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2.6.3 Das Anefangverfahren

Im Sachsenspiegel ist von den zeitgleichen prozessrechtlichen Neuerungen im kirchlichen Recht nichts zu spüren. Vor allem der im gesamten deutschen Mittelalter weit verbreitete Anefang zeigt, wie das Verfahren zwischen Strafrecht und Zivilrecht, materiellem Recht und Prozess, Leumundseid und Wahrheitssuche ständig hin und her schwankte. Die Quelle ist mit ihrem vielfach verästelten Geschehen besonders schwer verständlich. Aber genauso stellte man sich das Verfahren offenbar vor, wenn jemandem Tiere oder wertvolle Stoffe abhanden gekommen waren. Die Bilderhandschriften zum Sachsenspiegel haben die Einzelheiten später liebevoll ausgemalt.

Das Anefangverfahren im Sachsenspiegel

Weme man keiner hanthaften tat zeien muge. Wi man gut anevangen mag. Wi man weren sal. Wie man sich dar zu zin sal.

§ 1. Swe over den anderen dach sine duve oder sinen rof under eneme manne vint, de dat openbare koft hevet, unde unverholen hevet gehalden unde des getuch hevet, den [man] ne mach men nener hanthaften dat sculdegen, al vinde men de duve under eme, he ne hebbe [to] vor sin recht verlorn; wan mit des richteres orlove, mut he sin gut wol anevangen mit rechte.

§ 2. Wel aber jene sin gut weren eme, er it vor gerichte kome, so bidde he ene weder keren vor gerichte; weigert he des, he scrie ene dat geruchte an unpe gripe ene an vor sinen def, alse of de dat hanthafte se; went he sek sculdich hevet gemaket mit der vlucht. Kumt aver jene willens vor gerichte, he scal sek underwinden sines gudes to rechte.

§ 3. Sprikt aver jene dar weder, of it laken is, he hebbe it gewarcht laten, of it [en] perd is oder ve, he hebbe it in sime stalle getogen, he mut it mit mereme rechte behalden, jene de it in geweren hevet, of he it selve dridde siner gebure getugen mach, den jene de it anevangen hevet.

§ 4. Sprikt aver jene, he hebbe it koft oppe deme gemenem markede, he ne wete weder wene, [so scal he gan oppe de stat, unde sweren al dar selves, dat he dat ding unverstolen unde unverholen in der stat des lechten dages gekoft hebbe, he ne wete weder wene] so is he duve unsculdich, deste he de stat bewise unde sinen ed dar to do. Sine penninge verluset he aver, de he dar umme gaf, unde jene behalt sin gut, dat eme verstolen [oder af gerovet] was [of he sek dar to tut oppe’n hilgen selve dridde vulkomener lude an erme rechte, de dat weten, dat it eme dufleke oder rofleke geloset si].

§ 5. Seget aver jene, it si eme gegeven, oder he hebbe it gekoft, so mut he benumen sinen weren, weder den he it gekoft hebbe, unde de stat, dar he it kofte. He mut aver sweren, dat he te to rechter tucht; so mut jene eme volgen over virtenacht, swar he tut, [<<78] ane over sceprike water. Wert he is geweret alse recht is, de gewere mut antwarden an siner stat vor dat gut; wert aver eme brok an deme geweren, he mut dat gut mit wedde unde mit bute laten; unde tiet men ene duve oder roves dar an, des mut he sek untsculdegen na rechte. Verluset ok de, de it anevanget, he mit it laten mit bute unde mit wedde.

§ 6. Men mut wol ten oppe manegen weren, de ene op den anderen, alse lange, wante men kome oppe dene, de it in sime stalle getogen hebbe, of it ve is, oder it selve getuget hebbe, of it gewant is.

§ 7. Selve dridde scal he sek dar to ten, de it anegevangen hevet, of eme gebrok wert an deme geweren.

§ 8. Under deme dat gut anevangen wert, de scal dat gut halden in sinen geweren, wante it eme mit rechte af gewunnen werde.

Wen man keines offenen Verbrechens bezichtigen kann. Wie man durch Anfassen Gut zurückfordern kann. Wie man dafür Gewähr leisten soll. Wie man Anspruch darauf erheben soll.

1. Wenn einer am nächsten Tag die ihm gestohlene oder geraubte Sache bei einem anderen findet, der sie öffentlich gekauft und nicht verheimlicht hat und der zudem hierfür Zeugen hat, dann darf man diesen nicht des offenen Verbrechens beschuldigen, auch wenn man das Diebesgut bei ihm findet, es sei denn, er hat bereits vorher sein Recht verloren. Mit Erlaubnis des Richters kann er sein Gut durch Anfassen zurückfordern.

2. Will jener ihm aber sein Gut verwehren, bevor es vor das Gericht kommt, so fordere er ihn auf, es ihm vor Gericht zurückzugeben. Wenn jener sich weigert, so erhebe man den Notruf und ergreife ihn wie einen Dieb, als ob es sich um offenes Verbrechen handle und er sich durch die Flucht schuldig gemacht habe. Kommt aber jener freiwillig vor Gericht, dann soll er sich seines Gutes auf rechtmäßige Art und Weise bemächtigen.

3. Widerspricht jener aber und behauptet im Falle eines Lakens, daß er es wirken ließ, oder bei einem Pferd oder Vieh, er habe es in seinem Stall aufgezogen, dann darf derjenige, in dessen Besitz es nun ist, unter der Voraussetzung, daß er es zu dritt seinen Nachbarn bezeugen kann, es mit mehr Recht behalten als derjenige, der es durch Anfassen zurückgefordert hat.

4. Wenn jener aber aussagt, daß er es auf dem öffentlichen Markt gekauft habe, er wisse aber nicht von wem, so soll er sich an diesen Ort begeben und dort schwören, daß er den Gegenstand hier als ungestohlen und unverhohlen am hellen Tag gekauft habe, er wisse nur nicht vom wem. Dann ist er, kann er die Stelle beweisen und bekräftigt er dies mit seinem Eid, des Diebstahls unschuldig. Das Geld aber, mit [<<79] dem er das Gut bezahlte, verliert er, und der andere bekommt seinen Besitz, der ihm gestohlen oder geraubt worden war, zurück, wenn er Anspruch darauf erhebt und es zu dritt mit in ihrem Recht unbescholtenen Leuten, die davon wissen, daß ihm sein Gut durch Diebstahl oder Raub abhanden gekommen ist, mit einem Eid auf die Reliquien beschwört.

5. Sagt jener aber aus, daß es ihm gegeben worden sei oder er es gekauft habe, dann muß er seinen Gewährsmann, von dem er es gekauft hat, nennen; ebenso auch den Ort, wo er es kaufte. Er muß aber beschwören, daß er es in rechtem Zug ziehe, dann muß jener ihm vierzehn Nächte lang folgen, wohin er auch immer geht – außer über schiffbare Gewässer. Wird ihm dies, wie es das Recht vorsieht, zugestanden, dann muß sich sein Gewährsmann statt seiner für das Gut verantworten; hat er aber keinen Gewährsmann, dann muß er das Gut mit Strafgeld und Buße aufgeben, und man bezichtigt ihn des Diebstahls oder Raubes dazu. Hiervon muß er sich dem Recht gemäß freischwören. Auch derjenige, der es durch Anfassen zurückgefordert hat, muß, wenn er verliert, es mit Buße und Strafgeld aufgeben.

6. Man kann sich auf viele Gewährsleute beziehen, der eine auf den anderen, und zwar so lange, bis man sich auf den beruft, der – geht es um Vieh – dieses in seinem Stall aufgezogen hat oder – ist es ein Kleidungsstück – es selbst gewirkt hat.

7. Wenn es ihm an einem Gewährsmann gebricht, soll derjenige, der es durch Anfassen zurückgefordert hat, zu dritt Anspruch darauf erheben.

8. Derjenige, dem das Gut durch Anfassen abgefordert wird, soll es in seinem Besitz behalten, bis es ihm rechtmäßig abgesprochen wird.

Vorlage: Ssp. Ldr. II 36 §§ 1–8, in: Eckhardt, Sachsenspiegel (Lit. zu 2.6), S. 160–162 (dort ohne die Überschrift; die Kursivierungen und Klammer zeigen abweichende Lesarten verschiedener Vorlagen an); leicht greifbar ist die Ausgabe Ebel (Lit. zu 2.6), S. 94–95 (dort die Überschrift); neuhochdeutsche Übertragung bei Schott/Schmidt-Wiegand (Lit. zu 2.6), S. 127–129.

Das in der Quelle ausführlich beschriebene Anefangverfahren bezweckt die Herausgabe abhandengekommener Sachen. War jemand bestohlen oder ausgeraubt worden und hatte die Verfolgung des Täters entweder gar nicht erst aufgenommen oder die Spurfolge für mindestens eine Nacht beendet, lag keine handhafte Tat mehr vor. Wenn er jetzt seine Sache bei einem anderen entdeckte, konnte er die Sache nur zurückerlangen, wenn er sie rechtsförmlich anfasste (anevangen = anfassen). Der alte Besitzer machte damit sein besseres Recht geltend. Gab der neue Besitzer die Sache nicht freiwillig heraus, kam es zum gerichtlichen Streit. Weigerte sich allerdings der neue Besitzer von vornherein beharrlich, vor Gericht zu erscheinen, lebte das Handhaftverfahren wieder auf. Der Verfolger konnte das Gerüfte erheben und den Besitzer öffentlich als Dieb beschuldigen. Im nachfolgenden Verfahren war dem Beschuldigten damit der [<<80] Reinigungseid versperrt. Wenn der neue Besitzer dagegen bereit war, sich auf den Rechtsstreit einzulassen, verlor der Prozess weitgehend seine strafrechtliche Einkleidung. Der Fortgang hing nun ganz davon ab, wie sich der neue Besitzer gegen die Herausgabeforderung des Vorgängers verteidigte. Die sächsischen Rechtsgewohnheiten verknüpften hier Sachbehauptungen mit verschiedenen Beweisvorrechten und gelangten auf diese Weise zu vielfach gestuften und verschachtelten Problemlösungen. Dabei stand immer demjenigen der Beweis offen, dessen Behauptungen überzeugender klangen. Betonte der Beklagte etwa, er habe die fragliche Tuchware selbst hergestellt oder ein streitbefangenes Pferd selbst im eigenen Stall großgezogen, dann konnte er selbdritt den Reinigungseid leisten und die Sachen behalten. Ob die Eideshelfer hier bloße Leumundszeugen waren oder Tatsachenkenntnis besaßen, fiel wohl kaum ins Gewicht. Als Freunde des Beschuldigten werden sie in jedem Fall gewusst haben, ob er Pferde züchtete, Gewänder schneiderte oder allgemein Stoff webte.

Wenn der Beklagte behauptete, er habe die Ware auf einem Markt gekauft, kenne den Verkäufer aber nicht persönlich, änderte sich die Beweisverteilung. Gelang es dem Beklagten zu beweisen, an welchem Ort er die Sachen gekauft hatte, und konnte er dies beeiden, war er vom unterschwelligen Diebstahlsvorwurf frei. Der Kläger konnte die Ware nun zurückerlangen, wenn er selbdritt auf die Heiligen schwor, dass sie ihm gestohlen oder geraubt worden war. Hierfür verlangte der Sachsenspiegel Tatsachenkenntnis der Eideshelfer. Das Herausgabeverlangen war also keine Frage des Leumunds, sondern des konkreten Sachverhalts.

Zwischen diesen beiden Einwendungen lag die dritte Verteidigung des Beklagten. Er konnte behaupten, die streitige Sache sei ihm von einem Dritten gegeben worden oder er habe sie von einem namentlich bekannten Verkäufer erworben. Den Namen seines Gewährsmannes musste er nennen und zugleich schwören, er habe sich rechtmäßig auf ihn bezogen. Nun begann der sog. Zug auf den Gewähren, ein umständliches Verfahren, um die abhandengekommenen Sachen zurückzuerlangen. Der mehrfache Rückgriff war im sächsischen Recht im Gegensatz zu anderen mittelalterlichen Gewohnheiten nahezu unbeschränkt. Die jeweilige Reise der beiden Widersacher sollte nicht länger als zwei Wochen dauern. Auch brauchte der Kläger keine schiffbaren Flüsse zu überqueren, etwa die Elbe. So weit konnte die Sache nach zeitgenössischer Vorstellung wohl nicht gekommen sein. Im Umkehrschluss sollte der Klagegegner mit der ungenauen Behauptung, er habe das Tuch oder Pferd irgendwohin veräußert, nicht erfolgreich sein. Ansonsten waren wiederum viele Möglichkeiten eröffnet, wie der Rechtsstreit weitergehen konnte. Gelang es dem Beklagten, den Gewährsmann zu finden, schied er aus dem Prozess aus. Der Gewährsmann trat als neuer Beklagter in den Prozess ein und konnte sich nun seinerseits wieder zwischen sämtlichen Einwendungen entscheiden. [<<81] Vor allem konnte er erneut seinen eigenen Gewährsmann benennen und die Sache auf diese Weise immer weiter zurückverfolgen. Scheiterte der Zug auf den Gewähren bei einer Station, lebte der verhaltene Diebstahlsvorwurf gegen denjenigen wieder auf, der seinen ordnungsgemäßen Besitz der Sache nicht erklären konnte. Da das Handhaftverfahren längst beendet war, stand nun wiederum der Reinigungseid offen. Auf der anderen Seite konnte der Kläger die Sache zurückfordern, wenn er selbdritt sein Verlangen beeidete. Konnte dagegen der letzte Gewährsmann die rechtmäßige Herkunft der Sache beweisen, stellte sich die erhobene Anefangsklage als unbegründet heraus. Deswegen sollte der Kläger dem Beschuldigten eine Buße zahlen und gleichzeitig an das Gericht eine Gebühr, die sog. Wette, entrichten.

Selbstverständlich braucht niemand diese Einzelheiten zu kennen. Doch macht die Zusammenschau dieser vielen Möglichkeiten eines klar: Das Anefangverfahren kannte zahlreiche Eide, die teils mehr dem Leumundsbeweis, teils stärker der Tatsachenaufklärung dienten. Mehrfach konnten beide Parteien in derselben prozessualen Situation schwören, wobei sich die Reinigung vom Diebstahlsvorwurf und die frühere Gewere (Sachherrschaft) oder der bessere Besitz in ihrer Zielrichtung nicht widersprachen. Dennoch war das Verfahren langatmig und kompliziert. Praktisch handhabbar waren solche Gewohnheiten nur in einer ländlichen Gesellschaft, wenn der Handel mit landwirtschaftlichen Gütern engräumig begrenzt blieb. Es wundert daher nicht, dass gerade mittelalterliche Handelsstädte das Anefangverfahren zuerst überwanden. Ware, die auf dem Markt feilgeboten wurde, konnte der frühere Berechtigte hier beim neuen Besitzer ohne Anefang, dafür aber gegen Zahlung des Kaufpreises lösen. In den Hansestädten war darüber hinaus der gesamte Seehandel vom Anefang ausgenommen.

2.7 Königsgerichtsbarkeit und Reichshofgericht

Der mittelalterliche König war nach zeitgenössischer Auffassung immer auch Richter. Er hatte Frieden und Recht zu gewähren und zog mit seinem Gefolge durch das Reich. Blieb er einige Zeit an einem Ort, kamen Parteien, die beim König ihr Recht suchten. Ein Kreis von Adligen, die den König begleiteten, bildete die Urteilerschar. Eine förmliche Errichtung des Königsgerichts hat es also nie gegeben. Vielmehr verdichtete sich die richterliche Tätigkeit des Königs und seiner Urteiler mit der Zeit. Ein großangelegtes Regestenwerk zur Erschließung des Königs- und Hofgerichts trägt für die knapp 40 Jahre von 912 bis 950 insgesamt zehn Quellennachweise der königlichen Gerichtsbarkeit zusammen. Einige Jahrhunderte später hatte sich dieses Bild komplett gewandelt. Allein im Jahr 1365 erstellte das Reichshofgericht 90 Gerichtsbriefe oder [<<82] andere Urkunden. 1403 stieg die Zahl auf über 200. Bei allen Schwankungen und Überlieferungsproblemen zeigt diese Größenordnung, in welch starkem Maße sich die königliche Gerichtsbarkeit im Mittelalter intensivierte. Die ältere Literatur grenzte oft ein hochmittelalterliches Königsgericht vom eigentlichen Reichshofgericht ab, das 1235 gegründet worden sei. Doch diese Sichtweise ist übergenau und wenig zeitgerecht.

2.7.1 Organisation und Verfahren des Reichshofgerichts

Der große Mainzer Reichslandfrieden von 1235 enthielt nicht nur Vorschriften, um die Fehde zu begrenzen, sondern ebenso Regeln über die Reichsgerichtsbarkeit. Kaiser Friedrich II. schuf dort das Amt eines Hofrichters, der die täglichen richterlichen Aufgaben übernehmen sollte. Über Reichsfürsten und besonders wichtige Fälle behielt sich der Kaiser aber die persönliche Gerichtsbarkeit vor. Auch Achtsachen, also die mit der Reichsacht zusammenhängenden Fälle (vgl. Kap. 2.8.8), durfte der Hofrichter nicht selbst übernehmen. Der Richter brauchte nicht rechtsgelehrt zu sein, dafür aber von „erprobter Treue und edlem Rufe“ (Art. 28 des Landfriedens). Er sollte jeweils mindestens ein Jahr im Amt bleiben und empfing als Lohn ein Gewette, also eine Bezahlung aus den Bußgeldern derjenigen, die aus der Acht entlassen wurden. Neben dem Hofrichter gab es zudem eine Hofgerichtskanzlei mit einem eigenen Notar bzw. Schreiber. Der Schreiber hatte vielfältige Protokollierungsaufgaben. Ausdrücklich verlangte der Reichslandfrieden, dass er ein Laie war. In Achtsachen und anderen schweren Fällen konnte es durchaus Todesurteile geben, und an ihnen durfte ein Geistlicher nach kanonischem Recht nicht mitwirken. Die Reform des Reichshofgerichts von 1235 folgte weitgehend dem Vorbild des sizilianischen Großhofgerichts. Kaiser Friedrich II., der zugleich König von Sizilien war, hatte dort nämlich bereits zuvor die Gerichtsverfassung und das Verfahrensrecht modernisiert.

Trotz der hohen Bedeutung des Reichshofgerichts und des königlichen bzw. kaiserlichen Richters wäre es nicht zeitgerecht, vom obersten Gericht des Reiches oder vom König als oberstem Richter zu sprechen. Das Stufenverhältnis zwischen niederen und höheren Gerichten setzt verschiedene Ebenen und Instanzenzüge voraus, die es im 13. Jahrhundert noch nicht gab. Erst mit der zunehmenden Anlehnung an die gelehrte Gerichtsverfassung mit ihren Rechtsmitteln konnte sich diese hierarchische Sichtweise im 15. Jahrhundert verbreiten. Zweifellos aber trug das Reichshofgericht erheblich zur Festigung der königlichen Gerichtsgewalt bei. Keine andere Institution am mittelalterlichen Königshof war so stabil und von so viel Kontinuität geprägt. Dennoch reiste das Gericht mit dem König bzw. Kaiser durch das Reich und konnte nicht zusammentreten, wenn sich der König außerhalb des engeren Reichsgebietes [<<83] aufhielt. Die Zahl der Urteiler betrug üblicherweise mindestens sieben. Sie waren nicht fest bestellt, sondern setzten sich aus den bei Hofe anwesenden Adligen zusammen. Abweichend von weit verbreiteten Rechtsgewohnheiten kannte das Reichshofgericht Mehrheitsentscheidungen. Das Konsensprinzip war damit erheblich abgeschwächt. Recht und Urteil konnte es daher auch geben, wenn die Urteiler nicht einstimmig ihr Ergebnis gefunden hatten. Gerade hier in unmittelbarer Nähe zum Herrscher verlor das dinggenossenschaftliche Prinzip zuerst seine Schärfe. Das darf man getrost zuspitzen: Wenn die Möglichkeit besteht, Recht durchzusetzen, ist es nicht länger erforderlich, auf Einstimmigkeit zu pochen. In diesem Punkt war das Reichshofgericht dem Anspruch nach wegweisend modern, wenn auch in der gerichtlichen Praxis und der Quellenüberlieferung ganz andere Aspekte im Vordergrund standen, insbesondere die Bestätigung von Urkunden.

In den Jahren ab 1400 kam es zu einer nochmaligen Verfestigung des Gerichts. Das Amt des Hofgerichtsschreibers wurde nun aufgewertet und den Kanzleimitgliedern gleichgestellt. Zukünftig gab es nun zwei bürgerliche, teilweise geistliche Anwälte (Prokuratoren), keine studierten Juristen, aber doch gesondert bestellte Parteivertreter. Die Parteien erhielten einen Fürsprecher, teilweise auch einen sog. Warner, der sie vor den Tücken der mittelalterlichen Prozessgefahr schützen sollte (vgl. Kap. 2.8.4). Der Hofgerichtsschreiber Johannes Kirchen verschriftlichte zudem 1406/09 die üblichen Verfahrensweisen des Gerichts. Eine förmlich erlassene Prozessordnung gab es aber bis zuletzt nicht. In welchem Umfang das Reichshofgericht im 15. Jahrhundert versuchte, eine gewisse Unabhängigkeit vom Herrscher zu erlangen, wird unterschiedlich bewertet. Falls es hier einen Aufschwung gab, währte er nur wenige Jahrzehnte. Spätestens Friedrich III. (1440–1493) verlor das Interesse am Reichshofgericht und stützte die königliche Gerichtsgewalt in stärkerem Umfang auf das seit dem frühen 15. Jahrhundert bestehende Kammergericht (vgl. Kap. 2.10). Noch vor seiner Kaiserkrönung (1452) hob er das Reichshofgericht 1451 auf.

Freilich ist ein einschränkender Hinweis erforderlich. Mit dem Blick auf Hofgericht und Kammergericht erfasst man nämlich nur einen Teil und vielleicht nicht einmal den Kern der königlichen Gerichtsbarkeit. Neben der förmlichen Arbeit von Reichshofgericht und Kammergericht spielte nämlich delegierte königliche Gerichtsbarkeit im Spätmittelalter eine besondere Rolle. Viele rechtliche Anliegen und Streitigkeiten übertrug der Herrscher auf bestimmte Amts- und Würdenträger. Sie sollten versuchen, rechtliche Auseinandersetzungen beizulegen und zwischen den Parteien gütliche Ausgleiche zu erzielen. Notfalls konnten sie aber auch Entscheidungen fällen. Hier lag teilweise sogar der Schwerpunkt der Königsgerichtbarkeit. Ein ähnliches Zusammenspiel von Reichsjustiz und territorialen Obrigkeiten zeigte sich deutlich später [<<84] ebenfalls am Reichshofrat (vgl. Kap. 3.2.2). Man sollte sich deshalb davor hüten, die praktische Bedeutung der beiden mittelalterlichen Reichsgerichte zu hoch zu hängen.

Gerichtsbriefe und Verfahrensarten

Zwischen 1276 und 1451 fertigte das Reichshofgericht etwa 18.000 Gerichtsbriefe aus. Die frühen Quellen sind oft in regionalen Editionen erfasst und leicht zu benutzen. Aber nach 1400 stieg die Textproduktion derart stark an, dass die letzten Jahrzehnte des Gerichts besonders schwer zu überblicken sind. Mehrere Verfahrensarten lassen sich voneinander unterscheiden: (1) Zunächst kannte das Reichshofgericht kontradiktorische gerichtliche Streitigkeiten im engeren Sinne. Hier standen sich Kläger und Beklagte in ihrer Auseinandersetzung gegenüber. In diesen Fällen sind vielfach mündliche Verhandlungen vor dem Königs- bzw. Hofgericht bezeugt. (2) Teilweise allerdings ergingen bereits königliche Befehle und Anordnungen, nachdem nur eine Seite das Reichshofgericht angerufen hatte. Ein nachfolgender Rechtsstreit ist dann nicht zwingend bezeugt. Entweder hatten schon die ersten gerichtlichen Verfügungen Erfolg, oder der förmliche Rechtsstreit kam aus anderen Gründen nicht zustande, etwa weil die Parteien sich doch noch gütlich einigten. Das gelehrte Recht unterschied Zitationsverfahren (Ladungsverfahren) von Mandatsprozessen des einstweiligen Rechtsschutzes. Die beiden Prozessarten am Reichshofgericht sind aber keine bloßen Übernahmen des gelehrten Rechts, sondern besitzen durchaus eigenes Gepräge. Insbesondere besaß die Mündlichkeit im ungelehrten Recht weitaus größere Bedeutung als im römisch-kanonischen Prozess. (3) Neben diesen gerichtlichen Auseinandersetzungen im engeren Sinne kannte das Reichshofgericht als dritte Prozessart sog. quasinotarielle Verfahren. Hier ging es darum, durch die Beglaubigung von Urkunden Rechtssicherheit oder künftige Beweisvorteile zu erzielen. Offenbar hatte eine solche Beglaubigung für die Beteiligten hohen Wert. Mit höchstmöglicher Autorität konnten sie ihre Rechtspositionen daraufhin anderswo behaupten und verteidigen. Vielleicht lässt sich hier sogar ein deutschrechtlicher Ansatzpunkt zu einer ganz eigenständigen Herausbildung von Rechtsmitteln erkennen. Soweit das Reichshofgericht nämlich nicht nur Urkunden, sondern auch Entscheidungen anderer Gerichtsherren anerkannte, nahm die Beglaubigung nach und nach den Charakter einer Überprüfung an. Auf diese Weise läge in der Bestätigung und nicht in der Anfechtung gerichtlicher Urteile ein einheimischer Kern für die Über- und Unterordnung von Gerichten und damit für die Bildung von Instanzenzügen. (4) Das vierte Verfahren am Reichshofgericht war das Ersatzverfahren von Reichsacht und Anleite (vgl. Kap. 2.8.8). Falls der Beklagte die Ladung missachtete oder sich auf den Rechtsstreit nicht einließ, konnte der Kläger Druck auf ihn ausüben. Eigene Vollstreckungsmöglichkeiten besaß das Gericht demgegenüber nicht. [<<85]

Neben dem Hofrichter übte der König bzw. Kaiser das richterliche Amt auch weiterhin persönlich aus. Das galt nicht nur für diejenigen Bereiche, die der Mainzer Reichslandfrieden von 1235 ihm ausdrücklich vorbehalten hatte. Vielmehr gab es Reichsstände, die zwar den königlichen Richter, nicht aber das Reichshofgericht anerkannten. So erhielt die Stadt Besançon 1434 und 1442 Privilegien, die sie vom Hofgericht befreiten und dafür unmittelbar dem König unterstellten.

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