperliche Stereotypie. Bizarre Bewegungen des ganzen Körpers. »Der flattert wie ein Vogel«, nannten es andere, die es sahen, wenn ich mich freute. Und als die Putzfrau eines Tages unangeklopft mein Büro betrat, kommentierte sie das Gesehene mit der Frage: »Soll ich einen Arzt holen?« Dabei habe ich nur auf meine Weise abgefeiert, dass ich eine schwere dienstliche Aufgabe ganz gut gelöst hatte. Ich zeigte die Emotion der ekstatischen Freude. Nicht nur über das Gesicht, sondern ganzkörperlich hochfrequent. Entspannung pur! Vor allem körperliche Stereotypien zur Entspannung sind unter Autisten weit verbreitet. Manch einem mag dieses Verhalten gar nicht bewusst sein, das fällt dann zum Beispiel anderen Menschen erst auf.

Übrigens, früher machte ich den gleichen Fehler wie die Menschen, die meinen, Autisten hätten keine Gefühle. Weil ich nie jemanden sah, der wie ich selbst Freude ganzkörperlich ausdrückte, dachte ich, dass sich die armen Kreaturen, unter denen ich hier lebe, anscheinend nicht wirklich richtig freuen könnten, dass die Menschen also das Gefühl der ekstatischen Freude nicht kennen.

Stereotypien, die weder den Autisten noch andere stören oder gar gefährden, sind somit Teil des positiven Gefühlslebens. Jede Therapie, die zum Ziel hat, diese abzugewöhnen, gleicht einer Kastration der Persönlichkeit. Das hieße, dem Autisten das Ausleben eigener Gefühle zu beschneiden. Es wäre etwa damit zu vergleichen, einem Menschen bei Schmerz das Schreien oder angesichts einer lustigen Situation oder einem Witz das Lachen und damit seine Freude am Leben zu verbieten.

Macht man es dennoch, kann das Folgen haben, die man gar nicht haben wollte. Denn dann suchen sich die Gefühle andere Wege, die vielleicht noch weniger üblich und damit noch weniger gewollt sind. Denn Wasser, das sich von der Quelle den Weg zum Meer sucht, kann man nicht daran hindern. Baut man einen Damm, läuft irgendwann der Stausee über oder das Wasser findet einen anderen Weg.

In der Literatur und besonders in verschiedenen Medien ist im Zusammenhang von Stereotypien und Ordnungen immer wieder von einem »zwanghaften Verhalten« zu lesen. Autistische Stereotypien haben jedoch mit Zwängen oder Zwangsstörungen nichts zu tun. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge, die allerdings im Ergebnis für Außenstehende ziemlich ähnlich, wenn nicht sogar identisch aussehen können. Der Unterschied liegt im Innen, nicht im Außen. Bei einem Zwang leidet der Betroffene. Beim Ausleben einer Stereotypie erholt er sich zumindest, oft genießt er es sogar! Er sucht dabei die mit der Stereotypie einhergehenden, positiven Wohlgefühle. Das Befolgen eines Zwanges dagegen dient der Vermeidung negativer Gefühle, die man beim Nichtbefolgen des Zwanges ertragen müsste.

Beispiele für Stereotypien sind wiederkehrende Handlungen, die der Schaffung von Freude, Sicherheit oder dem Stressabbau dienen, zum Beispiel körperliche, bizarre Bewegungen, Ordnungen von Gegenständen oder das Abreißen von Fingernägeln zur stillen Stressbewältigung, zum Beispiel im Bahnhof beim Warten auf einen Zug, der immer mehr Verspätung hat, sodass der Zusammenbruch des Reiseplans droht. Zwänge sind dagegen Handlungen, die krankhaft wiederholt werden müssen, zum Beispiel das mehrfache Überprüfen, ob eine Tür wirklich zu oder der Herd wirklich aus ist.

Eine weitere verbreitete Form der Stereotypien sind Spezialinteressen. Hierbei handelt es sich nicht, wie vielfach fälschlicherweise angenommen, um ein oder mehrere intensiv betriebene Hobbys oder Interessen, sondern um idiosynkratische, nonfunktionale, stereotype Beschäftigungen. Das bedeutet, dass die Details der Beschäftigung in keinerlei Sinnzusammenhang mit dem Ganzen stehen, sondern »nutzenfrei« allein dem Erlebnis und der Befriedigung und Verarbeitung von Gefühlen dienen.

Beispiele für autistische Spezialinteressen sind: Jemand hat Spaß daran, immer wieder alle Bahnhofsansagen zu wiederholen, ohne sich für den Bahnverkehr an sich zu interessieren. Oder jemand, der sich für die Statistik der Fußball-Bundesliga begeistert, ohne sich für Fußball zu interessieren. Oder jemand, der alle Fahrpläne auswendig kennt, ohne dass dies einen konkreten Zweck zur Nutzung hat. In all diesen Fällen gilt das Interesse allein der Befriedigung aus sich selbst.

Man findet im Internet eine Vielzahl von Beschreibungen von Beschäftigungen, die als Merkmale von Autismus »verkauft« werden. Aber es gibt sehr viele Menschen, die ihren Interessen intensiv nachgehen oder ihre Hobbys intensiv betreiben, ohne dass sie autistisch sind.

Wenn es tilt macht – Overload, Meltdown
und Shutdown

Blockierend wirkende Verhaltensmuster, die man im Zusammenhang mit der Beschreibung von Autismus-Spektrum-Störungen häufig findet, sind sogenannte Overloads, Meltdowns und Shutdowns. Sie sind eine direkte Folge der spezifischen Wahrnehmung autistischer Menschen, die in einem auf die Schnelle nicht lösbaren Konflikt mit der Verarbeitung des Geschehens in der Umgebung steht. Alle drei Muster können sowohl als Folge ihrer Wahrnehmung als auch im Zusammenhang mit den Herausforderungen auftreten, die sich ergeben, wenn erkennbare Erwartungen anderer im Widerspruch zu eigenen inneren Ansprüchen stehen und daher nicht oder nur mit erheblichem Stress erfüllt werden können.

Auch wenn Autismus keine Entschuldigung für »unangemessenes Verhalten« sein kann, gibt es doch einige Verhaltensweisen, die typisch und unangenehm sind. Es wird diskutiert, ob diese Teil des Autismus sind. Sie sind es per se nicht, aber sie sind oft eine direkte Folge der autistischen Wahrnehmung. Dass das so ist, zeigt die Vielzahl der Literatur, die auf dem Markt ist, die sich im Zusammenhang von Autismus dem »herausfordernden Verhalten« widmet.

Ein Overload ist eine Überflutung mit Informationen, die zum Beispiel als Folge einer Reizfilterschwäche auftreten kann, oder eine Konfrontation mit Anforderungen, die nicht zur Natur des Autisten passen. Hierbei geht es nicht um eine Überforderung in dem Sinn, dass eine übertragene Aufgabe zu anspruchsvoll sein könnte, sondern um eine Fehlforderung. So sind Autisten beispielsweise grundsätzlich nicht multitaskingfähig. Eine derartige, vom Autisten erkannte Erwartungshaltung anderer setzt ihn massiv unter Stress.

Auch ein Gequirl aus den unterschiedlichsten eigenen Gefühlen, die nicht sortiert werden können, löst einen emotionalen Reizstau aus, der als Overload gefühlt wird. Ein Overload stört das interne Gleichgewicht. Viele der typischen, über die Beziehungsproblematik hinausgehenden Alltagsprobleme autistischer Menschen hängen daher damit zusammen.

Ein Overload kann nur dann mit der Zeit enden, wenn man den Autisten, der sich in diesem Zustand befindet, schlicht und ergreifend so lange in Ruhe lässt, bis er wieder aufnahmefähig ist. Es kann sein, dass dafür einige Minuten reichen, es können aber auch Stunden und in besonders schweren Fällen sogar Tage sein, die das braucht!

So charakteristisch Overloads für Autisten sind, es muss ausdrücklich festgestellt werden, dass nicht jeder Mensch, der unter Overloads leidet, ein Autist sein muss. Der Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Overloads und dem Sein als Autist ist nicht bijektiv.

Ein Meltdown, das Dahinschmelzen, auch »Kernschmelze« genannt, ist ein verzweifelter Hilfeschrei infolge eines Seelenschmerzes, weil der Druck so groß ist, dass eine angemessene Kommunikation nicht mehr möglich ist. Es tritt ein Zustand emotionaler Überforderung ein, weil tiefgreifende Bedürfnisse akut bedroht sind. Dann kommt Panik auf. Die Kontrolle über das eigene Verhalten geht verloren.

Auslöser für Meltdowns sind beispielsweise nicht mehr kompensierbare Reizüberflutung, weil alles gleichzeitig einprasselt oder alle Menschen gleichzeitig was wollen, Frust, weil etwas nicht klappt, oder ein simples, aber strenges »Nein«, das willkürlich wirkt und auch noch im Widerspruch zu einer vom Autisten selbst gesteckten, mitunter unsichtbaren Regel steht.

Ein richtungsloser Wutausbruch ist eine Form, wie sich ein Meltdown zeigen kann. Er drückt in der Regel tiefe Hilflosigkeit und Verzweiflung aus, weil niemand eine gegebene Situation als problematisch für den Autisten begreifen will. Im günstigsten Fall schreit der Autist laut rum, gibt unschöne Worte von sich, im ungünstigsten Fall wirft er möglicherweise mit den Gegenständen um sich, die ihn umgeben oder sogar schon immer irgendwie mal genervt haben. Das Ausrasten infolge eines Meltdowns ist von einem zielgerichteten, manipulativen Wutanfall, der schlagartig aufhört, sobald ein konkretes Bedürfnis (z. B. »Ich will jetzt aber ein Eis!«) erfüllt wird, unbedingt zu unterscheiden.

Zum Spektrum der Meltdown-Folgen gehört auch selbstverletzendes Verhalten. Weit verbreitet ist das Schlagen mit dem Kopf gegen eine Wand. Letztendlich soll damit ein Schmerz ausgelöst werden, der alle anderen Schmerzen verzwergt und damit unfühlbar macht. Dies kann auch als eine Form von »Stimming« gedeutet werden, mit dem Ziel, sich selbst körperlich wahrzunehmen.

Der Anlass für einen Meltdown muss nicht eine Sache sein, die gerade eben passiert ist. Ganz im Gegenteil, oft handelt es sich um ein Aufstauen, ein stetiger Stresslevelanstieg, bis das »Stressfass« durch eine klitzekleine weitere Belastung überläuft. So wie ein Vulkan, der immer mehr unter Druck steht, bis er plötzlich und scheinbar unerwartet ausbricht oder kollabiert. So ein Zusammenbruch kommt dann für Außenstehende aus dem Nichts. Eben war die Welt noch vollkommen in Ordnung, plötzlich herrscht Chaos! Doch es waren in der Regel genug Anzeichen da. Diese werden jedoch in Unkenntnis des Umfeldes über die Zusammenhänge ignoriert oder fehlgedeutet. Meltdowns und Overloads, die plötzlich eintreten, kann man auch mit der Titration aus der Maßanalyse in der Chemie vergleichen. Da reicht ein einziger Tropfen, um die Farbe der Maßflüssigkeit ganz plötzlich von einer Farbe in eine andere Farbe umschlagen zu lassen. Wenn zum Beispiel morgens schon der Kamm nicht an der richtigen Stelle war, dann der Zug Verspätung hat, im weiteren Verlauf des Tages noch der PC spinnt, weil er hängt, dann reicht eine weitere Kleinigkeit, um den Stressvulkan zum Ausbrechen zu bringen. Impulskontrolle, so heißt hier das Zauberwort, ist aber nicht immer ganz einfach. Am besten weiß das Umfeld, wann es sich nicht noch stresssteigernd einmischen sollte, dann lassen sich viele Ausraster vermeiden. Meltdowns sind im Umfeld des Autisten gefürchtete Zwischenfälle. Solche Ausraster werden für andere zur Belastungsprobe. Aber anstatt deeskalierend tätig zu werden, mindestens aber neutral zu bleiben, reagiert das Umfeld oft kontraproduktiv.

Hier hilft es wenig, es macht es im Gegenteil nur noch schlimmer, wenn man als Außenstehender nach dem Motto »Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es auch wieder raus« verfährt und damit weiter eskalierend einwirkt. Allein passive Hilfe, Deeskalation, hilft hier weiter. Man muss als Außenstehender bereit sein, etwas zu geben, ohne eine konkrete Gegenleistung zu erwarten. Und das Beste, was man geben kann, ist Ruhe. Auf keinen Fall sollte man den Autisten in dieser Situation anfassen und schon gar nicht fragen, was denn los sei, wenn man die Antwort anschließend mit den Worten »Das ist doch nicht schlimm, nun stell dich mal nicht so an« oder ähnlich quittiert! Denn das ist absolut kontraproduktiv, bedeutet es aus Sicht des Autisten doch, dass der Außenstehende den Schmerz des Autisten nicht anerkennt und damit auch hier keinerlei Empathie für den Autisten zeigt. Das Allerbeste ist, abzuwarten.

Nur dann, wenn Gefahr für den Autisten selbst oder andere im Verzuge sein sollte, muss sofort eingegriffen werden. Als Notlösung käme ein Medikament zur Beruhigung infrage, aber das darf auf keinen Fall zur Dauerlösung in schwierigen Situationen werden. Denn mit einem Medikament schaltet man streng genommen nur die nervende Warnleuchte im Armaturenbrett aus, man beseitigt damit lediglich eine aktuelle Wirkung, aber nicht die eigentliche Ursache.

Während die Wahrnehmung an sich nicht therapierbar ist, kann man allerdings daran arbeiten, wie man mit der Wahrnehmung des Autisten umgeht. Dies muss allerdings präventiv geschehen, es ist sozusagen »zu spät« in einer bereits laufenden, konkreten Situation, wenn beispielsweise der »Wutvulkan« bereits ausgebrochen ist.

Auf keinen Fall darf man einen Autisten noch während des Meltdowns zu einem klärenden Gespräch zwingen, um erzieherisch über den Grund des Meltdowns zu sprechen. Das wäre ungefähr so, als wenn man jemandem, dem bereits kotzübel vor Essen ist, noch zwingt, etwas Vernünftiges zu essen. Das würde den Ablauf des Meltdowns nur verschlimmern. Man kann und sollte allerdings im Nachhinein die Situation aufarbeiten. Aber dann muss der Meltdown bereits überwunden sein.

Stimming kann während eines Overloads zur Selbstregulation eingesetzt werden, um einen Meltdown zu verhindern. Jeder kennt das, wenn er nervös ist, tut er irgendetwas, um die Nervosität zu beherrschen. Die einen füllen die Os in einem Text, andere wippen mit dem Stuhl oder spielen mit dem Bleistift. Die Stimming-Aktivitäten von Autisten sind mitunter bizarrer und intensiver als bei normalen Menschen. Typisches Stimming als eine Form von Stereotypien sind das Flattern mit den Händen, Wälzen des Körpers beim Einschlafen, Wackeln des Kopfes, wiederkehrende Laute von sich geben, in der Nase bohren und viele andere mehr.

Um eine Flut von Informationen und Sinnesreizen besser zu verarbeiten, könnte eine sensorische Integrationstherapie helfen. Hierbei wird der Patient mit verschiedensten Sinneswahrnehmungen konfrontiert und übt, diese harmonisch in sein Erleben zu integrieren. Außerdem hilfreich ist sicherlich eine Wut- und Frustrationstherapie, in der anhand praktischer Situationen Gelassenheit gelehrt wird. Dies darf dann aber nicht mit der klassischen Wahrnehmung anderer Menschen geschehen, sondern muss spezifisch auf die autistische Wahrnehmung abgestimmt werden. Verhaltensweisen, die zwar unüblich, aber nicht störend oder gar gefährlich sind, die aber dem Autisten helfen, Meltdowns zu verhindern, dürfen nicht wegtherapiert werden.

Ein Shutdown ist eine alternative Reaktion auf einen Overload. Er kann auch einem Meltdown folgen. Bei einem Shutdown macht der Autist sozusagen zu und lässt nichts mehr an sich ran. Der Autist ist nicht mehr ansprechbar. Sein Hirn hat sich unter der Last des Inputs sozusagen aufgehängt wie ein Computer, bei dem man alle möglichen Tasten drücken kann, der Bildschirm bleibt eingefroren. Da hilft nur noch ein Neustart, denn der Autist hat sich sozusagen abgeschaltet. Dieses Abschalten kann sich zum Beispiel durch Schaukeln oder stilles Sitzen in einer Ecke zeigen. Nicht enden wollendes »Stimming« kann ein Signal für diesen Zustand sein.

Wenn das Abschalten als passives Zeichen einer erdrückenden Fehlforderung deutbar ist, dann hilft warten, bis sich die Situation durch zeitliche Distanz entschärft hat.

In solchen Situationen ist die beste Hilfe instantan erst mal gar keine Hilfe, denn jede unüberlegte, spontane aktive Hilfe kann nur ein Verhelfen sein. Die einzige Hilfe ist passiv: abwarten, bis sich die Situation wieder beruhigt. Wenn man das beschleunigen will, hilft allein Deeskalation durch Verständnisbekundungen und dem echten Willen zu akzeptieren, was passiert ist.

Aggressiv und laut »Was ist denn los?« zu fragen, ist gar kontraproduktiv, wenn man nicht bereit ist oder in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen nicht in der Lage war, die gegebenen Antworten zu akzeptieren. Dann ist das Vertrauen erst mal zerstört, dass jemand wirklich helfen will und nicht eigene (manipulative) Interessen verfolgt.

Ein Abschalten kann auch heißen, dass das Hirn des Autisten mit einer Gedankenschleife vollständig belegt ist, sozusagen eine Endlosschleife läuft. In diesem Falle hilft kein Abwarten, keine Nacht der Ruhe und des Abschaltens (»Morgen ist ein neuer Tag«), hier ist es angesagt, den Grund zu verstehen, um sie abbrechen zu können. Ansonsten droht tagelanges, mitunter wochenlanges nicht mehr Reden und so weiter. Wie bereits geschrieben, Autisten sind grundsätzlich nicht multitaskingfähig. Alles muss immer schön geordnet der Reihe nach gehen. Sequenzielles Verarbeiten von Informationen und sequenzielles Abarbeiten von anstehenden Aufgaben ist angesagt, unstrukturiertes, paralleles Arbeiten funktioniert in der Regel nicht, zumindest nicht dauerhaft.

Wenn mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigt werden sollen und andere sich dann auch noch einmischen bei der eigenen Entscheidungsfindung, was denn davon nun dringend und wichtig ist und was ich gegebenenfalls aus Zeitmangel auch weglassen kann und muss, entsteht ein Stau in der Abarbeitung der eintreffenden, als relevant klassifizierten Informationen. Und je schlechter der eigene Schutzfilter dann ist, desto schneller kommt es zum Shutdown, »zu viele Tabs offen« oder »zu viele Fenster offen«, würde man am PC sagen.

Viele Autisten haben jedoch einen funktionierenden Filter, um dem zu entkommen. Sie praktizieren den Tunnelblick. Das wiederum hat dann aber zur Folge, dass mitunter relevante Informationen nicht erkannt werden. Bei mir sind es zum Beispiel die Toilettenschilder auf Flughäfen, die ich nicht schnell genug finde. Dann beklage ich mich nicht selten über die vielen Geschäfte, die da meiner Meinung nach nicht hingehören, die mir den Blick für das für mich Relevante erschweren und die an mir damit auch kein Geld verdienen können.

Im Zusammenhang mit Overloads, Meltdowns und Shutdowns kommt besonders den Stereotypien und dem Stimming eine große Bedeutung zu, um als Autist zu überleben. Denn sie sind Blitzableiter, um Extremreaktionen abzuwehren. Sie erden und schützen damit den Autisten vor den Folgen des Overloads. Schaukeln und Singen, das für Außenstehende scheinbar sinnlose Drehen von Spielzeugautorädern sind nur Beispiele. In meinem Fall gehört auch das Abreißen der Fingernägel dazu. Es mir abzugewöhnen oder gar von außen zu verbieten, hatte stets unerwünschte Folgen an anderer Stelle.

Beispielsweise habe ich mich einmal auf Anraten meiner Eltern extrem darauf konzentriert, für eine anstehende Bewerbung meine Fingernägel »ordentlich« aussehen zu lassen. Leider wachsen die Dinger nur mit mikroskopischer Geschwindigkeit. In dieser Zeit, und das waren einige Wochen, war ich leider nicht wirklich effektiv arbeitsfähig. Der Grund: Ich musste meine ganze Energie darauf ver(sch)wenden, mich jedes Mal aktiv aufzufordern, die Nägel bitte ausnahmsweise nicht abzureißen, wenn ich einen Blitzableiter suchte. Die verwendete Konzentrationsenergie, sich bewusst immer wieder zu sagen, »Nein, jetzt nicht bitte!«, ging dem eigentlich vorgesehenen Arbeiten verloren!

Es empfiehlt sich für das Umfeld des Autisten, einige kleine Regeln zu beachten, damit es erst gar nicht zu dem Eintreten kritischer Situationen wie Overload, Meltdown oder Shutdown kommt. Vorbeugend wirken stets klare Strukturen und Transparenz im Handeln. Willkür zerstört vieles. Der Autist muss sich im Alltag orientieren können und ahnen können, was auf ihn zukommt. Auch braucht er meistens deutlich mehr Pausen als andere Menschen, weil die Verarbeitung sozialer Reize deutlich mehr »CPU« in seinem Gehirn beansprucht als bei anderen Menschen.

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