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6. Kapitel

Es gibt noch freundliche Menschen, trotz des großen Elends.

Wieder herrschte Stille am Tisch. Keiner wagte es, das Wort an Souliman zu richten, dessen Blick jetzt wieder in einer unbestimmten Ferne haften blieb. Draußen wirbelten einige Schneeflocken durch die kalte Berliner Luft. Ein Handy klingelte. Es gehörte Mansur. Er zog es heraus und drückte den Anrufer weg, ohne überhaupt auf das Display geblickt zu haben. Etwa eine Stunde hatte er sich für die Geschichte von Souliman nehmen wollen. Nun saßen sie schon fast dreimal so lange hier zusammen. Keiner wagte es, an Aufbruch zu denken.

Souliman schüttelte sich, als wolle er für einen Moment die Vergangenheit loswerden, um sich gleich darauf wieder voll in sie zu stürzen.

Unser Boot sank nicht, obwohl ich in dem Moment, als ich realisierte, dass Iris im Meer verschwunden war, mir es sehnlichst gewünschte hätte, dass unser Schiff nun auch untergehen würde. Irgendwie überstanden wir auch noch die Nacht. Am nächsten Morgen strahlte die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Mir kam es vor, als wolle mich der Himmel verhöhnen. Das Schiff aber würde nicht mehr lange durchhalten. Es war so voll Wasser gelaufen, dass zwischen Bordkante und Wasser vielleicht nur noch ein oder zwei Handbreit lagen. Da hörten wir plötzlich ein Knattern und wenige Sekunden später tauchte auch der dazugehörige Hubschrauber auf. Eine Stunde später näherte sich eine Fregatte der italienischen Küstenwache.

Die Matrosen, die uns von Bord holten, waren hilfsbereit und freundlich. Es dauerte nicht lange, da hatten sie alle an Bord geholt. Vielleicht konnten wir Iris ja doch noch retten, schoss es mir durch den Kopf. Ich fragte einen der Matrosen, ob ich mit dem Kapitän sprechen dürfe. Er lachte nur und sagte ›Impossibile‹.

Plötzlich trat Mo, der stets schweigende Mo, neben mich und begann wie ein Wasserfall zu reden. ›Was glauben Sie, wer das ist, Sir?‹, fragte er den Matrosen auf Englisch. ›Ihm haben wir unser Leben zu verdanken, er ist nicht irgendwer. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten Sie heute nur 200 Leichen aus dem Wasser fischen können. Wäre Ihnen das lieber gewesen, Sir? Der Mann ist ein Held.‹ Auch andere der Geretteten kamen nun hinzu und begannen, ein Loblied auf meine Heldentat zu singen.

Schließlich gab der Matrose nach. ›Schon gut, schon gut, ich werde euren Helden zu unserem Kapitän bringen.‹

Der Kapitän hatte einen struppigen Vollbart und trug einen Ohrring. Das fiel mir als erstes auf. Der Matrose erklärte dem Kapitän etwas auf Italienisch. Der nickte nachdenklich und schickte den Matrosen wieder weg.

›Du bist so etwas wie ein Held, hab’ ich gehört?‹

›Ich weiß gar nicht, warum.‹

›Wo kommst du her, mein Sohn?‹

Ich zögerte. Mir fielen die Worte von Gabriel wieder ein. Keinesfalls sollte ich sagen, dass ich aus dem Senegal käme, sonst würden sie mich im großen Käfig behalten und möglicherweise wieder zurückschicken. Ich holte tief Luft. ›Aus Dafur.‹

Er nickte gemächlich. ›Soso, in Dafur lernt mal also, wie man eine 15-Meter-Barkasse mit einer Ruderpinne durch sechs Meter hohe Brecher steuert. Respekt. Nein, mein Junge, du warst bisher genauso wenig in Dafur wie ich in der Kalahari.‹

Mir wurde heiß und kalt. Er hatte mich also sofort erwischt. Was sollte nun mit mir passieren? Eigentlich wollte ich ihn bitten, nach Iris zu suchen, doch das konnte ich nun vergessen.

›Es ist ein Jammer. Bist ein couragierter Bursche. Jemanden wie dich könnte ich glatt auf meiner Fregatte gebrauchen. Bist leider kein Italiener. So werden sie dich wahrscheinlich dahin zurückschicken, wo du herkommst. Gambia, Ghana? Ach, sag’s mir lieber nicht. Es ist allemal eine Schande, wie man mit euch armen Teufeln umgeht. Pass auf, ich geb’ dir einen Rat: Bleib bei deiner Geschichte und schärfe deinen Freunden ein, dass sie niemandem von deiner Heldentat erzählen. Dafür ist Dafur einfach viel zu weit vom nächsten Meer entfernt, als dass dir das jemand abnehmen würde. Du hast nichts gesagt, und ich muss ja niemandem sagen, was ich mir denke.‹

Ich war völlig verdattert über die unerwartete Wendung, so dass ich glatt vergaß, mich zu bedanken. Aber Iris vergaß ich nicht. ›Trotzdem, Herr Kapitän, ich habe noch eine Bitte. Meine Gefährtin ist in der Nacht über Bord gegangen. Vielleicht hat sie überlebt, sie trug eine Rettungsweste. Vielleicht kann ja Ihr Helikopter …‹

Er runzelte die Stirn. Mir schien, als bilde sich über seinen Augenbrauen eine kleine Gewitterwolke. Dann brummte er: ›Na, mal sehen. Wenn er noch genügend Sprit hat. Wann war das?‹

Ich musste raten, denn ich hatte kaum eine Vorstellung. Ich wusste nur, dass es rabenschwarze Nacht war. Ich sagte aufs Geratewohl: ›Gegen 23 Uhr.‹

Er nickte. ›Mal sehen, da hatten wir euch schon auf dem Radar, versprechen kann ich aber nichts, mein Sohn.‹

Neue Hoffnung keimte in mir auf. Ich war sicher, dass ich Iris spätestens am Nachmittag wieder in meine Arme schließen konnte. Doch bis wir im Hafen von Lampedusa einliefen, bekam ich keine Nachricht. Wir wurden die Gangway hinuntergeführt. Ich drehte mich um und sah den Kapitän auf der Brückennock stehen. Er zuckte mit den Schultern und schüttelte leicht den Kopf. Dann winkte er mir zum Abschied zu.

Ich hatte mir vorgestellt, dass alle Italiener, ja alle Europäer so freundlich waren wie der Kapitän der Küstenwache. Das war dann leider doch nicht so. Nachdem wir von Bord gegangen waren, wurden wir registriert, und es kam uns vor, als behandelten sie uns wie Vieh. Die Beamten bei der Registrierung waren unfreundlich. Überall standen bewaffnete Polizisten, die darauf achteten, dass keiner von uns flüchtete. Ich hatte Mo und den anderen eingeschärft, niemandem von meiner Rolle auf dem Boot zu erzählen. Stattdessen gab ich bei der Registrierung an, ein Flüchtling aus Dafur zu sein. Der Beamte füllte das Formular aus, ohne mich überhaupt näher anzusehen. Wenn ich sagte, ich käme aus Dafur, dann war das wohl auch so.

Die Bezeichnung Großer Käfig war nicht übertrieben. Ich hatte mir vorgestellt, dass es in Europa selbst bei einer Art Internierung bedeutend besser zugehen würde, als in Libyen. Doch die Verhältnisse waren genauso schlimm – mit dem Unterschied, dass wir nun im Knast saßen und offenbar niemand so genau wusste, was mit uns passieren sollte. Wir wurden von den Aufsehern schikaniert, von den Einwanderungsbeamten und eigentlich von allen, die mit uns zu tun hatten. Die Botschaft war klar: Ihr seid hier nicht willkommen. Auch untereinander wuchs die Aggressivität wieder beträchtlich. Manche Flüchtlinge saßen schon seit Monaten in dem Käfig. Keiner wusste, wie lange er hierbleiben würde.

Mo und ich hatten Glück. Wir mussten nur fünf Tage auf Lampedusa verbringen. Dann plötzlich wurden wir abgeholt. Ein Carabiniere brachte uns auf ein Schiff, auf dem bereits drei andere Flüchtlinge warteten. Wohin wollten sie uns bringen? Keine Antwort. Wir wurden von zwei Carabinieri begleitet. Sie brachten uns nach Messina auf den Bahnhof. Einer der beiden Beamten erklärte: ›Ihr habt jetzt fünf Tage, um das Land zu verlassen. Werdet ihr danach in Italien aufgegriffen, schicken wir euch zurück in eure Heimatländer. Also, wo wollt ihr hin?‹

Die anderen drei tuschelten und sagten etwas von Schweden. Ich fragte Mo: ›Deutschland?‹ Mo zuckte mit den Schultern und nickte. Der Carabiniere ging an den Schalter und sagte: ›Dreimal Malmö, zweimal München.‹

Zwei Stunden später saßen wir zu fünft in einem Abteil und tauschten unsere Geschichten aus. Die drei anderen hatten sich ebenfalls als Flüchtlinge aus Dafur ausgegeben. Tatsächlich kamen sie aus Mali. Sie hatten schon eine gescheiterte Flucht hinter sich. Vor zwei Jahren hatten sie es über die sogenannte Westroute über Marokko nach Spanien versucht. Doch sie scheiterten beim Versuch in die spanische Exklave Melilla zu kommen. Ich erfuhr, dass dort über 30 000 Menschen in einem Camp lebten, die alle irgendwie versuchen wollten, die sechs Meter hohen Zäune zu überwinden. Auch Marokko, so wurde gemunkelt, hatte schon Flüchtlinge in der Wüste ausgesetzt. Deshalb hatten es die drei dieses Mal über die mittlere Route versucht.

Ich wollte wissen, warum sie ausgerechnet nach Schweden wollten. Soweit ich wusste, lag Schweden so weit im Norden, dass dort ewig Schnee lag. Die drei anderen mussten lachen, als ich ihnen mein Schwedenbild zeichnete. So zeigten sie mir Fotos von Schweden, auf denen kein Krümelchen Schnee lag. Im Gegenteil. Alles war grün, lag im Sonnenschein. Nur die roten Häuschen fand ich ein wenig merkwürdig.

In Schweden, erklärte einer der drei, würden die Menschen einfach am besten behandelt. Ich wurde stutzig. ›Aber ich dachte, in Deutschland sei alles so einfach?‹ Wieder lachten die drei.

Mo indes meinte, ich sollte mich jetzt nicht verrückt machen lassen. Er habe Freunde in Berlin und irgendwie würde man ja schon von München nach Berlin kommen. Die Freunde würden uns sicher weiterhelfen. Die drei anderen wünschten uns grinsend viel Glück.

Wir redeten noch ein wenig miteinander, dann fielen wir einer nach dem anderen in einen tiefen Schlaf.

Es war früher Morgen, als der Zug in München einlief. Wir verabschiedeten uns von unseren drei Mitreisenden und stiegen aus. Wir waren völlig eingeschüchtert von der Größe, den Menschen, den Autos, aber irgendetwas mussten wir jetzt ja tun. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich für mein allerletztes Geld eine Fahrkarte nach Berlin gekauft. Leider folgte ich dem Vorschlag von Mo. Er sagte, dass es das Schlaueste wäre, sich bei der Bahnpolizei zu melden und einfach mal das Wort Asyl zu sagen. Alles Weitere werde sich dann schon ergeben.

So standen wir nach einer halben Stunde in der Wache der Bahnhofspolizei und sagten wie aus einem Mund: ›Asyl‹. Ein Beamter saß am Schreibtisch, notierte noch etwas und schaute uns dann gelangweilt über den Rand seiner Brille an. Dann drehte er sich um und rief über die Schulter: ›Schorsch, da san wieder zwoa.‹

Wir wurden in einem provisorischen Containerdorf untergebracht.

Wir waren froh über die Unterkunft, darüber, dass es regelmäßig etwas zu essen gab und dass die sanitären Verhältnisse stimmten, zumindest nach unseren damaligen Vorstellungen, hatten wir auf unserer Flucht doch unsagbar schlimme Dinge erlebt.

Wir wollten so schnell wie möglich weiter nach Berlin reisen. Doch da erlebten wir eine böse Überraschung.

›Das wird nicht möglich sein‹, erklärte uns ein freundlicher, aber sichtbar gestresster Mitarbeiter der Ausländerbehörde auf Englisch, der nur dafür abgestellt war, sich mit unseren Wünschen auseinanderzusetzten, um sie dann praktisch immer freundlich aber bestimmt abzulehnen.

›Als Asylbewerber unterliegen Sie der sogenannten Residenzpflicht.‹

›Was heißt das?‹, wollte ich wissen.

›Das heißt, dass Sie die Stadt München nicht verlassen dürfen.‹

Wir waren beide völlig perplex.

›Warum denn das?‹, fragte ich.

›Die Regelung gilt natürlich nur, solange Ihr Antrag auf Asyl läuft. Wenn darüber entschieden ist, werden sie entweder abgeschoben oder anerkannt, dann können sie sich natürlich frei bewegen. Naja, sie können auch nach der Ablehnung ihres Asylantrages versuchen, eine Duldung zu bekommen. Aber dann unterliegen sie natürlich wieder der Residenzpflicht.‹

›Aber warum denn?‹

Der Beamte zuckte mit der Schulter. ›So ist die Rechtslage. Haben Sie vielleicht Verwandte in Berlin? Kinder? Eine Ehefrau? Eltern?‹

Ich schüttelte nur traurig den Kopf.

›Ich habe Freunde‹, rief Mo.

Der Beamte lächelte nachsichtig. ›Das wird leider nicht reichen.‹

›Aber ich könnte bei ihnen wohnen, essen und trinken, ich würde auch meinen Freund hier mitnehmen. Dann kostet es den deutschen Staat doch nichts. Daran müssen Sie doch auch Interesse haben.‹

›Es tut mir leid meine Herren, aber da sind mir leider die Hände gebunden. Wenn sie nichts mehr Wichtiges haben … bitte, da draußen warten noch andere Fälle, die meine Hilfe brauchen.‹

Völlig verdattert verließen wir das Container-Büro und liefen prompt einem jungen Deutschen in die Arme, der uns aufgeregt fragte, was da drinnen abgelaufen sei. Mo und ich schauten uns an und erzählten dann von unserem doch etwas merkwürdigen Erlebnis mit dem Beamten.

Der junge Mann winkte nur ab. ›Das ist ja noch längst nicht alles. Ihr dürft hier gar nichts. Arbeiten beispielsweise, um eigenes Geld zu verdienen – keine Chance. Eine Ausbildung, um sich hier zu qualifizieren – kannst du vergessen‹, rief er empört. ›Aber damit soll nun Schluss sein. Wir werden die jetzt unter Druck setzen. Nächste Woche starten wir zum Marsch nach Berlin, gegen die Residenzpflicht, gegen das Arbeitsverbot und für ein bedingungsloses Bleiberecht.‹

Das hörte sich imposant an, doch wir hatten nur die Hälfte von dem verstanden, was er uns sagen wollte. Was uns klar war, war, dass er ein engagierter junger Mann war, dem unser Schicksal naheging. Das war doch schon mal was.

›Seid ihr gut zu Fuß?‹, wollte er plötzlich wissen. Wieder schauten wir beide uns an und zuckten mit den Schultern. Natürlich waren wir gewohnt, größere Strecken zu Fuß zurück zu legen. Deutsche nahmen sicherlich für jede Strecke das Auto, auch wenn’s nur um vier oder fünf Kilometer ging. Da waren wir Afrikaner schon anders. Also nickten wir.

›Fein!‹, rief der junge Mann begeistert aus. ›Wir werden am 8. September in Würzburg starten und nach Berlin marschieren. Wollt ihr mitmachen?‹

Mo fragte als erstes: ›Wie weit ist das?‹

›Wir rechnen mit 600 Kilometern, wir können ja schlecht über die Autobahn marschieren. Sonst wären es 150 Kilometer weniger.‹ Er lachte über seinen Scherz, den wir nicht so recht verstanden. Ich hatte Bedenken.

›Aber was ist mit der Residenzpflicht? Wenn uns die Polizei erwischt, dann schicken sie uns zurück nach Dafur.‹

›Unsinn‹, wandte der junge Mann ein. ›Erstens dauert es ewig, bis der Antrag bearbeitet wird und dann kann man bei einem abschlägigen Bescheid noch immer an einer Duldung arbeiten. Aber he, ihr zwei kommt aus Dafur. Da geht der Asylantrag hundertprozentig durch. Das ist sicher. Und außerdem würde kein Polizeibeamter in Deutschland es wagen, einen Flüchtling aus dem Zug rauszuholen, um ihn dann abschieben zu lassen. In dem Protestzug seid ihr sicher.‹

Das leuchtete uns ein.

›Aber wie kommen wir bis nach Würzburg? Wenn wir mit dem Zug fahren und kontrolliert werden?‹

›Natürlich werdet ihr von der Bahnpolizei kontrolliert, deswegen fahrt ihr auch mit dem Auto. Ich hole euch in drei Tagen ab. Aber verratet dem Vogel da drin nichts.‹

Er deutete mit dem Daumen auf das Büro im Container.

So hatten wir also doch noch eine Chance, nach Berlin zu kommen. Allerdings – 600 Kilometer zu Fuß?

Mo klopfte mir auf die Schulter und sagte: ›Nach allem, was wir erlebt haben, sind 600 Kilometer zu Fuß quer durch Deutschland ein gemütlicher Spaziergang.‹

Und Mo sollte diesmal recht behalten. Drei Tage später holte uns der junge Mann ab, von dem wir jetzt erst erfuhren, dass er Simon hieß und sich in einer Gruppe für Flüchtlingshilfe engagierte. Zum ersten Mal fuhren wir über eine Autobahn und waren schwer beeindruckt. Allerdings noch beeindruckter waren wir von der Gruppe, die sich da in Würzburg auf den Weg machte. Zunächst fühlten wir uns als Fremdkörper, obwohl die meisten auf dem Marsch ein ähnliches oder gar schlimmeres Schicksal mit uns teilten. Trotzdem: Wir waren gerade erst angekommen und fühlten uns zunächst auch dankbar, auch wenn uns solche Dinge wie die Residenzpflicht unsinnig oder das Arbeitsverbot absurd vorkamen. Doch wir sollten schnell lernen, wie bedrückend das für jene war, die nicht nur wenige Wochen, sondern Monate und oft Jahre auf eine Entscheidung über ihren Antrag warteten. Zwar gab es Essen, Unterkunft und auch ein wenig Geld, aber viel zu wenig, als dass man hätte wagen können, es nach Hause zu schicken.

Das Schlimmste, so erklärten uns unsere Schicksalsgenossen auf dem Marsch, sei die Langeweile. Man könne in den Asylbewerberheimen nichts tun, außer vielleicht Domino zu spielen. Arbeit war verboten, Fortbildung war verboten, für Kino oder Theater fehlte das Geld, und das Fernsehgerät im Heim war ein stetiger Quell des Streits.

Das alles drohte uns nun auch. Und so nach und nach fanden wir es sehr wichtig und sinnvoll, dass wir uns an diesem Marsch beteiligten. Wir waren übrigens die einzigen, die sich anfangs als Fremdkörper gefühlt hatten. Für die anderen waren wir ganz normale Refugees, wie alle anderen auch.

Der Marsch begann am 8. September. Und ich muss sagen, dass er vielleicht das schönste Erlebnis meines Lebens bislang war. Wo wir auch hinkamen, wurden wir von den Menschen freundlich empfangen. Wir hatten gute Unterkünfte und gutes Essen und manchmal konnten wir sogar ein Stück mit dem Bus fahren.

Die Landschaft, der deutsche Wald … es war alles so beeindruckend. Ich hatte immer gedacht, dass Deutschland komplett zugebaut sei. Doch nun sah ich, wie viel Platz es hier gab. Wenn man auf den Bergen angekommen war und von dort die weiten Ebenen sehen konnte … Es war ein wunderbares Erlebnis!

Vier Wochen dauerte unsere Wanderung durch Deutschland und dann hatten wir Berlin erreicht. Na ja, der Rest ist ja wohl bekannt. Wir zogen auf den Oranienplatz, campierten dort, protestierten vor dem Brandenburger Tor und dann überwinterten einige in der Gerhart-Hauptmann-Schule. Nach allem, was ich erlebt hatte, schien es mir nicht mehr besonders schlimm, ein wenig Gras zu verkaufen. Als ich das Angebot bekam, nahm ich es an. Ich hatte schnell gemerkt, dass es in Berlin nichts Besonderes war zu kiffen, und dass mir auch nicht viel passierte, wenn ich erwischt wurde. Ich änderte ein paarmal meinen Namen, kam mal aus Dafur, dann aus Ghana oder aus Mali. Es machte ja alles nichts. Immerhin kann ich jetzt regelmäßig Geld nach Hause überweisen. Meiner Familie habe ich geschrieben, dass ich hier fleißig studiere und dafür auch noch viel Geld bekomme – eben das, was Rashid damals behauptet hatte. Tja und nun bin ich hier.

7. Kapitel

Bosheit ist bloß eine Art Ungeschicklichkeit.

Die Gemeinde Lusow war ziemlich groß – eigentlich. Sie umfasste immerhin 46 Quadratkilometer. Allerdings verloren sich in dieser Weite gerade mal 783 Einwohner. Die meisten von ihnen wohnten in dem Ort selbst. Es war einmal ein blühendes, kleines Städtchen mit 12 000 Einwohnern gewesen. Rund um Lusow scharten sich drei weitere Dörfer, die ebenfalls zur Gemeinde gehörten. Alle waren aus Gutshöfen entstanden, wie sie jahrhundertelang das Bild von Vorpommern geprägt hatten. Ein Bahnhof verlieh dem Städtchen eine bescheidene Bedeutung. Von hier kam man schon im 19. Jahrhundert bis nach Greifswald.

Und dann war der Krieg gekommen, und nach dem Krieg war, wie schon im Kinderlied vom Maikäfer, Pommernland wieder einmal abgebrannt. In den letzten Monaten wälzten sich endlose Flüchtlingstrecks auf der Flucht vor der Roten Armee durch das Land. Die drei Gutshöfe erlebten den Untergang des Dritten Reiches auf ganz unterschiedliche Art.

Da war die Geschichte des Gutes Bessels, die eng mit der von Hermann Altstädter verknüpft war. Sein Parteibuch wies ihn als Nazi der ersten Stunde aus – oder wenigstens fast. Er war schon 1925 in die NSDAP eingetreten und ein glühender Verehrer Hitlers gewesen. 1932 war er der SS beigetreten. Es fiel ihm nicht besonders schwer, an das Gut des Friedrich Ritter zu Besseln zu kommen. Wie vielen Adeligen und Offizieren waren dem Ritter die Nazis zutiefst zuwider. Doch während sich die meisten, die so dachten wie er, einfach schweigend und angeekelt abwendeten, begehrte Ritter zu Besseln auf und legte sich mit der Partei an. Und so fand sich der Junker eines Tages in Sachsenhausen wieder, in Gesellschaft von Kommunisten, Sozialdemokraten, einigen Katholiken und etlichen Juden – alles Gruppen der Bevölkerung, die er ebenfalls ziemlich wenig schätzte. Für Altstädter war es nicht besonders schwer, jetzt an den Hof zu kommen. Er ging nach Vorpommern, um dort den »Reichsnährstand« zu organisieren. Nach dem »Gesetz über den vorläufigen Aufbau des Reichsnährstandes« enteignete er das Rittergut kurzerhand – etwas, das nicht einmal dieses vorgeschobene Gesetz hergab. Natürlich gelang es Altstädter, sich dem Dienst an der Front zu entziehen, denn seine »Aufgabe an der Heimatfront ist unbedingt kriegswichtig«, wie er bei jeder Gelegenheit betonte. Als die ersten Flüchtlingsströme eintrafen, ließ er sie von seinem Grund und Boden vertreiben. Als es mehr wurden, forderte er einen Trupp der SS an und ließ auf Flüchtlinge schießen, wenn sie sich dem Gut näherten. Als eines Tages zwei Halbwüchsige beim Plündern erwischt wurden, ließ er sie kurzerhand vor dem Tor des Gutshauses aufhängen. Zwei Tage bevor die Rote Armee eintraf, verschwand Hermann Altstädter spurlos. Es hieß später, er sei über die sogenannte Rattenlinie nach Argentinien entkommen.

Baron Eckbert von Lohmandel hatte das Gut Linnewitz von seinem Großvater übernommen, nachdem sein eigener Vater schon in den ersten Tagen des Ersten Weltkrieges gefallen war. Auch die von Lohmandels hatten nicht viel mit den Nazis am Hut, doch man arrangierte sich sogar mit einem Proleten wie Altstädter. Sitte, Anstand und vor allem Tradition geboten es, dass der Baron mit Beginn des Zweiten Weltkrieges in die Wehrmacht eintrat. Im Rang eines Majors wurde er 1943 in Frankreich verwundet – bei einem Bombenanschlag der Résistance. Nicht mehr tauglich für den Wehrdienst übernahm er 1944 auf einem Bein wieder das Regiment auf seinem Hof. Als die Flüchtlinge aus Ostpreußen durchzogen, öffnete er Scheunen als Unterkünfte, richtete Suppenküchen ein und versuchte zu helfen, wo es eben ging. Altstädter drohte von Lohmandel, er werde ihn mit der SS von seinem Gut vertreiben, wenn er dieses Gesindel nicht verjage. Doch der Baron blieb stur und Altstädters Drohungen erwiesen sich letztlich als heiße Luft. Dann war Altstädter plötzlich verschwunden. Dafür hörte man von Ferne schon die Artillerie der Roten Armee. Zwei Tage später war sie da. Die Soldaten schleppten den Baron aus dem Gutshaus und erschossen ihn wegen der Kriegsverbrechen, die er in Russland begangen hatte – dabei hatte er Russland nie gesehen.

Das Gut Gildow hatte eine recht eigenartige jüngere Geschichte. Felix Ludwig Attila von Gildow und Herwitte war der dritte von drei Söhnen des alten Grafen Ernst Georg Heinrich von Gildow und Herwitte – und Felix war das schwarze Schaf. Die beiden Brüder hatten standesgemäß geheiratet, während Felix die Schauspielerin Annett Stellablanca geheiratet hatte, die eigentlich Anna Kupferschmied hieß und ursprünglich nichts anderes war, als eine verzogene Göre aus Berlin-Friedrichshain. Kein Wunder, dass sich Schwiegervater und Schwiegertochter in herzlicher Abneigung zugetan waren. Doch Sohn Nummer eins war 1936 vom Zuchtbullen Adolf zerquetscht worden, Sohn Nummer zwei »fiel« schon während des Polenfeldzugs, wenn man das so nennen konnte. Er starb an einer Lungenentzündung. Nun war es also an Felix, den Hof zu übernehmen, doch auch bei den Gildows gehörte eine schneidige Offizierskarriere zur Familientradition. Es verwundert nicht, dass Felix bei der Luftwaffe landete. Den Vater grämte die Entwicklung so, dass er 1940 der Welt ebenfalls den Rücken kehrte. Das Gut hatte einen neuen Grafen, aber keinen Erben mehr. Felix bestellte seine neue Gräfin auf das Gut ein und nahm zwei Wochen Fronturlaub, um einen Erben zu zeugen. Er machte Annett klar, dass sie hier nun die Chefin sei und alles auf ihr Kommando zu hören habe, eilte wieder zu den Fahnen und ließ sich abschießen. Es kostete Annett eine Nacht bei SS-Gruppenführer Altstädter, und sie hatte so viele Fremdarbeiter, wie sie sich nur wünschen konnte. Darunter war auch ein fähiger, strammer Pole. Adam Lusznik war seinerseits von seinem Hof in Ostpolen aus der Nähe vom Lemberg vertrieben worden – von den Russen. Annett fasste schnell Vertrauen zu Adam, machte ihn zum Verwalter und verschwand bald wieder aus der vorpommerschen Einöde, zumal sie nun ziemlich schwanger war und nicht so richtig wusste, ob der Flieger, der SS-Führer oder der Fremdarbeiter der Vater war.

Im Gepäck hatte Annett den Gildowschen Familienschmuck, der sich als sehr hilfreich erwies, nachdem ihre kurze Film- und Fernsehkarriere in den Sechzigerjahren ein unwiderrufliches Ende nahm. Adam war den Flüchtlingen gegenüber gleichgültig. Er schickte sie einfach weiter nach Linnewitz, wo die Gulaschkanonen des Herrn Baron standen.

Der Einmarsch der Roten Armee änderte für Adam fast nichts. Er war ja schon immer glühender Antifaschist und Kommunist gewesen.

Am Ende waren aus den drei Junker- und Rittergütern zwei Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften geworden. An die glorreiche Vergangenheit erinnerten nur noch die Namen der drei kleinen Dörfer, die zu den Gutshöfen gehört hatten. Bessels, Linnewitz und Gildow wuchsen von ein paar hundert Einwohnern auf jeweils etwa 2 000 an. Das lag daran, dass sich in Gildow auch noch der VEB Lederwaren Nord angesiedelt hatte, der die Häute der Rinder zu Schuhen, Handtaschen und Gürteln verarbeitete. In Bessels gab es außerdem noch eine Fabrik, die Suppenwürfel und Brühe herstellte. Alles in allem lebten zu Zeiten der DDR in Lusow und Umgebung rund 20 000 Menschen. Sie lebten nicht viel besser oder schlechter als in anderen Teilen der DDR, obwohl die Oberen der FDJ offensichtlich der Meinung waren, es müsse ein wenig besser sein, denn wie sonst hätten sie auf die Idee kommen können, dort, in der Mitte von Nirgendwo auch noch ein Freizeitheim für die Freie Deutsche Jugend zu errichten, in dem bis zu 800 Blauhemden Platz finden sollten?

Doch dann kam die Wende. Die Schuhproduktion verschwand ebenso wie die Brühwürfelherstellung. Die LPGs lösten sich auf. Einige Bauern versuchten es auf eigene Faust. Eines Tages tauchte ein nicht mehr ganz so junger Mann auf und behauptete, er sei der letzte Graf von Gildow und forderte sein Erbe ein. Es kam zu langen Rechtsstreitigkeiten, weil nicht so recht klar war, ob der Mann nun ein Hochstapler war oder ob seine Forderungen zu Recht bestanden. Der Prozess zog sich in die Länge. Der Graf erwies sich letztlich als nicht ganz so echt, wie er glauben machen wollte und verlor den Prozess.

Inzwischen leerten sich Lusow und seine Nachbardörfer rasant. Im ersten Jahr nach der Wende war schon ein Drittel der Bevölkerung verschwunden.

Es setzte eine nicht mehr zu bremsende Abwärtsspirale ein. Einer der beiden Friseure schloss seinen Laden. Hatte sich der zweite vor Ort noch gefreut, jetzt ein Monopol zu haben, musste er nach einem Jahr feststellen, dass ihm zu wenige Häupter geblieben waren, die er noch zu seinem Lebensunterhalt scheren konnte. Zudem war ein Friseur ein Luxus, den sich auch nicht jeder leisten konnte. Andere hingegen meinten, an einem Ort, an dem es keinen Friseur gab, könne man unmöglich leben. Es folgten der Zahnarzt, das Bekleidungshaus des alten Rossbach und die »Buchhandlung Zimmermann«, die einst »Rote Fahne« geheißen hatte. Dann machten die Drogerie dicht und der Elektrohändler. Für jede Glühbirne musste man nun nach Greifswald fahren.

Es wurden immer weniger Kinder eingeschult. Schließlich schloss die Poliklinik ihre Pforten und mit ihr die Apotheke. Es folgten der Supermarkt und die Schule. Und schließlich ging auch noch der alte Dr. Dreesen in Ruhestand. Nun gab es keinen Arzt mehr.

Juri Recklund war Jahrgang ’61, worauf, zumindest für ältere DDR-Bürger, bereits sein Vorname schließen ließ. Er war das Oberhaupt einer Gemeinde mit 783 Einwohnern, für die es keinerlei Perspektiven gab, und Recklund war jetzt schon klar, dass es nächstes Jahr um diese Zeit höchstens noch 650 Lusower geben würde, das Jahr darauf vielleicht nur noch 500. Der Bürgermeister war ziemlich verzweifelt und am Ende seines Lateins. Gleich würde er Joos van Dickeren empfangen, einen Holländer, dem schon 1 000 Hektar der Gemeinde gehörten. Dort reihte sich Schweinestall an Schweinestall. Dazwischen gedieh üppig der Mais und in der Mitte stand eine gewaltige Biogasanlage. Alles wurde eingerahmt von gewaltigen Windrädern. Ein ökologisches Paradies? Keineswegs. Da der Mais nicht zum Verzehr gedacht war, sondern um mit dem Schweinekot gemeinsam Energie zu erzeugen, war es im Prinzip völlig egal, was er auf den Mais spritzte. Hauptsache, der Mais gedieh wie Unkraut.

Bis zu 80 000 Schweine standen in den Ställen, von denen täglich hunderte durch halb Europa gekarrt wurden. Ganz in der Nähe der Biogasanlage lag ein See ganz besonderer Art, eine sogenannte »Gülle-Lagune« – ein See aus Schweinescheiße, damit die Biogasanlage auch beständig Nachschub hatte.

Wenn der Wind ungünstig stand, dann stank es erbärmlich in allen Ortsteilen von Lusow. Allein dieser Gestank hatte im vergangenen Jahr mehrere Dutzend Menschen dazu bewegt, Lusow den Rücken zu kehren.

Recklund erinnerte sich noch, wie begeistert er war, als van Dickeren vor sieben Jahren aufgetaucht war und blühende Landschaften auch hier in Mecklenburg-Vorpommern versprochen hatte. Und natürlich war Recklund auf ihn hereingefallen, wie jeder seiner Kollegen immer auf jeden hereinfällt, der solche Versprechungen macht. Die Lage war einfach so verzweifelt, dass jeder nach jedem Strohhalm griff.

Doch Juri Recklund war entschlossen, dieses Mal nicht nachzugeben. Van Dickeren würde ihm wieder das Blaue vom Himmel versprechen und von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen schwadronieren. Doch damit war es jetzt ein für alle Mal vorbei.

Es klopfte. Seine Sekretärin steckte den Kopf herein. »Herr van Dickeren ist jetzt da, Herr Bürgermeister.«

»Ich lasse …«

Weiter kam er nicht. Van Dickeren, der seinen Namen zu Recht trug, drückte die schmale Sekretärin einfach zur Seite und stürmte mit ausgestreckten Händen auf den Schreibtisch zu.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
390 стр.
ISBN:
9783943709162
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